"Darf man denn Israel gar nicht kritisieren?", fragen derzeit wieder überall Menschen, die in Diskussionen über den Nahostkonflikt mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert werden. Die gute Nachricht für sie ist: Doch, klar - aber man muss dabei sachlich und fair bleiben und sich benehmen, als handle es sich um einen beliebigen anderen Konflikt auf der Welt: Fakten und Quellen prüfen, Argumenten zuhören, Intentionen hinterfragen, versuchen, beide Seiten zu sehen, bereit sein, seine Meinung auch zu ändern, wenn sie sich als falsch herausstellt.
Von Simone Rafael
Während Ihnen Wissenschaftler*innen bestätigen würden, dass es kein Rezept für antisemitismusfreie Kritik an Israel gibt, versuchen wir es lieber umgekehrt: Die folgenden Aussagen sind auf alle Fälle antisemitisch.
Sie äußern sich antisemitisch, wenn Sie ...
- Israel das Existenzrecht absprechen
Die Nationalsozialisten haben Jüdinnen und Juden das Existenzrecht
auf der Welt abgesprochen.Das ist die moderne Variante davon.
- Handlungen Israels mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust gleichsetzen
Der Holocaust war ein industriell organisierter Massenmord an Jüdinnen
und Juden mit dem Ziel, sie auszurotten. Der Nahostkonflikt ist eine
kriegerische Auseinandersetzung um ein Territorium und hat nicht
das Ziel, das palästinensische Volk zu vernichten.
- Jüdinnen und Juden oder auch nur alle Israelis für die Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich machen
Denn das sind sie nicht. Es gibt logischerweise unter Israelis wie auch
unter Jüdinnen und Juden aller Länder so viele unterschiedliche
Meinungen zur Politik der Regierung wie hierzulande (und überall)
auch. Trotzdem muss man es wohl dazusagen, weil aus diesem
Grund immer wieder Jüdinnen und Juden in Europa "stellvertretend"
angegriffen werden, wenn etwas Menschen mit der israelischen
Politik nicht einverstanden sind.
- Israel als das personifizierte Böse in der Welt darstellen
Eines der klassischen antisemitschen Bilder, dass es schon seit
Jahrhunderten gibt, weil man Jüdinnen und Juden schon immer
für Dinge verantwortilch machte, die man nicht verstand und
die einem Angst machten (aus unerklärlichen Gründen sterbende
Kinder, Moderne, Kapitalismus etc.). Was zum nächsten Punkt führt:
- in der Israelkritik alte antisemitische Bilder und Ressentiments verwenden
Wenn es antisemitische Bilder sind, bleiben sie antisemitisch, wenn
man sie für Israel statt für die Juden verwendet (Christenmorde,
Ritualmordlegende etc.) Das gilt auch für:
- "Kindermörder Israel" skandieren
Sind Sie wirklich besorgt über die Lage gerade von Kindern und
Jugendlichen in Gaza? Warum verwenden Sie dann ein
antisemitisches Klischeebild (nämlich das der Ritualmordlegende),
um dem Ausdruck zu verleihen? Und können Sie wirklich
beurteilen, worauf die israelische Armee schießt oder ob
Bilder verletzter Kinder von der Hamas
propagandistisch eingesetzt werden oder die wahre Lage
wiederspiegeln? Es ist schwer, sich aus Medien- und
Internetberichten ein objektives Bild der Lage in Gaza zu verschaffen.
Dann sollte man aber auch nicht mit solch reißerischen Parolen
hausieren gehen.
- Israel fragen, ob es denn nichts aus der Geschichte gelernt hat, denn dann würde es ja keine Gewalt und kein Leid über andere Menschen bringen.
Israel hat aus der Geschichte gelernt. Nämlich, sich zu wehren, wenn
es seine Existenz angegriffen und bedroht sieht. Es verteidigt sich,
weil seine Einwohner angegriffen werden - wie andere Länder es
auch machen würden (-> doppelte Standards).
- Täter-Opfer-Umkehr betreiben
Drei israelische Jugendliche werden in Gaza verschleppt und getötet. Dies
war der Beginn der aktuellen Konflikteskalation. Eigentlich müsste man also
Solidaritätsdemonstrationen für sie erwarten - das Gegenteil ist, wie wir
wissen, der Fall. Das Bild, Terrorismus der Hamas als "Widerstand"
gegen Israel zu verniedlichen und den israelischen Staat als brutalen
Aggressor erscheinen zu lassen, ist in der deutschen Diskussion des
Nahostkonfliktes tief verwurzelt (-> das personifizierte Böse), gehört
aber hinterfragt und ist im Einzelfall zu betrachten.
Kritik äußern
Wer Israel (und alles andere) kritisieren möchte, sollte sich vor Augen halten: Es gibt einen Unterschied zwischen Kritik und Ressentiments.
"Kritik äußern" heißt: sich eine Meinung auf der Grundlage von Fakten zu bilden, Argumenten zuhören, die eigenen Meinung gegebenenfalls revidieren, wenn es eine neue Faktenlage gibt.
"Ressentiments äußern" heißt: sich eine Meinung aufgrund einer Weltsicht zu bilden, die gegen Fakten relativ resistent ist, zumal, wenn ich dazu tendiere, die Fakten im Zweifelsfalle als gefälscht oder manipuliert anzunehmen, wenn sie nicht meiner Weltsicht entsprechen. Nicht ohne Grund ist Antisemitismus die Grundlage fast aller Verschwörungstheorien. Da man gegen Ressentiments mit Argumenten nicht viel ausrichten kann, sind sie besonders haltbar. Viel "Kritik", die über Israel geäußert wird, fällt in diese Kategorie.
Warum kritisiere ich Israel (vielleicht stärker als andere Länder)?
Seit im Nationalsozialismus aus Deutschland der Massenmord an europäischen Jüdinnen und Juden organisiert und durchgeführt wurde, gibt es eine besondere Verbindung zwischen Deutschland und Israel. Diese ist geprägt durch Schuld, aber auch durch Schuldabwehr, Projektionen ebenso wie nicht aufgearbeitetem Antisemitismus, der nach 1945 nicht einfach verschwunden ist.
Es lohnt sich also, sich auch selbst zu fragen: Würde ich in einem anderen Konflikt eine Konfliktpartei bei gleichem Handeln genauso kritisieren?
Wenn ja: Tun sie es. Sachlich, fair, Fakten und Quellen prüfen, Argumenten zuhören, Intentionen hinterfragen, versuchen, beide Seiten zu sehen, bereit sein, seine Meinung auch zu ändern, wenn sie sich als falsch herausstellen.
Literaturhinweise:
| Samuel Salzborn: Israelkritik oder Antisemitismus? Kriterien für eine Unterscheidung