Ein völkisches Siedlerpaar lässt seine vierjährige Tochter sterben. Das Diabetes-kranke Kind bekommt nicht das lebensnotwendige Insulin, stirbt nach Blutspucken und Atemstillstand am Heiligabend 2009. Verurteilt werden die Eltern am 12.02.2015 vom Landgericht Hannover wegen fahrlässiger Tötung zu 8 Monaten Haft auf Bewährung. Der Richter sagt bei der Urteilsverkündung: „Aber dass sie liebende Eltern sind, die sich Sorgen gemacht haben, das stellt niemand in Frage.“ Nun, eine Zeugin hatte ausgesagt, die Eltern hätten der kleinen Sighild „Euthanasie-mäßig“ die Medikamente verweigert. Die Eltern stammen aus dem Umfeld der rechtsextremen Artgemeinschaft, zu deren „Sippengesetz“ etwa die Aussage gehört: „Wir bekennen, dass der einzelmenschliche Tod nicht Strafe oder Erlösung (…), sondern Voraussetzung für das künftige Gedeihen der Art ist.“ Im Fall der Sighild B. wandte sich die rechtsextreme Ideologie der Eltern gegen ihr eigenes Kind.
Von Simone Rafael
Der Fall, der in der vergangenen Woche vor dem Landgericht Hannover verhandelt wurde, wirft ein Schlaglicht auf Abgründe. Rechtsextreme Abgründe, medizinische Abgründe, mangelnden Schutz durch staatliche Stellen. Am Ende ist ein kleines Mädchen tot. Es litt an Diabetes, bekam nicht die richtigen Medikamente, wurde medizinisch nicht kontrolliert, es starb am Weihnachtsabend, nachdem es bereits tagelang gelitten und Blut gehustet hatte. Erst, als es aufhörte zu atmen, riefen die Eltern den Notarzt. Da war es zu spät. Vor Gericht kam der Fall, weil der Bruder des Vaters nun mit selbigem im Streit liegt und anzeigte, dem Kind seine Medikamente vorenthalten worden – zuvor hatte es zwar eine staatlich angeordnete Obduktion gegeben, die aber ergebnislos blieb. Der Richter sah es nach zwei Tagen Verfahrensdauer nicht als beweisbar an, dass die Eltern die Medikamente absichtlich abgesetzt hatten. So kam es zu dem milden Urteil von 8 Monaten auf Bewährung, ausgesetzt auf eine Zeit von 3 Jahren (vgl. bnr, taz). Fünf weitere Kinder leben immer noch in dieser Familie. Es ist eine seit Generationen völkisch-rechtsextreme Familie. Sighild kostete das ihr Leben. Sie starb offenbar, weil sie nicht gesund genug war, um ihre „Art“ in Zukunft voranzutreiben. So liest es sich jedenfalls in den „Sittengesetzen“ der rechtsextremen Gemeinschaften, aus denen die Eltern stammen.
Als seit Generationen geschulte völkische Rechtsextreme wissen sich die Eltern Baldur und Antje Renate B., wie sie sich vor Gericht zu verhalten haben. Sie streiten alles ab: Dass sie zur rechtsextremen Szene gehören, dass sie in völkischen Bündnissen aktiv sind, dass sie ihrer Tochter aus ideologischen Gründen die nötige Hilfe zum Überleben verwehrt haben, indem sie lieber auf einen antisemitischen Esoteriker setzten, als der Schulmedizin zu vertrauen. Stattdessen wollen sie nicht genug informiert gewesen sein, das Kind sei zuvor krank gewesen und habe nur deshalb ein paar Tage kein Insulin bekommen, es gab ein neues Baby, das die Familie forderte. Sighild sei „genügsam und lieb“ gewesen. Nach dem Tod des Mädchens publizierte die Familie Fotos in der rechtsextremen Zeitschrift „Zuerst. Das deutsche Nachrichtenmagazin“ und präsentierten sich und ihre damaligen Kinder Theodorich, Heinrich, Sighild und Ingrun als heile Familie, die ein Schicksalsschlag ereilt habe. Nur dass es sich um einen selbstgemachten und von der völkischen Ideologie begründeten Schicksalsschlag handelt, wenn man einmal hinsieht.
Was hat die völkische Ideologie damit zu tun?
