Die AfD zieht in den Schweriner Landtag ein, die Zahl rechter Straf- und Gewalttaten steigt rasant an und MVGida marschiert weiter durch mecklenburgische und vorpommersche Städte. In einer losen Serie betrachtet die Amadeu Antonio Stiftung auf Belltower.news die „Gidas“ der Bundesländer – auch unter Gender-Aspekten.
Es recherchierte Shirin Wolf mit der Unterstützung der Vereine Lobbi Ost und West sowie dem Fleischervorstadtblog Greifswald.
Wie häufig finden in Mecklenburg-Vorpommern Demonstrationen von MVGida statt?
MV ist in den letzten Jahren von 2 Wellen der MVGida-Bewegung und ihrer Ablegergruppen erfasst worden.
Den Beginn markierte ein Aufmarsch der Gruppe „Rogida Rostock“ in Güstrow im Dezember 2014, der keinen offiziellen Bezug zu Dresden hatte, aber wegen des Wortteiles „Gida“ auf Interesse stieß. Angesichts alkoholisierter Teilnehmender, NPD-Aktivist_innen und öffentlicher Hitlergrüße verließen allerdings viele Zuhörer_innen die Veranstaltung wieder.
Die 1. Welle zahlreicher Aufmärsche überschwappte Mecklenburg-Vorpommern in der ersten Jahreshälfte 2015 und konzentrierte sich mit allein 16 Veranstaltungen auf die Städte Stralsund und Schwerin.
Die 2. Welle seit Jahresmitte 2015 zeichnete sich durch eine breite rassistische Mobilisierung zeitgleich zum Zuzug von Geflüchteten aus. MVGida bildete dabei nur noch ein Label neben anderen wie „Schwerin wehrt sich“, „MV-Patrioten“ oder „FFDG“ (Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit). Die Kundgebungen und Umzüge sollten an Größe gewinnen und von nun an wurde die Demonstrationsstadt wöchentlich gewechselt. MVGida und seine regionalen Ableger gingen gezielt vor, um mehr Menschen in mehr Orten zu erreichten. Sehr erfolgreich waren sie dabei allerdings nicht.
Mit voranschreitender Zeit, sinkendem Interesse und starken Gegenbewegungen wurden aus wöchentlichen Veranstaltungen nur noch monatliche Demos. Die Anzahl der MVGida-Teilnehmenden sank von rund 600 auf 500 und pegelte sich dann allmählich auf 250 ein. Der Versuch eines Neustarts Anfang 2016 mündete schnell im Sommerloch, auch aufgrund des bevorstehenden Wahlkampfes. Vereinzelt starteten danach allerdings wieder Protestumzüge.'
Wer steckt hinter der Organisation der MVGida-Demonstrationen?
Während zu Beginn noch versucht wurde, NPD-Redner_innen abzuschirmen (im wahrsten Sinne des Wortes durch aufgespannte Schirme vor den Redepulten), um Parteizugehörigkeiten vor der Öffentlichkeit und der Presse zu verheimlichen, so traten sehr bald NPD-Gefolgsleute wie Antje Mentzel (Vorsitzende des Landesverbandes der NPD-Frauenorganisation „Ring Nationaler Frauen“) und Andreas Theißen (Landtagswahlkandidat der NPD) ganz offen vor das Mikro.
Das Knowhow und die Erfahrungen kommen von der NPD in Form von Anmelder_innen, Redner_innen und Ordner_innen. „Prominente“ Pegida-Redner_innen reisen selten nach MV. Die Ansprache von Legida-Organisator Jörg Hoyer, dem „Mann mit dem Hut“, bei der MVGida-Kundgebung in Schwerin im September 2015 blieb eine der wenigen Ausnahmen.
MVGida und seine Ableger aus den verschiedenen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch Gruppen wie „FFDG“, die sich in den rassistischen Diskurs mit eingeordnet haben, sind in ihren Themen, Abläufen und Organisationsstrukturen kaum voneinander zu unterscheiden. Während die NPD früh ihre Freude über die Bewegung ausrief, betonen Gida-Organisator_innen gerne auf Veranstaltungen oder bei Facebook, dass rechtsextreme Parolen und Redebeiträge unerwünscht seien. Mit Eifer wird sich darüber beschwert, dass die „mutigen und besorgten Bürger_innen“ von der Öffentlichkeit als „Nazis“ wahrgenommen werden, im gleichen Atemzug allerdings folgen rassistische Ansprachen, ist rechtsextreme Musik zu hören und rechtsextreme Szenekleidung zu sehen. Und auch für Hitlergrüße und Siegheil-Rufe im Publikum scheinen die Veranstalter_innen blind und taub zu sein.
Der Ablauf vieler Veranstaltungen besticht durch Kürze und Routine. Innerhalb rund 1 Stunde erfolgen 1-2 kurze Redebeiträge, die Proteststrecke wird abgelaufen, Parolen werden ausgerufen und die Teilnehmenden mit Lob überhäuft („Ihr seid mutig! Ihr seid die Zukunft!“).
