Es war das Ereignis zum Jahresauftakt: Kevin-Prince Boateng wird bei einem Testspiel seines Klubs AC Milan von Fans des Gastgebervereins Pro Patria rassistisch beleidigt, verlässt schließlich aus Protest den Platz und wird von seinen Teamkollegen begleitet. Die Aktion Boatengs, der gebürtiger Berliner ist, hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. Manche werfen aber vor allem Fragen auf.
Von André Anchuelo
Vergangenen Donnerstag, es läuft die 26. Minute im Testspiel des italienischen Viertligisten Pro Patria gegen den weltberühmten AC Milan. Nach wiederholten rassistischen Beleidigungen gegen ihn und weitere dunkelhäutige Spieler des Mailänder Klubs (M'Baye Niang, Urby Emanuelson sowie Sulley Muntari) hat der ghanaische Nationalspieler Kevin-Prince Boateng genug, drischt den Ball in Richtung der Rassisten auf die Tribüne und macht sich auf, das Spielfeld zu verlassen. Seine Teamkameraden folgen ihm.
Video des Vorfalls auf YouTube
Was folgte, war eine der größten Debatten über Rassismus im Fußball seit Langem. Fast ausschließlich zustimmende und unterstützende Äußerungen waren zu verzeichnen. Angefangen bei den eigenen Mitspielern, über Boatengs Bruder Jerome, der für den FC Bayern München kickt und deutscher Nationalspieler ist, bis hin zu vielen Fans, Medien und Spielern anderer Klubs. Die drei als Weltfußballer des Jahres nominierten Spieler Lionel Messi, Andres Iniesta (beide FC Barcelona) und Cristiano Ronaldo (Real Madrid) stärkten Boateng ebenfalls den Rücken. "Man muss etwas unternehmen gegen diese Leute, denen ein paar Schrauben locker sitzen, wenn sie solche Dinge rufen", sagte etwa Ronaldo. Starcoach Josep Guardiola forderte: "Man muss sich hinter die Leute stellen, die so beleidigt werden."
Fussball-gegen-Nazis.de-Partner Goal.com wählte Boateng aus Solidarität zum Spieler der Woche. Die italienische Sporttageszeitung "Gazzetta dello Sport" schrieb: "Wir sind alle Boateng! Wir sind schwarz wie er, schwarz im Gesicht, in der Seele, schwarz vor Wut wegen einer riesigen Beleidigung gegen die Vernunft und das zivile Verhalten". Aleksandar Ignjovski von Werder Bremen schrieb auf Twitter: "rassismus hat nichts im fussball verloren und sonst auch nicht." Dem wäre eigentlich kaum noch etwas hinzuzufügen.
Silvio Berlusconi, Eigner des AC Milan und als früherer italienischer Ministerpäsident nicht unbedingt für besonders fortschrittliche Ansichten bekannt, lobte seinen Spieler ebenfalls. "Ich habe mit Boateng gesprochen und ihm über sein Verhalten gesagt: 'Gute Arbeit!'" Berlusconi kündigte im Fall weiterer rassistischer Beleidigungen eine Wiederholung des Vorgehens an, egal in welchem Wettbewerb: "Wenn es solch einen Fall in der Zukunft geben wird, wird der AC Milan das Feld verlassen, auch in internationalen Spielen."
Blatter: "Vom Platz gehen ist keine Lösung"
Genau das war allerdings der Punkt, der FIFA-Präsident Joseph Blatter zu der Aussage veranlasst hatte: "Ich denke, dass ein Spieler nicht einfach vom Feld gehen kann, das ist nicht die Lösung", sagte der Weltverbands-Chef am Rande einer Veranstaltung in Dubai. Sonst könne man schließlich bei einer drohenden Niederlage einfach vom Platz. Das brachte Blatter viel Kritik ein. Der Eurosport-Redakteur Michael Wollny antwortete polemisch auf Blatters "Vom Platz gehen ist keine Lösung" mit dem Satz: "Phrasen aus dem Elfenbeinturm aber auch nicht".
Das ist in der Tat der springende Punkt. Wobei Wollny in einem Aspekt zu korrigieren ist: Blatter sitzt nicht im Elfenbeinturm. Als Präsident der milliardenschweren FIFA hat er nicht nur die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch große politische und fußballjuristische Macht. Diese Tatsache ist vielfach und zurecht kritisiert worden, aber genau an dieser Stelle hätte Blatter tatsächlich die Option, seine Macht für einen sinnvollen Zweck einzusetzen.
Schließlich ist es die FIFA, die sowohl über die Fußballregeln bestimmt (über das International Board) als auch über deren Auslegung (in Form von Anweisungen an Schiedsrichter und die Nationalverbände). Würden die Unparteiischen also bei rassistischen Beleidigungen konsequent das Spiel abbrechen, wären Aktionen wie die Boatengs schon bald nicht mehr notwendig. Hier sollte Herr Blatter also erst einmal vor der eigenen Haustür kehren.
"Wenn der Rassismus nicht aufhört, dann stoppt eben der Fußball"
Das sieht auch Tony Higgins von der der weltweiten Fußballer-Gewerkschaft Fifpro so und fordert Fußballverbände sowie Regierungen in betroffenen Ländern zu konkreten Gegenmaßnahmen auf. "Die Fußballwelt muss endlich realisieren, dass dieses Verhalten ein Ende haben muss. Rassismus darf weder in der Gesellschaft noch im Fußball toleriert werden", sagte Higgins im Interview mit der FAS. "Unsere Gewerkschaft unterstützt die Aktion von Kevin-Prince Boateng und seinen Mannschaftskameraden. Es ist schlimm, dass die Spieler den Platz aufgrund des Verhaltens einiger sogenannter Fans verlassen mussten. Aber jetzt musste einfach eine Linie gezogen werden", erklärte Higgins. "Die Spieler von Milan haben die eindeutige Botschaft ausgesendet: Wenn der Rassismus nicht aufhört, dann stoppt eben der Fußball."
