Heute wird eine Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung auf der Titelseite der BILD-Zeitung angegriffen. Schade dabei: An den Vorwürfen ist nichts richtig.
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Gegendarstellung: Die Amadeu Antonio Stiftung ruft nicht zum Beschnüffeln von Eltern auf

Die Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung hat eine Handreichung herausgebracht, deren Inhalte Sie bereits in den letzten Tagen auf Belltower.News lesen konnten: „Ene, mene, muh – und raus bist du! Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik“. Es geht um Ideen für den Umgang mit Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und Rassismus im Kita-Kontext. Drei Monate später haben rechtspopulistische Blogs das Thema entdeckt, und echauffierten sich so lange über das Thema, bis es auch rechtskonservative Kreise erreichte und es schließlich bis in die BILD-Zeitung schaffte. Es ist nun Zeit, offenen Fragen zu beantworten.

 

Von Simone Rafael

 

Was steht in der Broschüre?

Es geht um Fallanalysen aus dem Bereich Kita-Arbeit, die Pädagog*innen, Träger oder Eltern vor Fragen stellen: Was tun, wenn bekannt wird, dass eine Kita-Erzieherin in der organisierten rechtsextremen Szene aktiv ist? Was tun, wenn ein Kind in der Kita Hakenkreuze zeichnet und sagt, zu Hause sei dies etwas Gutes? Wie damit umgehen, wenn Erzieher*innen oder Eltern flüchtlingsfeindliche oder rassistische Aussagen in der Kita vor Kindern treffen, geflüchtete Kinder oder Eltern direkt angreifen oder subtil ausgrenzen wollen? Wie lässt sich argumentieren, wenn Eltern sich darüber empören, wenn Beispiele von Familienvielfalt in der Kita thematisiert werden? Erläutert werden Gegenstrategien, die für alle Kinder in der Kita Vielfalt erlebbar machen: Demokratiepädagogik, vorurteilsbewusste und anti-rassistische Erziehung. Es geht darum, so formuliert es Professor Stephan Höyng im Interview: „Kindern Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen.“

 

Warum empört das Rechtsextreme und Rechtspopulist*innen?

Weil sie für Vielfalt und Demokratie nicht viel übrighaben, weil sie Rassismus propagieren wollen, statt ihm entgegen zu treten, und in geschlechtlicher Vielfalt ein Übel sehen, dass gegen heterosexuelle Familien gerichtet ist, statt ein Chance für ein glückliches Aufwachsen von Kinder, die selbst oder deren Familien nicht dem klassischen Familienbild entsprechen.

 

Aber im Internet steht etwas völlig Anderes?

Rechte Blogs arbeiten sich seit Oktober 2018 an der Broschüre ab. Ihre Methoden: Lügen, gezielte Missinterpretationen verkürzter Zitate, Einbettung in bei Rechten beliebten Hasserzählungen über die Amadeu Antonio Stiftung und ihre Vorsitzende Anetta Kahane, etwa:  

  • 19.10.2018, rechtsextremer Blog „Philosophia Perennis“, Autor David Berger: „Kitas: Drohende Kinderdressur durch Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung“
  • 20.10.2018, rechtspopulistischer Blog „Journalistenwatch“: „Amadeu Antonio Stiftung vergreift sich an Kinderseelen“
  • 20.10.2018, rechtsextremer Blog „Halle-Leaks“, Autor Sven Liebig: „Der lange Arm der Stasi: Kahane-Stiftung will Kinder in Kitas dressieren“.

Die AfD interessierte sich dann auch für das Thema:

  • So kommentiert etwa der AfD-Hardliner-Richter Jens Meier: „Früh übt sich. Kahane-Stiftung bekämpft Rechtspopulisten jetzt in Kitas“.
  • Und ein zweiter AfD-Jurist und Hardliner, Stephan Brandner, assistiert: „Bundesregierung fördert linksradikale Agitation in Kindergärten - das ist politischer Kindermissbrauch und untragbar!“ #KrampfgegenRechts #AAS #IDZ #Kahane #AfD #nurnochAfD -> er sagt also, Einsatz für Demokratie und gegen Ausgrenzung ist "linksradikale Agitation".

Die neurechte „Junge Freiheit“ titelt dann am 2. November: „Wenn das Mädchen Zöpfe trägt“ (Autor: Fabian Schmidt-Ahmad).

