T-Shirts eines 1. FC Union Berlin - Fanclubs mit den Aufdrucken "Rattenball" und "Schädlingsbekämpfer".
Screenshot Twitter @GoldsteinChucky

Vom "Judenklub" Bayern bis zum "Rattenball" Leipzig: Struktureller Antisemitismus im Fußball

Mit Antisemitismus im Fußball von latenten Stereotypen bis zu aggressivem Hass gegen jüdische Vereine hat sich Fussball-gegen-Nazis.de bereits in der letzten Woche beschäftigt. Ein Aspekt wurde dabei bisher nicht behandelt: Der Vorwurf des strukturellen Antisemitismus in Bezug auf Kommerzialisierungskritik und die Debatte um "modernen Fußball". Wir haben darüber mit Alex Feuerherdt gesprochen, der als freier Publizist u.a. zu verschiedenen Spielarten des Antisemitismus und zum Thema Fußball arbeitet.

Von Frederik Schindler

"Aus Österreich nur das Beste für Deutschland" war Anfang Februar diesen Jahres auf einem Banner von Fans des FC Erzgebirge Aue im Spiel gegen RB Leipzig zu lesen – darauf abgebildet war Red Bull-Chef Dietrich Mateschitz in Nazi-Uniform. Gleichzeitig wurden Spruchbänder mit dem Inhalt "Ein Österreicher ruft und ihr folgt blind, wo das endet weiß jedes Kind. Ihr wärt gute Nazis gewesen!" entrollt. Hier wurde Mateschitz mit Hitler verglichen, was eine unmissverständliche Relativierung des Nationalsozialismus darstellt. Zudem wurde mit dem Spruchband der geschichtsrevisionistische Mythos von den unschuldigen Deutschen bedient, die gar keine überzeugten Anhängerinnen und Anhänger des nationalsozialistischen Regimes gewesen seien, sondern nur "blind folgten" und selbst von Hitler missbraucht wurden. Doch mag das bei dem allgegenwärtigen Hass gegen RB Leipzig, der weit von sachlicher Kritik entfernt ist und sich auch schon in Aggression und Gewalt gegen Fans entlud, überhaupt noch überraschen? Man denke nur an die weit verbreiteten "Rattenball"-T-Shirts mit Rückenaufdruck "Schädlingsbekämpfer", die an antisemitische NS-Propaganda erinnern. Dort wurden Juden zu vernichtendem Ungeziefer gemacht – jetzt sind nicht Juden betroffen, doch die Argumentationsstruktur und in diesem Fall die Bildsprache erinnert an den Antisemitismus und wird in der Antisemitismusforschung als struktureller Antisemitismus bezeichnet. Mit Tiermotiven sollen komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge vereinfacht und personalisiert werden: "Die Tiere symbolisieren eine bestimmte Gruppe von Menschen (…), die durch unfassbare Macht die ganze Erde oder durch hinterlistiges Verhalten das brave Volk (in diesem Fall den "traditionellen Fußball", Anm. d. Red.) bedrohen. Eine sinnvolle Gesellschaftskritik sieht anders aus. Zudem befördern die meisten Tiermotive seit Jahrhunderten bestehende Ressentiments – und verhindern eine sachliche Analyse, denn die Schuldigen stehen bereits fest", so Patrick Gensing in einer Analyse antisemitischer Bildsprache.

Die Anti-RB-Kampagne verschiedener deutscher Ultra-Gruppen führte schließlich 2010 als Gegenprovokation zur Gründung der "Ultras Red Bull", die im Interview mit der Jungle World ihre Kritik formulierten: "Was die Ressentiments gegen RB Leipzig so widerwärtig macht, ist vor allem der gegen diesen Verein gerichtete Heuschrecken-Vergleich und die dazu gehörige Rhetorik. Damit soll verdeutlicht werden, dass sich hier ein böser ausländischer Konzern aus reiner Profitgier dem Sport zuwendet und so den 'bodenständigen', 'ehrlichen' deutschen Fußball bedroht. Man halluziniert also einen hinterhältigen Angriff auf die eigene, 'authentische' Fankultur und sieht nun mit dem Eindringen von Red Bull in das letzte gallische Fußballdorf, das wacker den Anforderungen der Moderne trotzt, das Ende nahen."

