Der Blog "Ultrapeinlich" dokumentiert diskriminierende und menschenverachtende Aktionen von Fußballfans. Hier im Bild Stuttgarter Fans, die gestohlene BVB-Fanartikel mittels Gummipuppe präsentieren. Leider auch ein "Klassiker".
Screenshot Tumblr Ultrapeinlich

Nazis? Nicht das größte Problem in den Fußballstadien

Luzerner Fans trieben einen als "Juden" verkleideten Mann vor sich her, Dynamo Dresden Fans hissten beim Spiel eine Vergewaltigungsdrohung gegen Femen-Aktivistinnen... seit die Winterspielpause vorbei ist, häufen sich die berichtenswerten Ereignisse für "Fussball-gegen-Nazis.de". Aber sind hier die Nazis überhaupt Kern des Problems? Nein! 

Von Lina Morgenstern

Der Blog "Ultrapeinlich" veröffentlichte am Montag Aufkleber von Rot-Weiß Erfurt Fans, die sich gegen die Ultragruppe Horda Azzuro vom FC Carl Zeiss Jena richten. "Horda Bastarde. Gay Heinz Jena. Tod und Hass dem FCC" steht auf einem. User kommentierten, dass RWE Fans Jena auch gern als "Judenverein" bezeichnen oder dass "jeder Affenmike zu diesem Drecksverein" fahren kann, gemeint ist RWE. Eine ziemlich alltägliche Auseinandersetzung im Fußballkontext, in der Bilder und Worte genutzt werden, die möglichst beleidigend sein sollen. Am gleichen Tag wie "Ultrapeinlich" veröffentlichte das Nordtribüne Onlinemagazin vom SC Freiburg eine Erklärung, die sich gegen die kürzlich vorgefallene gezielte Verhöhnung des Spielers Karim Guédé durch viele Fans richtete. Alles das, obwohl doch der Fußball auch so völkerverständigend, integrativ, toleranzfördernd sein kann. Oder nicht? 

"Es wäre bei dieser Betonung der integrativen Wirkung des Fußballs allerdings töricht zu glauben, er sei damit in Geschichte und Gegenwart immun gegen gesellschaftliche Probleme, gegen Ausgrenzung und Formen von Diskriminierung wie Rassismus, Antisemitismus und Homophobie", erklärte der ehemalige DFB Präsident Theo Zwanziger 2010. Er spricht hier an, was engagierte Fans wie vom Bündnis Aktiver Fußballfans BAFF oder auch Fanforscher*innen seit Jahren sagen: im Fußball herrschen menschenverachtende Einstellungen. Fußball hat auch und darüber hinaus Schwierigkeiten mit Neonazis. Neonazis stellen in den Fußballstadien ein Problem dar, es gab Zeiten in denen sie sehr offen aufgetreten sind und rekrutiert haben. Sie bilden in den meisten Fällen aber nur einen geringen Teil der Fangemeinde. Nährboden, Unterstützung und Resonanzraum finden sie in den weit verbreiteten rassistischen und anderen diskriminierenden Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung, sowohl außerhalb als auch innerhalb vom Stadion.

Rassismus ist Teil von "Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit"

Ende der 1980er Jahre kamen immer mehr ausländische und teils dunkelhäutige Spieler in die Teams der Profivereine. Rassistische Sprechchöre der Fans und das Werfen von Bananen gehörten für sie zur Tagesordnung. Mit der deutschen Wiedervereinigung schlugen sich der gesellschaftliche Rechtsruck und Rassismus noch stärker in den Fußballstadien nieder. Anfang der 1990er Jahre wandte sich Souleyman Sané als einer der ersten Spieler gegen den Rassismus auf den Rängen. In der Bild-Zeitung veröffentlichte er mit anderen schwarzen Spielern einen offenen Brief, in dem sie ihre Situation schilderten.

Doch das "U-Bahn-Lied", Sprüche wie "Schwule Sau", "Zick, zick, Zigeunerpack", "Der spielt wie ein Mädchen!" sind weitere bekannte Ausdrücke von Hass im Fußball. Sie alle gehören zum gesellschaftlichen Wissensschatz und sind Ausdruck eines Syndroms von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF). Der Begriff wurde von einer Forschungsgruppe um den Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer geprägt und bildet einen Oberbegriff für Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus und Antiziganismus. Von 2001 bis 2012 hat die Forschungsgruppe jedes Jahr die Ausprägungen in der deutschen Bevölkerung gemessen und verglichen.