Welche Themen und Lösungsstrategien werden propagiert?
Die 1. Welle der Gida-Bewegung ist geprägt von einer Bandbreite an gesamtgesellschaftlichen Inhalten: gegen GEZ, Gendermainstreaming und die Antifa, für den Ausstieg aus der Atompolitik und die Bekämpfung von Altersarmut. Gerne werden auch Spenden für Obdachlose gesammelt oder antisemitische Verschwörungstheorien erörtert.
Mit dem zweiten Halbjahr 2015 kommt es zu einer zunehmenden Konzentration auf das Thema Asyl und „Überfremdung“. Oft wird dabei ein Bild krimineller, vergewaltigender und undankbarer Flüchtlinge ohne „richtigen“ Fluchtgrund gezeichnet. Untermauert wird die Kritik und Angst der „besorgten Bürger_innen“ mit Hilfe von Lokalbezügen wie etwa dem Flüchtlingsheimbau in der Nähe von Kindergärten, der Krankenhausschließung in Wolgast und generell dem „baldigen Verlust der schönen Heimat“. Weitere wiederkehrende Themen sind der Aufruf zu einem deutschen Aufstand, der Rücktritt Angela Merkels und die Wut über die „manipulierende Lügenpresse".
Während die Schlagworte der vermeintlich unschuldigen Abendspaziergänge immer mehr verschleiern, worum es den Veranstalter_innen geht („Gegen Krieg und Terror“ – Wolgast, „Familie, Werte, Heimatliebe statt Hass und Kriege“ – Anklam), wird die Diskreditierung des antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Widerstandes immer offener und präsenter. MVGida wirbt mit dem Slogan „Für unsere Heimat – Friedlich und vereint gegen Krieg & Extremismus“, sympathisiert aber offen mit der NPD oder rechtsradikalen Gruppen. So unterstützt MVGida die Luftballonaktion „Ich wünsche mir von Deutschland“ der gewaltbereiten „Aktionsgruppe Freundeskreis MuP“, teilt Wahlwerbung von AfD und NPD oder lobt Aktionen der „Identitären Bewegung“.
Wer geht demonstrieren?
Das typisch diffuse MVGida-Publikum besteht aus mittelständigen „besorgten“ Bürger_innen, NPD-Sympatisant_innen, Reichsbürger_innen, Rockern, Menschen aus dem Hooligan- und Trinkermilieu und alten Kamerad_innen aus den 1990ern oder Nullerjahren wie zum Beispiel dem verurteilten Greifswalder Neonazi Maik Spiegelmacher, der im Vorstand des rechtsextremen Vereins „Deutschland muss leben e.V.“ mitwirkt.
Viele Demonstrierende zeigen sich gewalt- und eventbereit und eher uninteressiert an politischen Redebeiträgen. Ihnen spielt zu, dass die MVGida-Demonstrationen nicht so sehr von Disziplin und Ordnung beherrscht werden wie die klassischen NPD-Aufmärsche in Mecklenburg-Vorpommern. Streng festgelegte Choreografien, Alkohol- und Pöbelverbote, wachsame Ordner_innen und das Image der „anständigen Deutschen“ gibt es bei MVGida fast bis gar nicht. Und genau das übt bis heute Anziehungskraft aus.
MVGida-Proteste konnten sich zu einem montagabendlichen Happening mit guten Kumpels und viel Alkohol entwickeln. Die aufgepeitschte Atmosphäre im anonymen Halbdunkel begünstigt Angriffe auf Presse und Andersdenkende. Die Vermeidung des NPD-Labels unterstützt zwar die Erscheinung als „Bürgerprotest“, die aggressiven Ausdrucksformen aber verprellten schnell das neu geworbene Publikum.
Innerhalb der rechten Szene wurden die Disziplinlosigkeit und die damit verbundene schlechte Außenwirkung kontrovers diskutiert. Die vermeintliche Elite und ranghöhere Rechte bleiben als Folge zunehmend im Hintergrund oder halten sich komplett fern.
Wie sichtbar sind Frauen?
MVGida-Märsche bleiben männlich dominiert. Der mitlaufende Frauenanteil beträgt ungefähr 25%, ist damit niedriger als bei Gida-Demonstrationen anderer Bundesländer aber höher als klassische NPD-Aufmärsche in MV (10-15%).
Frauen, die bei früheren NPD-Kundgebungen als choreografierte Banner-Sympathie-Trägerinnen fungierten, übernehmen heute aktiv Anmelde- und Ordnungsfunktionen.
Und trotzdem ändert dies nichts am klassischen Rollenbild für Männer und Frauen, an dem MVGida und die NPD festhalten. Die Bewegung lehnt Gendermainstreaming, Genderstudies und nicht-heteronormative Sexualitäten ab. Die deutsche Frau soll besorgte Mutter und gute Hauswirtschaftlerin bleiben. MVGida-Mitorganisatorin Antje Mentzel zum Beispiel inszeniert sich gerne als „mutige deutsche Mutter“, verschweigt dabei aber genauso gerne ihre NPD-Parteiarbeit.