Niemand muss RB Leipzig gut finden, die Stilisierung zum absolut Bösen muss hinterfragt werden

Antisemitismus im Fußball findet man also nicht nur in direkten Anfeindungen gegenüber jüdischen Vereinen oder in antisemitischen Hetzgesängen von Fans wieder, er spiegelt sich auch in Teilen der Debatte um den "modernen Fußball" wieder. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass jegliche Kritik an der Kommerzialisierung des Fußballs an antisemitische Argumentationsmuster erinnert – niemand muss gut finden, was beispielsweise in Leipzig passiert. "Moderner Fußball bringt diverse unangenehme Erscheinungen mit sich. Versitzplatzung, Werbebeschallung, immense Bierpreise und abwegige Ablösesummen sind das eine, Rasenheizung, One-Touch-Football […] und 'Fußballfans gegen Homophobie' sind das andere. Moderner Fußball ist genauso wenig das absolute Böse, wie ein Heilsversprechen", meint Hugo Kaufmann im Sankt Pauli-Fanblog Lichterkarussell. Doch die Stilisierung zum absolut Bösen muss kritisch hinterfragt werden: "Wenn (…) von den pestbringenden Ratten aus Leipzig die Rede ist, wenn die Reinheit der Tradition besudelt wird, wenn die homogene Wir-Gruppe der Chauvinisten der guten alten Zeiten sich im Hass auf den Feind, der in ihr phantasiertes Machtgebiet einfällt, vereint und zum Endkampf aufruft, dann kommen im Zuge einer vermeintlichen Kritik an RB Leipzig, wenn auch teils dem Unwissen geschuldet, unverhohlen strukturell antisemitische Klischees aufs Tapet, die offensiver nicht sein könnten", so Oscar Adlerhut in der Leipziger Stadtteilzeitung 3VIERTEL.

Vor 10 Jahren war vor allem der FC Bayern München Ziel des Ressentiments

Diese hat Publizist Alex Feuerherdt bereits vor 10 Jahren am Beispiel des FC Bayern München kritisiert. Dabei ging es ihm nicht um die Verteidigung seines Lieblingsvereins, sondern um eine "Kritik der Ressentiments gegen diesen Klub und um die Feststellung, dass er bloß mit völliger Offenheit seine Ziele ausspricht, wo in anderen Vereinen der falsche Schein hoch gehandelt wird, der sich rebellisch gebärdet und doch nur purer Konformismus ist". Um die Argumentation genauer nachvollziehen zu können, haben wir mit Alex Feuerherdt einen Experten zum Thema "Struktureller Antisemitismus im Fußball" interviewt, der seit Jahren sowohl zum Thema Antisemitismus, als auch zum Thema Fußball publiziert. Er war Oberliga-Schiedsrichter, bloggt bei Lizas Welt und veröffentlicht regelmäßig Texte in der Jungle World, der Jüdischen Allgemeinen und der Konkret. Zuletzt erschien zum Thema Fußball im Werkstatt-Verlag "Bayer 04 Leverkusen – Die Fußball-Chronik".

 

INTERVIEW MIT ALEX FEUERHERDT

FS: "Gegen den modernen Fußball" ist ein klassischer Spruch der meisten Ultra-Gruppen. "Für mehr modernen Fußball" steht in deiner Twitter-Biographie. Was meinst Du damit?