Fußball als Brennglas der Gesellschaft

Im Jahr 2007 beschäftigen sich einige Forscher*innen dabei auch mit der Ausprägung von GMF im Fußball. Der bekannte Fanforscher Gerd Dembowski prägte damals das Verständnis. Er nannte den Fußball ein Brennglas der Gesellschaft. Lange wurde gesagt, Fußball sei ein Spiegel der Gesellschaft und deshalb wäre es ganz klar, dass beispielsweise rassistische Fanäußerungen passieren. Wäre Fußball ein Spiegel würde er die Gesellschaft sehr fehlerhaft abbilden: Trotz Veränderungen der Fanszene sind vor allem Frauen und Migrant*innen in den Fanszenen immer noch unterrepräsentiert.

Die Fangemeinde stellt so ein gesellschaftliches Zerrbild dar, auch wenn sich Angehörige verschiedener sozialer Schichten in den Stadien zusammenfinden. Dembowski identifiziert das Geschehen im Fußball so als "Brennglas, in dem eine aktive Minderheit Fußball als Ventil für diskriminierende Strömungen nutzt", weil sie sich alltäglich tolerierten und weit verbreiteten Formen von Rassismus, Antisemitismus oder anderen Formen der Menschenfeindlichkeit bedienen – und dabei entweder nicht aufgehalten oder noch verstärkt werden.

Warum gerade Fußball?

Fußball ist in Deutschland die beliebteste Sportart, besonders der Männerfußball erfreut sich großer Bekanntheit. Jedes Wochenende pilgern viele Tausende Menschen als Fans in die Stadien oder kicken vom Amateur- bis zum Profibereich selbst. Eine fußballspezifische Pöbel- und Beleidigungskultur gehört für einen Großteil zum Geschehen auf dem Rasen dazu. Für viele Fans ist es befreiend im Stadion einfach mal alle Hemmungen fallen zu lassen. Das Stadiongeschehen und auch das Geschehen auf dem Platz sind einfach kein Alltag, es gelten andere Regeln und Normen als im Büro oder der Schule, besonders bei großen und wichtigen Spielen entsteht in den Fangemeinden eine Ekstase, die manche für eine Art Religion halten, die jedenfalls aber rituell abläuft. Das Spielen der Stadionhymne, das Einlaufen der Mannschaft, 90 Minuten mitfiebern, die Außenwelt vergessen, den Emotionen freien Lauf lassen. Und einfach mal hemmungslos pöbeln dürfen – weil das im Fußball eben "schon immer so war".

Freund und Feind sind klar erkennbar

Auf dem Fußballfeld stehen sich zwei konkurrierende Teams gegenüber und mit ihnen stehen deren Anhänger*innen in einem Wettkampf. Wer kann lauter, provokanter, derber oder kreativer anfeuern? Beide Gruppen treten im Fußballstadion in eine rituelle Schlacht, in der sich der Wettkampf auf dem Spielfeld als Wettkampf der Anhängerschaften wiederspiegelt, es können sich regelrechte Fanfeindschaften entwickeln. "Daraus folgt auch, dass es in kaum einer anderen Situation gesellschaftlich so akzeptiert ist, ja sogar erwartet wird, dass sich das Individuum unfair, unreflektiert und subjektiv verhält, wie im Fußballfantum", sagt Jonas Gabler, ebenfalls Fanforscher. Dem binären Schema zwischen den gegnerischen Fankurven liegt so eine diskriminierende Haltung zu Grunde, es geht darum den anderen Verein und seine Anhängerschaft abzuwerten, die auch viel mit dem Ausleben Männlichkeit zu tun haben, also gemeinsam zu kämpfen, heroisch zu sein usw. (Um den Rahmen dieses Textes nicht zu sprengen gibt es hier einen sehr guten Vortrag von Almut Sülzle, die das Wirken von Männlichkeit im Fußball umfassend erklärt.)