Baldur und Antje Renate B. gehören zu einer Gruppe völkischer Rechter, die sich die Altmark in Sachsen-Anhalt für ihr Siedlungsprojekt ausgesucht haben. Antje Renate B. stammt aus einer Familie, die in der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubensgemeinschaft“ aktiv ist – eine „Arier-Sekte“, bis zu dessen Tod geleitet vom rechtsextremen Anwalt Jürgen Rieger, die zum Ziel hatte, möglichst „reinrassige Deutsche“ zu produzieren. Unter anderem sollten die Angehörigen der „Artgemeinschaft“ dazu nur untereinander heiraten und möglichst viele Kinder in die Welt setzen – um eben die „Art“ zu erhalten. Rassismus und Hass auf alles Fremde gehört genauso zur Ideologie wie ein umfassender Antisemitismus und ein Misstrauen gegen die als „jüdisch“ assoziierte moderne Welt. Anhänger_innen der völkischen Ideologie schließen sich deshalb heute gern zu Siedlungsgruppen zusammen, die auf dem Land, fernab von Großstädten und Gegenwehr, ihre Ideologie zu leben versuchen, die noch original aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt. Nach außen erscheinen sie als Aussteiger_innen, engagiert in der ökologischen Landwirtschaft, als Familienmenschen mit ihren vielen Kindern und ihrem Zusammenhalt in der Siedlungsgemeinschaft: Veschroben vielleicht, aber harmlos. Für Sighild waren sie es nicht.
Im „Artbekenntnis“ auf der Website der „Artgemeinschaft“ heißt es: „Schmerz und Leid weisen uns auf Gefahren hin und sollen Abwehrkräfte von Körper und Geist wecken. Sie bewirken Erschütterung, aber auch Gesundung. Wir bekennen uns zu Schmerz und Leid als naturgegebenen Kräften und sehen sie nicht als Strafe irgendeiner überirdischen Macht. Ohne den Tod des Einzelwesens sind die Arten nicht lebens- und entwicklungsfähig. Wir bekennen, daß der einzelmenschliche Tod nicht Strafe oder Erlösung aus einem angeblichen irdischen Jammertal, sondern Voraussetzung für das künftige Gedeihen unserer Art ist.“ Wer an so etwas glaubt beziehungsweise mit solchen Grundsätzen als Selbstverständlichkeit aufwächst, meint vielleicht auch, dass die Tochter gestorben ist, um die „Art“ damit weiterzubringen.
Doch es ist nicht so, dass dies bedeutete, kranken Kindern gar nicht helfen zu wollen. Nur wird die Schulmedizin – ebenso wie andere Erscheinungsformen modernen Lebens – von völkischen Familien abgelehnt. Vater Baldur B. stammt ebenfalls aus einer völkisch-rechtsextremen Familie, durchlief eine „klassische“ Karriere von Kindern aus diesen Zusammenhängen mit Stationen in der „Wiking-Jugend“, bei der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ und beim „Sturmvogel“. Alle diese waren – bis zu ihren Verboten – Vereinigungen völkischer und rechtsextremer Familien, in denen Kinder die menschenfeindliche Ideologie lernen und ihren Körper stählen sollten. Aus diesen Zusammenhängen sind zahlreiche gegen das Wohlergehen von Kindern gerichtete „Abhärtungs“-Maßnahmen dokumentiert, wie etwa stundenlanges Wacheschieben oder Marschieren im Winter ohne Strümpfe. Bei manchen rechtsextremen Eltern führen diese Erfahrungen zu Denkprozessen, wenn ihre Kinder der „Norm“ nicht entsprechen – Tanja Privenau etwa stieg aus der rechtsextremen Szene aus, nachdem sie die permanente Abwertung ihres behinderten ältesten Sohns erlebte.
Neue Germanische Medizin
Bei Familie B. war das offenkundig nicht so. Stattdessen kam die Mutter Antje Renate B. mit der in diesen Kreisen beliebten „Neuen Germanischen Medizin“ des ehemaligen Arztes Ryke Geerd Hamer in Kontakt. Die zeichnet sich nicht nur durch einen schulmedizin-fernen, esoterisch-sektenartigen „Behandlungs“-Ansatz aus, der ohne Medikamente auszukommen versucht, sondern begründet den auch noch mit massivem Antisemitismus, wenn er etwa sagte, die „dumme alte Schulmedizin“ sei „eigentlich eine jüdische Medizin“, erfunden von „Talmud-Zionisten“, um „alle Nichtjuden umbringen zu wollen“. „Jüdische Logen“ verhinderten denn auch, dass seine medizinischen „Erkenntnisse“ anerkannt würden.
