Zahlen rechtsextrem oder rassistisch motivierter Gewalt zeigen eine Problemdimension. Bedrohte Bürgermeister oder Journalist_innen füllen sie mit Leben.
Lobbi e.V.

Die Bürgermeister, die Bedrohung, die Gewalt und die Zahlen

Rechtsextreme Gewalt ist gerade zu Recht oben auf der medialen Agenda: Seit Pegida-Anhänger_innen auf den Straßen herumstehen und die AfD in Parlamenten herumsitzt, steigt die Zahl rassistischer Angriffe auf Flüchtlinge und Flüchtlingsheime von einem hohen Niveau noch höher. Neonazis fühlen sich motiviert, ihren Bedrohungsgelüsten freien Lauf zu lassen, aktuelles Ziel: Journalisten und Bürgermeister. Nun gibt es neue Zahlen von Opferberatungsstellen und Innenministerien zum Ausmaß rechtsextremer und rassistischer Gewalt, neue Vorfälle von Bedrohung gegen Journalisten, neue Wünsche für eine bessere Erfassung der Hasskriminalität - und neue Einblicke, wie es den bedrohten Demokraten geht: Ein Überblick zu den neuen Zahlen.

Von Simone Rafael

Zahlen dieser Woche - Rechtsmotivierte Gewalttaten 2014:

Mecklenburg-Vorpommern - Statistik von Lobbi MV, Opferberatungsstelle:

  • 81 Angriffe mit 119 Opfern (etwa wie im Vorjahr)
  • statistisch gesehen an jedem fünften Tag ein rechter Angriff
  • 84 Prozent der Angriffe sind versuchte oder vollendete Körperverletzungen (2013: 65 %)
  • 51,9 Prozent der Angriffe war rassistisch motiviert (2013: 46,9 Prozent) - klarer Zusammenhang mit Hetze gegen Flüchtlinge
  • In 23 Fällen wurden Menschen angegriffen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren
  • Mehr Details: www.lobbi-mv.de

Berlin - Statistik von Reach Out, Opferberatungsstelle

  • 179 Angriffe mit 266 Opfern (leichter Rückgang zum Vorjahr, 2013: 185)
  • Rassismus ist das häufigste Tatmotiv (in 100 Fällen)
  • Die Attacken auf politische Gegner_innen nahmen zu (2014: 31; 2013: 27)
  • Antisemitisch motivierte Taten steigen von 8 im Jahr 2013 auf 18 im Jahr 2014
  • Mehr unter www.reachoutberlin.de mit Chronik
  • Extra veröffentlicht wurde in Berlin eine Übersicht antisemitischer Vorfälle 2014, von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V
  • 262 antisemitische Vorfälle 2014 in Berlin - davon sind rund 200 strafrechtlich relevant, aber rund 70 Fälle tauchen bisher in keiner Statistik auf (z.B. Pöbeleien, Beleidigungen), vergiften aber das Klima ebenfalls
  • mehr auf www.mbr-berlin.de

Sachsen - Statistik der Opferberatung der RAA Sachsen

  • 257 rechtsmotivierte oder rassistische Angriffe (2013: 223)
  • Rassismus als Tatmotiv nimmt stark zugenommen, besonders in Dresden: 36 rassistisch motivierte Gewalttaten - doppelt so viele wie 2013. Und 15 der Angriffe fanden in den letzten 3 Monaten des Jahres 2014 statt - zeitgleich zum Aufkommen von "Pegida"
  • 143 Körperverletzungen
  • "Die Zahlen zeigen leider, wie gefährlich die derzeitige Stimmung in Sachsen gegen Asylsuchende ist. Die Hemmschwelle, Gewalt auszuüben, sinkt durch Hetze." 
  • mehr unter: www.raa-sachsen.de
  • Das sächsische Innenministerium spricht ebenfalls von einem Anstieg rassistischer Straftaten.
  • 256 Fälle in 2014 - ein Anstieg von 68 (!) Prozent; vor allem Propaganda-Delikte zur Asylpolitik
  • Insgesamt 3.125 Straftaten der "politisch motivierten Gewalt" (16 Prozent mehr als 2013), davon 1.740 rechtsextrem motivierte Straftaten. 
  • Das Innenministerium zählt 86 rechtsextrem motivierte Gewalttaten, was auch schon einen Anstieg von 16 Prozent zu 2013 bedeutet, aber erschreckend viel weniger ist als die Zahlen der Opferberatung - was Fragen nach der Einordnung von Taten aufwirft