AF: Was modernen Fußball kennzeichnet, ist nicht zuletzt seine Ambivalenz. Ein Beispiel: Die neuen Arenen sind einerseits schöner, sicherer, komfortabler und besser als die alten Stadien. Auf der anderen Seite ist das alles mit einer massiven Verteuerung des Eintritts einhergegangen, was von vornherein viele vom Besuch eines Bundesligaspiels ausschließt. Für viele ist der Stadionbesuch eine Alternative zu Theater, Kino oder Musical – und das merkt man dann auch. Es geht vielfach gesitteter zu als noch in den Achtzigern oder Neunzigern, man hört heute wesentlich weniger rassistische oder homophobe Gesänge als früher - gut so! Gleichzeitig beobachte ich oft eine gewisse Leidenschafts- und Teilnahmslosigkeit, ich bin im Stadion sogar schon mal aufgefordert worden, doch bitte nicht so laut zu sprechen oder gar zu schreien.

Insgesamt ist der Fußball spektakulärer geworden, auf den Rängen genauso wie auf dem Platz. Die Professionalisierung und die Globalisierung haben ihn aus dem Mief früherer Jahre herausgeholt, und die ökonomische Liberalisierung hat zum Beispiel für den Wegfall der sogenannten Ausländerbeschränkung gesorgt, die Fußballer von ihrer Scholle entkoppelt und anderen kleingeistigen Unfug beiseite geräumt. Darüber bin ich froh, und ich möchte auch nicht wieder zu den ach so guten alten Zeiten zurück, die längst nicht so gut waren, wie manche das glauben. Zu einer Romantisierung besteht jedenfalls kein Anlass.

Die Diskussion um den „modernen Fußball“ entzündet sich im Besonderen am Beispiel von RB Leipzig, ein Höhepunkt war die "11FREUNDE"-Titelgeschichte vom März 2014, die u.a. von Dir kritisiert wurde. Zentrales Argument war, dass zwischen „Klubs, in denen die Identität durch allzu viel Geschäftemacherei beschädigt wird“ und „Klubs, deren Identität die Geschäftemacherei ist“ unterschieden werden müsse. Was soll daran denn falsch sein bzw. wo siehst Du hier oder in ähnlichen Argumentationen die Anfälligkeit für Ressentiment und Ideologie?

Die meisten Profiklubs sind längst selbst Konzerne geworden, die – so ist das im Kapitalismus zwangsläufig – Profitmaximierung betreiben und deren Funktionäre letztlich nichts anderes sind als Unternehmer. Nur verkaufen sie keine Getränkedosen, sondern die Ware Fußball und suchen sich zu diesem Zweck potente Sponsoren. Und sie brauchen – genau wie Red Bull und jedes andere Unternehmen auch – Kunden, die ihr Produkt kaufen. Dass diese Kundschaft aus Fans besteht, die davon ausgehen, dass der eigentliche Daseinszweck ihres Lieblingsklubs noch immer das Fußballspiel als solches ist, macht das Marketing erheblich einfacher, weil emotionale Bindung – auch über den Verweis auf "Tradition" und "Fankultur" – umsatzfördernd ist. Ich weiß, das klingt kalt und herzlos, aber die Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung hat den Fußball nun mal längst eingeschlossen. Einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Fußballverein, der zur Gewinnmehrung eines Unternehmens ins Leben gerufen worden ist, und einer Kapitalgesellschaft, deren Zweck die Vermarktung der Ware Fußball ist, gibt es schlichtweg nicht.

Und was genau war Deiner Meinung nach das Problem an der "11 Freunde"-Titelgeschichte?

Das Fatale an solchen Beiträgen ist der politische Gehalt, der ihnen innewohnt, die Anfälligkeit für Ideologie, genauer gesagt: der regressive Antikapitalismus. Die "11 Freunde" und mit ihnen viele der RBL-Gegner verklären und romantisieren das vermeintlich Authentische und Ursprüngliche, die angeblich traditionelle Beschaulichkeit und Einfachheit. Genau das ist seit jeher die Kehrseite des Fortschritts kapitalistischer Gesellschaften. Und der Fußball bietet eine Projektionsfläche hierfür.  Die abstrakte Zirkulation des Kapitals – die bei "11 Freunde" als "Geschäftemacherei" firmiert – wird wie "Vert et Blanc" in einem lesenswerten Text schrieb, "auf den konkreten Klub projiziert, ja, zu seinem Wesenskern stilisiert – fortan kann RB Leipzig als Chiffre für das Andere, Uneigentliche und Unechte dienen". Genau das ist die Bedingungsmöglichkeit für den strukturellen Antisemitismus.

