"Wir schließen eine Lücke in der Beratungslandschaft"

Anonym und online – auf dieser Grundlage berät ein Projekt des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V." seit Mai diesen Jahres Menschen, die mit Rechtsextremismus konfrontiert sind - ob bei der Arbeit, in der Familie oder auf der Straße. Beraten wird jeder individuell.

Von Haidy Damm

Seit 15 Jahren befasst sich Martin Ziegenhagen mit dem Thema Rechtsextremismus. Trotzdem, sagt er, sei er jetzt in der Realität gelandet. "In der direkten Beratung zu sein, das berührt ganz anders,“ sagt der Diplom-Pädagoge. "Mein Blick hat sich gewandelt“ Seit Mai berät er gemeinsam mit seiner Kollegin Birgit Luig Menschen, die mit Rechtsextremisten konfrontiert sind.

Birgit Luig ist überzeugt davon, dass ihre Arbeit auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung hat. "Durch die individuelle Beratung ist mir klar geworden, wie weit die Rechtsextremen tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind.“ Ob auf der Arbeit, in der Familie oder in der Schule. "Wir bekommen Anfragen aus fast jedem gesellschaftlichen Bereich.“

"In unserem Ort trifft sich regelmäßig eine Gruppe Neonazis vor unserem Haus auf dem Marktplatz. Da wir uns inzwischen in einer Initiative gegen Rechts engagieren, richten sich die Aggressionen der Neonazis auch direkt und offen gegen uns.“ Was tun in einem solchen Moment, wenn Rechtsextremisten bedrohlich nah gekommen sind?

70 solcher und ähnlicher Beratungen laufen derzeit. Das ist viel für nur zwei Berater. "Wir sind schon ganz schön an der Grenze unserer Kapazitäten,“ sagt Ziegenhagen. Innerhalb von drei Tagen wird jede E-Mail beantwortet. Außerdem werden Gespräche in Einzelchats angeboten. Neben den individuellen Beratungen gibt es auch das Angebot eines Gruppenchats. Hier haben sich in erster Linie Angehörige von Rechtsextremisten eingefunden, die dreiwöchentlich virtuell zusammenkommen und sich austauschen.

Gruppenchat: Während an verschiedenen Orten Menschen vor ihrem Rechner Platz nehmen und sich einloggen, sitzen Birgit Luig und ihr Kollege in dem kleinen Büro, zwischen sich zwei Bildschirme. "Das erfordert eine ganz besondere Konzentration“, erklärt die Moderatorin. "Es geht manchmal ganz schön schnell mit den Fragen und Antworten der Einzelnen“. Eineinhalb Stunden lang moderieren die beiden das Gespräch. Nachdem am Anfang die einzelnen Geschichten im Vordergrund standen, mehren sich jetzt die Fragen, was die Betroffenen tun können. Deshalb haben die beiden Moderatoren für nächste Mal einen Aussteiger eingeladen, der den Eltern und Freunden von Neonazis Rede und Antwort stehen soll.

Ohne die Möglichkeit, sich hier virtuell zu treffen, säßen die Betroffenen wahrscheinlich gar nicht zusammen. Gerade im Westen der Republik gibt es nur wenige Beratungsstellen, nicht selten beginnt eine E-Mail mit den Worten: "Ich bin so froh, dass ich Sie gefunden habe.“

"Rechtsextremismus wurde viel zu lange als Ostproblem definiert“, sagt Ziegenhagen. Deshalb, so vermutet der 44-Jährige, seien wohl auch die meisten Beratungssuchenden, die sich an Gegen Vergessen wenden, aus den alten Bundesländern. Ganz genau kann er das aber nicht sagen. Denn ein wichtiger Punkt der Beratung ist die Anonymität. „Die Leute können anklicken, aus welcher Region sie kommen, aber das müssen sie nicht."

Kommuniziert wird über einen sicheren Server. Das ist wichtig, denn das Internet kann sonst gelesen werden wie ein offenes Buch. In der psychosozialen Beratung hat sich das Internet als Ort mittlerweile etabliert. Im Bereich Rechtsextremismus hat der Verein mit Hilfe der Bundeszentrale für politische Bildung die virtuelle Beratung jetzt erstmals umgesetzt. Ziegenhagen sagt: "Das Netz bietet ein besonders niedrigschwelliges Angebot der Unterstützung.“

"Ich lebe mit meinem Sohn und seiner Familie in einem Haus. Das hat die ganzen Jahre wirklich gut geklappt und es war schön, meine Enkelkinder aufwachsen zu sehen. Meine Schwiegertochter konnte arbeiten gehen und ich habe die Kinder versorgt. Nun ist der Junge mit seinen 15 Jahren in so einer Neonazigruppe gelandet. Anfangs wollte ich das gar nicht wahrhaben. Ganz im Gegenteil, ich fand es sogar gut, dass er sich auf einmal so für die Familientradition interessierte und besonders für den Großvater als Soldaten...“ schreibt beispielsweise eine besorgte Großmutter. Sie ist eine von vielen, die sich an das Projekt wendet, weil sie sich überfordert fühlen, oder sich schämen und alleine keine Weg finden, das Problem zu lösen. "Wir versuchen die Menschen da abzuholen, wo sie stehen“, erklärt Birgit Luig. „Wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen, sondern helfen ihnen herauszufinden, was in der Situation für sie das Beste ist.“ Als Konkurrenz zu face-to-face Beratungen sehen sie sich dabei nicht. "Wir schließen vielmehr eine Lücke, für die, die sich nicht vor Ort beraten lassen wollen oder können.“

Zum Thema:

Online-Beratung gegen Rechtsextremismus ist ein Projekt von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

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