Sachsen-Anhalt - Statistik von der Mobilen Opferberatung

  • 103 Angriffe mit 140 Opfern (leichter Rückgang in absoluten Zahlen, 2013: 141)
  • statistisch gesehen alle 3 Tage eine rechtsextrem motivierte Gewalttat in Sachsen-Anhalt
  • 60 Prozent der Angriffe sind rassistisch motiviert (58) - im Fokus stehen besonders Flüchtlinge und Roma (besonders in Halle-Silberhöhe)
  • in 23 Fällen wurden politisch Aktive angegriffen (2013: 18)
  • in 16 Fällen nichtrechte Jugendliche (2013: 19)
  • mehr auf www.mobile-opferberatung.de, auch die Ergebnisse aufbereitet als pdf
  • Das Innenministerium spricht in seiner ebenfalls diese Woche veröffentlichten Statistik von 1.730 Fällen "politisch motivierten" Straftaten, davon seien drei Viertel rechtsmotiviert, also 1.261 (mdr)
  • Bei den Gewalttaten kommt das Innenministerium auf die deutlich geringere Zahl von 47 rechtsmotivierten Gewalttaten (Pressemitteilung Innenministerium)- eine Frage von Einordnung und nicht-angezeigten Taten.

Der klare Anstieg von rassistisch motivierten Straf- und Gewalttaten, besonders gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte, zieht sich durch alle Bundesländer und beweist erschreckend, dass die Menschenfeindlichkeiten, die "Pegida" auf die Straße und die AfD in die Parlamente trägt, Menschen motiviert, sie auch mit Gewalt auszuagieren.

Bereits bekannt durch eine kleine Anfrage der "Linken" im Bundestag:
Der Anstieg der Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte (pdf)

  • 2012 -> 24
  • 2013 -> 58
  • 2014 -> 150

Was nicht erfasst wird:

  • Islamfeindliche Straf- und Gewalttaten werden bisher gar nicht gesondert erfasst - entsprechend wurde 2014 vom Generalbundesanwalt auch kein einziges gerichtliches Verfahren wegen "Islamfeindlichkeit" eingeleitet (ksta)
  • Bisher gibt es nur "Hasskriminalität / Religion" - und darunter kommen Protestes von Kurden gegen den Terror des "Islamischen Staats" (IS) ebenso wie rassistische oder islamfeindlich motivierte Anschläge auf Moscheen
  • Anschläge auf Moscheen oder sonstige islamische Einrichtungen sind bisher Sachbeschädigungen, Hausfriedensbruch oder Beleidigung, wenn nicht die "fremdenfeindliche Hasskriminalität" von der Polizei festgestellt werde. 2014 war das bei 45 Attacken bundesweit der Fall.

Tröglitz ist überall: Chor der bedrohten Bürgermeister

oder: Die Erfahrung, für Engagement von Neonazis bedroht zu werden, teilen viele Engagierte in der Bundesrepublik mit dem zurückgetretenen Bürgermeister Markus Nierth aus Tröglitz (netz-gegen-nazis.de berichtete). In der Nachberichterstattung kommen einige von ihnen zu Wort und beschreiben einmal, was das mit ihnen gemacht hat - und wie sie damit umgegangen sind. Das ist sehr gut - denn Opfer rechtsextremer Bedrohung werden zumeist sehr viel weniger gehört als die Täter.

