Am Wochenende steht der "Antikriegstag" in Dortmund an - eine Aktion der "Autonomen Nationalist*innen", die sich in der Stadt zuhause fühlen, auch wenn sie aktuell auf erste Repressionen stoßen. Aktuell ist die Demonstration verboten, aus Internetforen nimmt man war, dass die Rechtsextremen trotzdem anreisen wollen. Warum konnte die Ruhrmetropole zur Hauptstadt der neuen Nazi-Strömung der „Autonomen Nationalist*innen“ werden konnte?
Von Johannes Radke und Toralf Staud
Dieser Text ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch „Neue Nazis“, das am 16. August bei Kiepenheuer&Witsch erschienen ist; mit freundlicher Genehmigung der Autoren. Er spiegelt deshalb nicht den aktuellen Ermittlungsstand (Verbot der drei Kameradschaften "KAL", "NWDO" und "Skinheadfront Dorstfeld" durch das Innenministerium von NRW, hoher Verfolgungsdruck vor dem rechtesxtremen und aktuell verbotenen "Antikriegstag" am 1. September 2012).
Der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld wirkt wie ein kleines Dorf, obwohl er nur fünf U-Bahn-Stationen vom Zentrum der Ruhrmetropole entfernt ist. Im Mittelalter florierte der Flecken, weil er am Übergang einer Handelsstraße über die Emscher lag. Ab 1849 brachte eine Steinkohle-Zeche Arbeit und Wohlstand, aber das ist lange vorbei. Gut 15.000 Menschen wohnen heute in Dorstfeld, das Viertel ist eine etwas trostlose Mischung aus Fachwerkhäusern, Bergbauarchitektur und grauen Plattenbauten. Und es ist die Hauptstadt der neuen deutschen Nazi-Szene.
An Laternenpfählen und Stromkästen entlang der engen Straßen haben Rechtsextremisten mit Aufklebern ihr Revier markiert. „Nationaler Sozialismus oder Untergang“, ist darauf zu lesen. Und: „Organisiert die Anti-Antifa“, daneben „Todesstrafe für Kinderschänder“. Jeden Tag werden Aufkleber von Passanten abgerissen, jeden Tag werden wieder neue geklebt. An eine Hauswand ist in Großbuchstaben gesprüht: „Nationaler Widerstand“, daneben ein verbotenes Keltenkreuz. Mehrere Neonazi-WGs haben sich in dem Stadtteil angesiedelt.
Wer als Journalist nach Dorstfeld kommt, macht schnell Bekanntschaft mit der Szene. Auswärtige fallen hier offenbar sofort auf. Meist dauert es nur eine Viertelstunde, bis der erste Neonazi auftaucht und zum Mobiltelefon greift. Per SMS oder über Twitter wird nach Verstärkung gerufen. Kurze Zeit später beginnt eine ganze Gruppe die Reporter auf Schritt und Tritt zu verfolgen und zu bedrohen. Sie sehen Dorstfeld als ihr Hoheitsgebiet, in dem niemand „fremdes“ etwas zu suchen hat – kein Migrant, kein Obdachloser, kein Punk und kein Vertreter der „Systempresse“.
Wer sucht, was in den Medien als „National Befreite Zone“ bezeichnet wird, braucht nicht in die Sächsische Schweiz zu reisen oder nach Vorpommern. Es genügt eine Fahrt ins Ruhrgebiet. Dortmund ist ein beängstigendes Beispiel dafür, was passiert, wenn gut organisierte Neonazi-Kader in eine Stadt ziehen, Polizei und Justiz gemächlich reagieren, auch die Bürger das Problem lange Zeit nicht wahrnehmen – und dafür, wie schwierig es ist, die Nazis wieder loszuwerden, wenn sie erst ihre Strukturen aufgebaut haben.