Welche Rolle kommt den sozialen Netzwerken zu?
Schon Ende 2014 entstanden zahlreiche Seiten in den sozialen Netzwerken, allen voran auf Facebook. Hier posten und kommentieren neben den bereits oben genannten MVGida-Ablegern auch Gruppen wie „Patrioten Rostock/Rügen/Stralsund“, „Greifswald Echo“ oder „Deutschland muss leben“ regelmäßig aktuelle Pressemitteilungen, bewerben Kundgebungen, machen Parteiwerbung für AfD und NPD und lassen dem Hass auf Flüchtlinge und Andersdenkende gern und oft freien Lauf. Anfang 2016 postete „Greifswald wehrt sich“:
„Die Jagd beginnt! Heute ab 22 Uhr werden wir euch suchen und wir werden euch finden! Die Zeit des Vergebens ist vorbei. Jetzt gibt’s auf die Fresse!“
Kommt das Thema in pädagogischen Feldern an?
Flüchtlingsfeindlichkeit und Rassismus zeigen sich als massives Problem in mecklenburgischen und vorpommerschen Schulen. Als Reaktion darauf hat die Landeszentrale für Politische Bildung in diesem Jahr eine kostenlose Broschüre zum Theme „Flüchlinge in MV“ veröffentlicht (als pdf hier), die dem Lehrpersonal als Argumentationshilfe dienen kann, bei Fragen, Unwissen oder auch Falschbehauptungen seitens der Schüler_innen. Sie klärt auf über genaue Zuwanderungszahlen, das Asylverfahren oder warum auch Flüchtlinge zum Beispiel Smartphones besitzen.
Wie sieht der Gegenprotest aus?
Ähnlich wie die Gida-Bewegungen haben auch die Gegenbewegungen in MV Entwicklungen durchlaufen. Die regionalen Mobilisierungen waren trotz häufig wechselnder Demonstrationsstädte und zwischenzeitlich schlechter Wetterlagen engagiert und zahlreich (bis zu 2000 Gegendemonstrierende in Rostock, 1000 in Schwerin, 450 in Stralsund). Rostock zeigte in Mecklenburg-Vorpommern MVGida und auch Veranstaltungen der AfD den größten Protest. Die AfD nutzte seit dem Herbst 2015 die rassistische Mobilisierungswelle und veranstaltete danach parallel zu MVGida Demonstrationen in Rostock, Stralsund und Neubrandenburg. Einen Zusammenhang zwischen AfD-Demos und dem Niedergang von MVGida gibt es allerdings nicht.
Der öffentliche Tenor, die Positionierung der Landesregierung, die zahlreichen Initiativen (wie „Rostock nazifrei“ oder „Greifswald für alle“und regionale Kirchenverbände unterstützten den Gegenprotest. Ministerpräsident Erwin Sellering, der Greifswalder Bürgermeister Stefan Fassbinder und die Rektorin der Greifswalder Universität Hannelore Weber zeigten ebenso Gesicht und unterstützten Spendenläufe, Aktionstage und Festivals.
Als im Laufe der Zeit die marschierenden Anhänger_innen von MVGida und Co. weniger wurden, sanken auch die Zahlen der Gegenseite. Einen Frustrationsfaktor auf Seiten der Gida-Gegner_innen stellt allerdings das Handeln der Polizei dar. Der mangelnde Schutz des Gegenprotestes sowie die mangelnde Verfolgung von rechten Angriffen, stattdessen unverhältnismäßig viele Personenkontrollen der Protestierenden und mangelnde Verfolgung von rechten Angriffen hemmten die regionale Mobilisierung.
Ein kurzes Fazit
Die AfD ist im September mit 20,8% Wahlstimmen in den Schweriner Landtag eingezogen und die Zahl rechter Straf- und Gewalttaten hat sich in Mecklenburg-Vorpommern fast verdreifacht. (Quelle: NDR)
Die Wähler_innen in Peenemünde, einem Ort ganz ohne Flüchtlinge, haben mit über 50% AfD und NPD gewählt. MVGida und seine Ableger haben an sichtbarer Straßenpräsenz verloren, aber angesichts der Wahlergebnisse einen parlamentarischen Arm und damit eine wählbare Alternative für ihre Themen und Ideologien dazugewonnen.
Die NPD-Strukturen hinter MVGida haben dazu geführt, dass rechte Parolen und Ideologien von Menschen gehört werden, die mit diesen sonst nicht so direkt in Kontakt kommen würden. Auch wenn der Expert_innenblick und der Großteil der öffentlichen Berichterstattung kritisch bleiben, ist Hetze auf der Straße und im Netz heute legitimer als noch vor ein paar Jahren.
Denn sie existieren nach wie vor, die vom Verfassungsschutz beobachteten Abendspaziergänge und Mahnwachen von MVGida und seinen Ablegergruppen.