Im professionellen Männerfußball hat sich in Folge des Einzugs der Ultrakultur in die deutschen Stadien die Pöbel- und Feindschaftskultur weg von der Mannschaft auf die Anhängerschaft verschoben. Natürlich kann man noch wunderbar auf den vergeigten Freistoß schimpfen, aber in Gesängen beziehen sich die Ultras besonders auf die gegnerische Anhängerschaft und versuchen sie zu diskreditieren. Um die eigene Mannschaft anzufeuern bedienen sich Fans dabei immer wieder Beschimpfungen, die im Stadion legitimiert scheinen. Zu oft sind nutzen sie dabei auch menschenfeindliche Äußerungen. Im Dezember 2005 beschimpften Fans der SG Dynamo Dresden die gegnerischen Fans des FC Energie Cottbus als "Zigeuner" und wurden daraufhin selbst als "Juden" geschmäht. Zwar sind nicht alle Cottbus-Fans Sinti und Roma, ebenso wenig wie alle Dresdner Fans jüdischen Glaubens sind. Aber um sich gegenseitig tief zu treffen, bedienen sie sich aus der Mottenkiste der Menschenverachtung.

Das bietet Anschlussmöglichkeiten für Neonazis. Immer wieder versuchten sie in den Stadien (jugendlichen) Nachwuchs zu rekrutieren. Es manifestiert aber auch eine Ungleichwertigkeit zwischen Menschen, indem Fans die im Stadion angewandten Beschimpfungen ebenso außerhalb des Fußballs nutzen. Unterdessen halten der gelebte Sexismus, die breite Homophobie und der laute Rassismus Menschen vom Sportgenuss ab, die keine Lust haben, in einer auch gegen sie feindlichen Stimmung Fußballspiele zu besuchen.

Der FC Barcelona Profi Dani Alves wurde beim Ausführen einer Ecke mit einer Banane beworfen - um ihn rassistisch zu demütigen. Er aß die Banane auf und im Nachgang posteten weltweit Tausende Menschen eigene Selfies, wie sie Bananen essen, um sich mit Alves zu solidarisieren. (Quelle: Screenshot Twitter)

Und jetzt?

Das ist jetzt alles nicht so rosig. Aber seit mehr als 25 Jahren sind Fußballfans gegen Diskriminierung in den Kurven und auf dem Platz aktiv. Über die Jahre holten sie auch die Fußballverbände und Vereine mit ins Boot, um sich gegen Menschenverachtung stark zu machen. Erste Aktionen richteten sich gegen den Rassismus, der vielen Spielern in den Männer Profi-Ligen entgegenschlug. Bundesweite Kampagnen, Fankurveninterne Diskussionen, Bündnisse von Fangruppen über die Vereinsgrenzen hinweg, Spieltage im Zeichen der Erinnerung an den Holocaust, Selfies gegen den rassistischen Bananenwurf auf Dani Alves, Preise für Engagement gegen Rechts und nicht zuletzt die Installation der sozialpädagogisch agierenden Fanprojekte sind nur einige Beispiele und prägen seit Jahren die Arbeit für ein Miteinander und gegen Ausgrenzung im Fußball. All das hat Erfolg, der FC St. Pauli ist nicht mehr der einzige Verein mit Null Toleranz für rechte Sprüche, beim FC Bayern München gibt es eine wichtige schwul-lesbische Fangruppe, bei Werder Bremen denkt kaum noch jemand, dass "schwul" eine adäquate Beleidigung ist und sogar der Fußballclub mit dem wohl miesesten Ruf Deutschlands, die SG Dynamo Dresden, ist seit Jahren antirassistisch aktiv, lud wiederholt Flüchtlinge ins Stadion ein und unterstützt Initiativen gegen Rechts.

Trotzdem ist es noch ein weiter Weg, wie die Geschehnisse der vergangenen Wochen und Monate zeigen. Rechte Hooligans erobern sich in vielen Vereinen ihren Platz in den Kurven zurück, gehen gemeinsam als "HoGeSa" auf die Straße, bilden eine Schutzstaffel für Pegida oder vertreiben antirassistische Ultras aus dem Stadion. Beim Spiel FC Erzgebirge Aue gegen RB Leipzig zogen die Aue-Fans einen missglückten Nazigleich mit dem RB-Geschäftsführer und Adolf Hitler, gleichzeitig skandierten RB Fans antisemitisch. Zwischen der Stimmung in den Stadien der 1990er und heute liegen zwar Welten. Alles, was schon geschafft wurde, sollte aber bewahrt werden, um darauf aufzubauen und einen noch besseren Fußball zu schaffen – den wahren "modernen Fußball".

 

In der Linksammlung gibt es einige erfolgreiche Projekte gegen Menschenverachtung im Fußball, die schon auf dieser Seite dokumentiert wurden. To be continued:

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