Vor allem aber lässt sich in Dortmund besichtigen, was die rechtsextreme Szene momentan gefährlich macht: Neben die altbekannten Skinhead-Gruppen und die NPD ist in den vergangenen Jahren ein neuer Typ Rechtsextremisten getreten, die sogenannten Autonomen Nationalisten (AN). Hinter dieser Selbstbezeichnung stecken junge Neonazis, die sich nicht durch eine besondere Ideologie vom Rest der Szene unterscheiden, sondern vor allem durch ihr Äußeres: Sie kleiden sich modern und sportlich, mit ihren Kapuzenpullis, Turnschuhen und Basecaps sind sie für flüchtige Betrachter kaum von anderen Jugendlichen oder linken Autonomen zu unterscheiden.
Die Erkennungszeichen sind subtil: Die Kapuzenpullis sind von Thor Steinar oder Ansgar Aryan. Die schwarzen Outdoorjacken von unpolitischen Marken wie North Face und Jack Wolfskin. Und auf den bunten Ansteckern, die typischerweise an den Basecaps hängen, stehen Nazi-Slogans wie „Frei, Sozial & National“, „Fuck Israel“ oder „Good night left side“.
Zudem sind die Autonomen Nationalisten äußerst gewaltbereit; anders als viele andere Rechtsextreme kennen sie kaum taktische Zurückhaltung, sondern attackieren offen ihre politischen Gegner, Polizisten und Journalisten. In ganz Deutschland gibt es mittlerweile AN-Gruppen, doch ihre Hochburg ist Dortmund und Dorstfeld das Hauptquartier. Seit einigen Jahren halten sie von hier aus die ganze Stadt in Atem.
Als im Januar 2012 am Wilhelmplatz nahe der ehemaligen Dorstfelder Synagoge eine kleine Gedenkfeier für die Opfer des Holocaust stattfand, war das nur unter Polizeischutz möglich. Acht Einsatzwagen standen verteilt in den Seitenstraßen. Beamte in Uniform und Zivil hatten sich im Umkreis postiert. „Wenn die nicht da wären“, sagt eine Anwohnerin, „würden sofort die Idioten kommen und Ärger machen.“ So wie bei der Gedenkfeier zur Pogromnacht im Jahr zuvor. Da tauchten die Autonomen Nationalisten vermummt auf, schrien antisemitische Parolen und zündeten Feuerwerkskörper. Bereits ein paar Wochen zuvor hatte die Gruppe „ihr“ Viertel mit kleinen schwarz-weiß-roten Fahnen an Laternen, Ampeln und Straßenschildern markiert. Die Feuerwehr brauchte Stunden um mühsam die rechte Propaganda zu entfernen.
Das sind noch die harmloseren Machtdemonstrationen. Kaum jemand, der sich gegen Rechtsextremismus stark macht, scheint in Dortmund sicher zu sein. Die Liste von Anschlägen, Drohungen und Gewalttaten der letzten Jahre füllt mehrere Seiten. Engagierte Jugendliche werden ausgespäht und zusammengeschlagen, Fensterscheiben bei Büros von SPD, Grünen und der Linken eingeworfen. Am häufigsten trifft es die alternative Kneipe „Hirsch-Q“ in der Innenstadt. Ganze 18 Mal wurde die Glasfront zerstört oder beschmiert. Bei einigen Überfällen gab es Verletzte.
In der Halbmillionenmetropole haben die Rechtsextremen ein Klima der Angst geschaffen. Überall in der Stadt finden sich ihre Aufkleber mit der Kampfansage „Dortmund ist unsere Stadt“, sogar T-Shirts mit dem Slogan haben sie sich drucken lassen. Zudem verfügen die AN über ein eigenes Nazi-Zentrum in Dorstfeld, in dem sie sich wöchentlich treffen oder Schulungsveranstaltungen durchführen. Auch einen eigenen VW-Bus, der als Lautsprecherwagen dient, haben sie sich gekauft. Mit einem jährlichen Aufmarsch im September haben die AN einen festen Termin im Kalender der bundesweiten Szene etabliert. Bis zu 1.000 gewaltbereite Rechtsextremisten reisen dafür jedes Jahr an.