Auch zum Tod der kleinen Sighild hat er auf einer Internetseite zur „Germanischen Heilkunde“ eine „interessante“ Theorie veröffentlicht. Sighilds Tod sei eine „vorsätzliche Logen-Tötung mit Hilfe eines Todes-Chips“ gewesen. Dies bezieht sich auf eine weitere Theorie Hamers, durch die Kanülen bei der Chemotherapien würden Mikrochips eingepflanzt, die mit „Giftkammern“ versehen seien, die per Satellit ausgelöst werden könnten, um Patienten gezielt zu töten. Deshalb bekämen Juden in Deutschland auch keine Chemotherapie – die wüssten ja Bescheid. Wie müssen Eltern die Welt sehen, wenn sie so etwas glauben?
1986 wurde Hamer die Approbation entzogen, in Deutschland und Österreich liegen Haftbefehle gegen ihn vor, er lebt in Norwegen. Laut Medizinjournalistin Krista Federspiel sind bisher schätzungsweise 500 Patienten gestorben, weil sie an die „Germanische Neue Medizin“ glaubten. Nun dürfen Erwachsene dies mit ihrem Leben tun, alternative Heilmethoden als wichtiger ansehen als ihr Leben. Die Mutter von Baldur B. erkrankte selbst an Krebs, lies sich entsprechend ihrer Ideologie nicht behandeln, lehnte eine Chemotherapie ab und starb. Doch wenn Eltern das ihren Kindern antun, kann das Jugendamt einspringen, den Eltern das Sorgerecht entziehen. Bei Sighild B. ist das nicht passiert. Zwar hatten Ärzte des Klinikums Braunschweig, wo Sighilds Diabetes 2007 erkannt wurde, eine Meldung an das zuständige Jugendamt gemacht – weil die Eltern den Eindruck machten, dass Kind mit einer Rohkost-Therapie statt mit Insulin behandeln zu wollen. Doch durch einen Umzug von Niedersachsen nach Sachsen-Anhalt gelang es den Eltern offenkundig, sich der Beobachtung durch das Jugendamt zu entziehen.
Tödliche Ideologie
Nur Baldur und Antje Renate B. wissen, ob sie gedacht haben, sie täten das Beste für ihr Kind. Ob sie der Meinung waren, es müsse am Leiden wachsen, und dann den Überblick verloren, wann das Leiden tödlich wurde. Oder ob sie es darauf ankommen ließen, dass das Kind verstarb, weil es aus eigener Kraft nicht heilen „wollte“ und somit offenbar den ideologischen Ansprächen des Umfeldes der Eltern nicht entsprach. Tatsache ist, dass die Eltern viel (mehr) Energie darauf verwendet haben, ihre Tochter und ihre Familie anderer Meinungen zu entziehen – sogar bis zum Umzug der ganzen Familie. Auch gelang es ihnen durch Lügen und Weigerungen, die Tochter, obwohl ihre schwere Krankheit bekannt war, vollkommen ärztlicher Kontrolle zu entziehen. Eine Zeugin, Anne F., eine Mit-Siedlerin der Familie B. aus dem Umfeld der „Armanen“, erzählt vor Gericht, Sighild seine „Euthanasie-mäßig“ die Medikamente verweigert worden. Im Nationalsozialismus wurden mit der Begründung der „Rassenhygiene“ körperlich und geistig behinderte Menschen ermordet.
Sighild ist nun auf der „Ahnenstätte Hilligenloh“ begraben, neben ihrem Urgroßvater. Der Friedhof wird vom rassistischen „Bund für Gotterkenntnis – Ludendorffer“ betrieben. Ihre fünf Geschwister leben mit den Eltern in der Altmark bei Stendal. Auch sie sind nicht geimpft und werden nicht von einem Arzt betreut. In der Region wird aktuell diskutiert, wie mit den völkischen Siedler_innen im Alltag umgegangen werden sollte. Vor Ort gibt es viele Stimmen, die die rechtsextremen Familien integrieren wollen, um sie so von ihrer Ideologie abzubringen. Der Prozess in Hannover wirft ein Schlaglicht darauf, dass dies kaum realistisch erscheint bei Menschen, die bereits in einer rechtsextremen Familie aufgewachsen sind und die Ideologie so sehr in sich aufgenommen haben, dass sie ihr sogar das eigene Kind opfern.
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