Was genau haben die Täter gegen Sie persönlich unternommen?
Eines Nachts, gegen Mitternacht, klingelt es an der Haustür. Als ich aus dem Fenster schaue, treten da drei vermummte junge Leute das Gartentor ein und bedrohen mich.
Was haben die gerufen?
„Volksverräter, wir kriegen dich!“ Im Internet war dann zu lesen: „Für dich ist schon eine Kugel gegossen.“ Ich sollte erschossen werden, mein Haus sollte angezündet werden.
Hatten Sie Angst um die Familie?
In der Zeit lebte ich allein. Hab mir aber vorgestellt, was wäre, wenn meine Schwester mit ihren Kindern kommt. Das wäre nicht so toll.
Haben Sie überlegt, aufzugeben?
Nein.
Warum ? Pflichtbewusstsein?
Ich bin überzeugter Demokrat, muss also damit umgehen können. Ich bin auch ein pflichtbewusster Wahlbeamter…
…aber Sie haben den Nachteil, dass Sie parteilos sind.
Aber ich habe einen ganz starken Rückhalt im Ort.
Heinrich Jüttner, Bürgermeister von Schöneiche, in der Berliner Zeitung

 

"Ich hab vor zwei, drei Jahren mal einen Brief bekommen - anonym, da steht nur ein Satz drin: 'Dein Leben interessiert uns brennend.' Und ein Streichholz."
Es blieb nicht bei Drohungen per Telefon, Brief und E-Mail. Es wurden Flugblätter mit seinem Foto verteilt - der Text: "Das Asylantenhotel und seine Handlanger." Vor drei Jahren dann ein Anschlag auf sein Haus. "Es war ein Anschlag hier auf dieses Wohnzimmerfenster, was Sie hier sehen. Und den Briefkasten. Der Briefkasten wurde gesprengt, ins Wohnzimmerfenster wurde ein großer Ziegelstein geworfen. Und das war so getimed, dass nach dem Wurf in die Fensterscheibe sollte ich nachschauen kommen durch die Tür, und dann wäre der Briefkasten so explodiert, dass er mich noch getroffen hätte." 
Hans Erxleben hat Glück im Unglück. Als er die Haustür öffnet, ist der Briefkasten bereits explodiert, niemand wird verletzt. Der 68-Jährige erstattet immer wieder Anzeige, der Staatsschutz ermittelt, doch bislang konnte keine der Taten aufgeklärt werden. Vor zwei Monaten dann geht sein Auto nachts in Flammen auf. Ein Brandanschlag. Eine Sonderkommission wird gebildet, Hans Erxleben steht seitdem unter Polizeischutz. Er ist vorsichtig geworden, blickt sich im Dunkeln lieber zweimal um. Einschüchtern lässt er sich allerdings nicht. Ganz im Gegenteil. "Gauck hat mal diesen Satz benutzt: 'Euer Hass ist unser Ansporn.' Den Satz finde ich gut. Denn der trifft tatsächlich auch auf mich zu." 
Hans Erxleben, Kommunalpolitiker der LINKEN in Berlin-Treptow, im Deutschlandfunk

 

Schließlich haben Neonazis am 6. November 2009 wegen der an dem Tag erfolgten Schützenhaus-Versiegelung das Haus des Bürgermeisters von Pößneck belagert. 
"Ich war damals schockiert", räumt er ein. "Ich selbst war an dem Abend gar nicht im Haus, nur meine Kinder. So etwas muss man nicht nochmal haben." 
Mehrere Wochen stand damals Polizei rund um die Uhr vor seinem Haus. Nach dem ersten, spontanen Neonazi-Aufmarsch habe er eventuelle weitere geplante Demonstrationen vor seinem Grundstück gerichtlich ver­bieten lassen wollen. Das habe das Amtsgericht Pößneck mit der Begründung abgelehnt: "Ein Politiker müsse so etwas aus­halten." 
Ein anderes Mal sei ihm anonym mit dem Tod gedroht worden, so dass er Anzeige gegen Unbekannt erstattet habe. Doch das Verfahren sei irgendwann ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Hielten sich Bedrohungen über seine bislang rund neun Jahre als Stadtoberhaupt dennoch "unterm Strich in Grenzen", komme es fast schon regelmäßig zu anonymen Beschimpfungen im Internet. "Manchmal schreibe ich die Leute an und frage sie, welches Problem sie haben. Aber es meldet sich so gut wie nie jemand zurück." 
Michael Modde, Bürgermeister von Pößneck (Freie Wähler), in der Thüringer Allgemeinen.