Aber warum ausgerechnet Dortmund? Die NPD hat hier kaum Erfolge zu verzeichnen. Bei der Landtagswahl 2010 erhielt sie lediglich 1,4 Prozent der Zweitstimmen. Viele sagen, die AN seien hier so stark, weil die Stadt schon immer einen guten Ruf in der Nazi-Szene hatte. In den 80er-Jahren machte die berüchtigte „Borussenfront“, angeführt vom späteren FAP-Landesvorsitzenden Siegfried Borchardt, Spitzname „SS-Siggi“, die Nordstadt und das Westfalenstadion unsicher. Im Jahr 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger aus seinem Auto heraus drei Polizisten. Die „Kameradschaft Dortmund“ druckte danach zynische Aufkleber: „3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns“.
2005 gab es erneut ein Todesopfer rechter Gewalt. Dieses Mal traf es den Punk Thomas Schulz. Der damals 17-jährige Skinhead Sven Kahlin tötete ihn nach einem Streit im U-Bahnhof mit einem Stich ins Herz. Seit seiner vorzeitigen Entlassung ist Kahlin wieder aktiv und trat als Redner bei Aufmärschen auf. Dann prügelte er im Winter 2011 zwei jugendliche Migranten bewusstlos. Jetzt sitzt er wieder im Gefängnis. Auch die Zwickauer Terrorzelle mordete in Dortmund. Am 4. April 2006 wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in seinem Geschäft erschossen.
Zu dieser Zeit hatten die AN längst begonnen, ihre Strukturen aufzubauen. Eine „Politik des Ignorierens von Polizei, Stadt und Medien“ habe es lange Zeit gegeben, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum. Lokalmedien versuchten anfangs, gar nicht über die Neonazis zu berichten, rechtsextreme Gewalttaten wurden von der Polizei häufig als „Auseinandersetzung unter rivalisierenden Jugendgruppen“ verharmlost. „Man gewinnt den Eindruck, dass die Neonazis vor Ort offenbar lange das Gefühl hatten, sie könnten in Dortmund quasi alles machen, was sie wollen, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen“, sagt Schedler. Fast eine Art rechtsextreme Erlebniswelt mit Konzerten, Partys, Aufmärschen und Gewalt, die anziehend auf anpolitisierte Jugendliche wirke, sei so entstanden. Aufgewacht seien die Dortmunder erst, als am 1. Mai 2009 plötzlich 300 bis 400 Neonazis eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes überfielen. Mit Fahnenstangen, Fäusten und Böllern wurden Teilnehmer und Polizisten attackiert.
Hartmut Anders-Hoepgen, ehemaliger Superintendent der Evangelischen Kirche in Dortmund und Lünen, hat den Kampf gegen die Rechtsextremisten aufgenommen. Schon lange vor dem Angriff auf den DGB habe man das Problem im Blick gehabt, betont er. Tatsächlich hat die Stadt schon 2007 eine Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus eingerichtet, die Anders-Hoepgen jetzt leitet. Doch da war es fast schon zu spät. Nur sehr langsam begannen die Gegenaktivitäten Wirkung zu zeigen. „Wir arbeiten seit Jahren mit allen Akteuren in der Stadt zusammen“, sagt der 67-Jährige. Aber es brauche viel Zeit, bis diese Arbeit für alle sichtbar werde. 200.000 Euro stellte die Stadt 2011 dafür bereit. Viel Geld in Zeiten von leeren Kassen. 2011 wurde das Budget sogar noch einmal verdoppelt.
Anders-Hoepgen wirkt nicht verbittert, wenn er von Rechtsextremen erzählt, die den Frieden in seiner Stadt bedrohen. Mit seinem grauen Bart und den Lachfalten im Gesicht strahlt er eine Freundlichkeit und Ruhe aus, die vielleicht nur ein Pfarrer haben kann. Und er weiß genau, worauf es ankommt, um den Neonazis nicht das Feld zu überlassen. Anders-Hoepgen war es beispielsweise, der dafür gesorgt hat, dass die Stadt das Gebäude kaufte, in dem die AN ihr Zentrum eingerichtet haben. Kurz nach dem Kauf erhielten die Neonazis die Kündigung, nun soll dort ein Jugendzentrum entstehen. Es sind diese kleinen Erfolge, die dem Pfarrer Mut machen.