Was bedeutet das genau?

"Strukturell" heißt: Weder Red Bull noch RB Leipzig noch das Klubpersonal muss jüdisch sein. Vielmehr ist es die Argumentation vieler Gegner, die der antisemitischen ähnelt. Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass das Vokabular, wie es beispielsweise "11 Freunde" verwendet hat, so manche Übereinstimmung aufweist: "Geschäftemacherei" bzw. "Geldmacherei", "am Reißbrett entworfen", also irgendwie künstlich, "Kulissenschieber", "amerikanisch", "Simulation", also unecht, versus "Identität", "kultureller Konsens", "Emotionen", "Tradition". Plastik, Schädlichkeit und Hinterhalt – von hier ist es dann nicht mehr weit zum vulgären Heuschrecken- und Parasitensprech und zu solch widerlichen Dingen wie den "Rattenball"-Aufklebern und den "Schädlingsbekämpfer"-T-Shirts.

Antisemitische Züge wurden von Dir bereits vor einigen Jahren im Hass auf den FC Bayern München kritisiert. Die Zeiten, in denen der Verein als "Judenklub" geschmäht wurde, sind aber doch vorbei, oder?

Als "Judenklub" werden die Bayern heute normalerweise nicht mehr beschimpft, das stimmt. Trotzdem finden sich in der ja recht verbreiteten Ablehnung gegen ihn oftmals antiliberale Ressentiments, die dem Antisemitismus zumindest ziemlich nahe stehen und ihm strukturell ähneln. Dem FC Bayern wird von Fans wie Vertretern anderer Vereine regelmäßig vorgeworfen, unsolidarisch, ja, egoistisch zu handeln und sich nicht um die Belange des ganzen deutschen Fußballs zu sorgen, sei es nun, dass es um die Verteilung der Fernsehgelder geht, früher um die Beschränkung der Zahl ausländischer Spieler oder um andere Absprachen zum vermeintlichen Wohle angeblich aller.

Letztlich hassen vielen den Klub, weil er erfolgreich ist und dieser Erfolg angeblich ausschließlich dem vielen Geld zu verdanken ist, das der Verein besitzt, zu dem er mühelos und ohne Arbeit gekommen zu sein scheint – wahrscheinlich durch undurchschaubare Transaktionen und zwielichtige Geschäfte – und das sich wie von selbst zu vermehren scheint, während andere Klubs darben und ständig um ihre Existenz kämpfen müssen. Hier deutet sich die uralte völkisch-antisemitische Aufspaltung in "schaffendes" und "raffendes" Kapital mehr als nur an. Man wirft dem FC Bayern faktisch vor, gewissermaßen ein Kunstprodukt zu sein und seine Erfolge bloß erkauft zu haben, statt sie zu erkämpfen, wie sich das für anständige Deutsche gehört.

So, wie außerhalb des Fußballs finstere Mächte für soziale Kälte, Verrohung, schlechte Spargelernte, Kulturlosigkeit, Zersetzung, Künstlichkeit und die grenzenlose Dominanz des Geldes verantwortlich sein müssen, wird auch im Fußball dessen notwendige Warenförmigkeit auf ein gemeines Komplott hinterhältiger Gestalten heruntergebrochen. Diese Gestalten müssen Name und Anschrift haben, und ihren Hauptsitz verortet der beleidigte Fan gerne in der Säbener Straße in München – dort also, wo der FC Bayern seinen Sitz hat.

 

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Literaturliste des Blogs Vert et Blanc zu strukturellem Antisemitismus, regressiver Kapitalismuskritik und der Debatte um "modernen Fußball"

Struktureller Antisemitismus und verkürzte Kapitalismuskritik – Buchbeitrag von Thomas Schmidinger

 

 

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