Und die bedrohten Journalisten oder Pegida wirkt 

Die Verunglimpfung von Medien als "Lügenpresse", "Systemmedien" oder "linksversifften Medien" ist ein fester Topos der rechtsextremen und rechtspopulistischen Szene, schon lange vor "Pegida". Ebenso gab es auch in der Vergangenheit bereits Angriffe auf kritisch berichtende Journalisten durch Neonazis - körperlicher wie rufschädigender Natur. Aber: Seit Tausende auf den Straßen über die "Lügenpresse" herumbrüllen, scheinen die gewaltbereiten Rechtsextremen zu glauben, Journalisten seine vogelfrei, so auffällig häufen sich die Vorfälle, die auch an Brisanz gewinnen: In Leipzig veröffentlichen Neonazis diese Woche einen gefälschten vorgeblich polizeilichen Fahndungsaufruf, der einen Journalisten mit Schwerpunkt Rechtsextremismus als pädophil verunglimpft - verbunden mit einem Aufruf zur Selbstjustiz (l-izn-tv). In Dortmund veröffentlichen Anfang Februar Neonazis fingierte Todesanzeigen mit den Namen ihnen unliebsamer Journalisten. Es bleibt nicht bei den Absichtserklärungen: Am Abend es 09.03.2015 wird in Dortmund der Fotojournalist Marcus Arndt von drei Rechtsextremen nach einer Neonazi-Demonstration in Derne verfolgt und schließlich mit Steinen angegriffen. Dabei riefen sie: "Du linke Sau, wir töten Dich". Völlig absurd: Der Angegriffene hatte die Todesdrohungen gegen seine Person offenbar ernster genommen als die Polizei und konnte sich mit einer Schreckschusspistole gegen die Verfolger wehren. Nun wird, bevor die Polizei auch nur eine Spur von einem der Angreifer hat, erst mal gegen das Opfer ermittelt. Der Vorwurf: Es hätte die Schreckschusspistole bei der Berichterstattung über die Demonstration nicht bei sich tragen dürfen (ruhrnachrichten.de).

Der Staat agiert mehr als hilflos

Dies ist ein Handeln des Staates, das aktuell in einer Reihe steht etwa mit der Strafverfolgung gegen die Linke-Politikerin Julian Nagel und die Grünen-Politikerin Monika Lazar, weil diese zu Blockaden gegen die rassistischen "Legida"-Demonstrationen aufgerufen hatten. Welche Botschaft soll in den Köpfen der Bürger_innen entstehen, wenn Handeln gegen Rechtsextremismus und Rassismus bestraft wird, während sich gleichzeitig CDU- und AfD-Politiker_innen mit den rechtspopulistischen Wutbürger_innen von "Pegida" zum "Dialog" treffen? Welche Art von Demokratie, welche Art von Unterstützung demokratischer Bestrebungen schwebt den Entscheidungsträger_innen vor? Nach dem Rücktritt von Bürgermeistern Nierth aus Tröglitz waren die Medien voll mit "Beileidsbekundungen" von politischen Größen - allen voran der zuständige Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht. In der Presse sprach er von notweniger Unterstützung. Nierth als Betroffenen anzurufen ist ihm dagegen offenkundig nicht in den Sinn gekommen. Im Interview mit der Mitteldeutschen Zeitung sagt der 46-Jährige: "Ich hätte mich aber gefreut, wenn ich eine persönliche Rückmeldung vom Innenminister Holger Stahlknecht und Landrat Götz Ulrich bekommen hätte. Aber vielleicht kommt das noch."

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| Chronik rechtsextremer und rassistischer Gewalttaten 2015

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