Die nächsten, die vor der eigenen Haustür kehren sollten, sind allerdings viele Spieler und Trainer, die vorgeblich Boateng unterstützen. So sagte der oben zitierte Cristano Ronaldo auch: "Wir können nicht alle vom Feld gehen". Der frühere Barca-Trainer Pep Guardiola schränkte seine Unterstützung ebenfalls ein, indem er dafür plädierte, dass die Entscheidung zum Verlassen des Feldes vorab innerhalb jedes Teams geklärt werden müsse. Da fragt man sich schon: Warum müssen es immer die rassistisch angefeindeten Spieler selber sein, die handeln? Warum gehen bei rassistischen Vorfällen nicht die weißen Spieler damit voran, den Fußball zu stoppen?
Immerhin scheinen inzwischen die UEFA und der italienische Verband in den jüngsten Fällen, sicher auch unter dem Druck der internationalen Berichterstattung, härtere Strafen zu ergreifen als bislang üblich. Sechs Fans von Pro Patria sind wegen der rassistischen Vorfälle zu einem fünfjährigen Stadionverbot verurteilt worden, nachdem sie offenbar auf Videoaufnahmen identifiziert werden konnten.
Schon zwei Tage später neuer rassistischer Vorfall
Die UEFA hat unterdessen wegen der rassistisch motivierten Vorfälle beim Europa-League-Spiel zwischen Lazio Rom und Tottenham Hotspur Disziplinarverfahren gegen beide Klubs eingeleitet. Schon vor der Partie am 22. November waren zehn Tottenham-Fans bei einem Überfall auf ein Lokal in der Innenstadt von Rom verletzt worden (Fussball-gegen-Nazis-de berichtete, siehe hier und hier). Daran sollen neben Anhängern von Lazio auch Ultras von Lokalrivale AS Rom beteiligt gewesen sein. Lazio-Fans hatten "Juden Tottenham, Juden Tottenham" skandiert. Schon nach dem Hinspiel im September in London musste Lazio eine Strafe von 40.000 Euro zahlen. Dort hatten Fans aus Rom dunkelhäutige Spieler von Tottenham rassistisch beleidigt.
Besonders im Fokus der Debatte steht aktuell der italienische Fußball. Nur zwei Tage nach dem Vorfall bei Pro Patria wurde erneut ein Spieler rassistisch angegriffen, diesmal kam es beim Serie-A-Spiel zwischen Lazio Rom, dem Verein des deutschen Nationalspielers Miroslav Klose, und Cagliari Calcio am Samstagabend zu Schmähgesängen aus den Reihen der Lazio-Ultras gegen den dunkelhäutigen Cagliari-Spieler Victor Ibarbo. SpOn hat eine unvollständige Liste rassistischer Vorfälle im Zusammenhang mit Spielen italienischer Klubs erstellt. Die "11 Freunde" interviewte Carlo Balestri, Gründer von "Progetto Ultra", Organisator des Festivals "Mondiali antirazzisti" und intimer Kenner der italienischen Verhältnisse.
Auch in Deutschland Rassismus - auch gegen Boateng
Doch auch in Deutschland, darauf weist auch "11 Freunde" hin, kommt es immer wieder zu derartigen Vorfällen. So beleidigten Chemnitzer Fans den Dresdner Spieler Mickael Poté in der ersten Runde des DFB-Pokals am 20. August 2012 mit "Affenlauten" (Fussball-gegen-Nazis.de sammelt solche Vorfälle in seiner regelmäßig aktualisierten Chronik).
Kevin-Prince Boateng, 2011 (Quelle: Wikimedia)
Kevin-Prince Boateng selber wurde auch in Deutschland schon mehr als einmal zur Zielscheibe rassistischer Anfeindungen. Michael Horeni beschreibt in seinem vergangenes Jahr erschienenen Buch "Die Brüder Boateng" nicht nur, wie Kevin-Prince und sein Halbbruder Jerome schon in der Jugend von Hertha BSC bei Auswärtsspielen wegen ihrer Hautfarbe beleidigt wurden. Er erinnert auch an die Hysterie, nachdem Michael Ballack, der damalige Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, wegen eines Fouls von Kevin-Prince Boateng die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika verpasste. "Zurück in den Busch" oder "Schwarze Sau" hieß es da in vielen Userkommentaren im Internet – Rassismus pur.
Auch der frühere deutsche Nationalspieler Gerald Asamoah, der Fussball-gegen-Nazis.de unterstützt, verwies jetzt erneut auf seine Erfahrungen mit Rassismus im deutschen Fußball und zeigte sich enttäuscht von der teilweise mangelnden Unterstützung seiner Teamkameraden. So beschreibt er in seiner Autobiografie, die dieser Tage erscheint, die massiven rassistischen Beleidigungen nach einem Pokalspiel 2006, kurz nach der WM. Danach habe er vergeblich auf eine Reaktion von den Kollegen der deutschen Nationalmannschaft gewartet. Auch in Deutschland gibt es also immer noch genug zu tun, auch hier gilt: Vor der eigenen Haustür kehren!
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