Rund 50 Neonazis bilden in Dortmund „den harten Kern“, sagt Anders-Hoepgen. Eigentlich eine überschaubare Gruppe, entscheidend sei jedoch das enorme Mobilisierungspotenzial. „Der Giemsch schickt eine SMS, und ein paar Stunden später sind 200 Neonazis aus den umliegenden Städten da“, sagt er. Dennis Giemsch. Egal mit wem man über die Dortmunder Szene spricht, jedes Mal fällt sein Name. Der Multifunktionär ist die unangefochtene Führungsfigur im AN-Spektrum Nordrhein-Westfalens.
Schon als Teenager tauchte er bei NPD-Aufmärschen auf. Vor rund zehn Jahren begann er gemeinsam mit Berliner Rechtsextremisten, den neuen Stil der AN unter jungen Rechtsextremen zu etablieren. Heute fungiert er als Anmelder zahlreicher Aufmärsche und Anführer des „Nationalen Widerstands Dortmund“. Giemsch ist nicht dumm wie manch trinkfreudiger Skinhead. Vor Jahren rief er Autonome Nationalisten aus ganz Deutschland auf, nach Dorstfeld zu ziehen, um dort eine Hochburg zu schaffen. Giemsch kann planen, organisieren, reden und die Leute für sich begeistern, erzählen Aussteiger. Gerne zitiert er bei Aufmärschen Adolf Hitler. Nicht viele in der Szene trauen sich das. Der Applaus der „Kameraden“ ist deshalb umso größer.
Aber Giemsch ist auch Geschäftsmann und weiß, wie man mit rechtsextremer Ideologie viel Geld verdient. Sturmhauben, Stahlzwillen, Pfefferspray, Rechtsrock- CDs und Propaganda – in seinem Versand bekommt die braune Kundschaft alles, was sie begehrt. Zudem versorgt er über seinen Server diverse AN-Gruppen mit Speicherplatz für ihre Webseiten. Seinen Versandhandel hat er mit Fördergeldern von dem Staat aufgebaut, den er so vehement bekämpft. Erst als Antifa-Gruppen die Behörde darüber informierten, was hinter der Ich-AG von Giemsch steckt, wurde 2009 das Geld zurückgefordert.
Nicht nur beim Kampf gegen Rechtsextremismus, auch bei der Unterstützung der Betroffenen rechtsextremer Übergriffe hat sich in Dortmund etwas getan. Im November 2011 richtete die Stadt eine unabhängige Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt ein. Wer angegriffen oder bedroht wird, kann sich bei Back Up melden und erhält professionelle Hilfe. „Schon nach zwei Monaten hatten wir 31 Fälle zu betreuen“, sagt Bianca Ziborius von Back Up. „Wir kommen mit der Arbeit kaum nach.“ Viele Opfer, aber auch Zeugen würden nicht zur Polizei gehen, weil sie das Vertrauen in die Beamten verloren hätten, sagt sie.
Der neu ernannte Polizeipräsident von Dortmund, Norbert Wesseler, will solche Vorwürfe gegen seine Beamten nicht stehen lassen. Ihm ist es wichtig zu zeigen, dass seine Behörde das Thema ernst nimmt. Der Schock über die Aufdeckung der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ kam etwa zu der Zeit, als Wesseler seine neue Stelle antrat. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Einrichtung der sogenannten Besonderen Aufbau-Organisation. Szenekundige Beamte vom Landeskriminalamt und anderen Stellen sollen darin ihre Kräfte bündeln und die Neonazis stärker ins Visier nehmen. „Wir wollen denen richtig auf den Füßen stehen“, sagt Wesseler. Die Zeiten, in denen die AN das Gefühl hatten, unbeobachtet agieren zu können, sollen nun endgültig vorbei sein. „Unattraktiv“ will Wesseler seine Stadt für die Szene machen, und er hofft, den Stempel „Nazi-Hochburg“ irgendwann loszuwerden. Er weiß, dass die Stadt dafür einen langen Atem braucht.
Toralf Staud / Johannes Radke:
Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts.
Kiepenheuer & Wisch, 2012
272 Seiten, 9,99 Euro
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