Dann kommt die Erzählung über die Empörungskolumne von Gunnar Schupelius in der B.Z. (26.11.), Cicero (28.11.), schließlich in der BILD auf der Titelseite an (29.11.2018, Autoren: Ralf Schuler und Florian Kain).

 

Am BILD-Text wollen wir die Falscherzählungen exemplarisch auseinandernehmen:

 

BILD: „Um rechte Eltern aufzuspüren: Schnüffel-Fibel für Kita-Erzieher“.

Geht es in der Broschüre darum, rechte Eltern aufzuspüren? Nein, es geht um Fallbeispiele aus der Kita-Praxis, in denen Eltern oder Erzieher*innen selbst aktiv (!) durch rechtsextremes oder rassistisches Verhalten auffallen – und den Umgang damit.
 

Geht es darum, den Kindern oder Eltern politisch hinterher zu schnüffeln?

Nein, wie gesagt, es geht es geht um Fallbeispiele aus der Kita-Praxis, in denen Eltern oder Erzieher*innen selbst aktiv durch rechtsextremes oder rassistisches Verhalten auffallen – und den Umgang damit.
 

BILD: „In der Broschüre […] wird an Fallbeispielen erklärt, wie man vermeintlich rechtslastige Elternhäuser erkennt.“

Nein, es wird nicht erklärt, wie man „rechtslastige Elternhäuser“ erkennt. Es geht um konkrete Fälle aktiven rechtsextremen und rassistischen Verhaltens. Es geht darum, darauf zu reagieren, wenn etwa Diskriminierungen in der Kita geäußert werden und z.B. Kinder rassistisch begründet ausgeschlossen werden.
 

BILD: „Kinder aus völkischen Elternhäusern“ erkenne man so: „Das Mädchen trägt Kleider und Zöpfe, es wir zu Haus zu Haus- und Handarbeiten angeleitet, der Junge wird stark körperlich gefordert.“

Steht in der Broschüre, dass alle Kinder aus völkischen Familien -  das sind rechtsextreme Anhänger der völkischen Siedlungsbewegung in der Tradition des Nationalsozialismus – dass also alle Kinder aus völkischen Familien so aussehen? Nein, es wird ein konkreter Fall beschrieben, in dem dies so ist. Wird gesagt, Kita-Erzieher*innen oder andere Eltern könnten an diesem Dingen erkennen, dass es eine rechtsextreme Familie ist? Nein, es wird lediglich beschrieben, dass in diesem konkreten Fall die traditionellen Rollenbilder auf diese Weise vermittelt werden. Sie sind dabei nicht das Problem – das ist die rechtsextreme Einstellung der Eltern, sondern nur eine Beschreibung.

Übrigens ist die Gegenstrategie, die empfohlen wird, die Eltern zu einem Gespräch einzuladen. Nicht, ihnen die Kinder wegzunehmen, nicht die beim Verfassungsschutz zu melden oder sie wegen Kindeswohlgefährdung anzuzeigen, sondern, sie zu einem Gespräch einzuladen.
 

BILD: „“Fall II.2: Eine Mutter macht sich Sorgen, weil Flüchtlingskinder in der Klasse [sic] der eigenen Kinder aufgenommen werden. Sie fürchtet, das Bildungsniveau könne sinken. In der Broschüre wird eine Aussprache mit dem Tenor empfohlen: „Diese Sorgen sind unbegründet. Das wisse man dank der Forschung der ‚Migrationspädagogik‘“.

Nun, da es immer noch um Kitas geht, sind es natürlich keine Klassen, sondern Kitagruppen. Und die Migrationspädagogik, die die BILD sicherheitshalber in Anführungsstrichte setzt, also wissenschaftliche Forschung zu den Folgen von Migration, kommt tatsächlich zu dem Schluss, dass eine Vielzahl von Erfahrungshintergründen die Kinder fördert statt schadet. Die Quelle hierzu ist angegeben: Paul Mecheril u.a.: Migrationspädagogik,.  Weinheim und Basel, Beltz-Verlag, 2010.
 

Also, noch einmal: Werden Mädchen mit Zöpfen als potenziell völkisch bezeichnet?

Nein, es geht um einen Fall, in dem ein Mädchen aus einer bekannten völkischen Familie so beschrieben wird. Nirgendwo werden Mädchen mit Zöpfen unter Rechtsextremismus-Verdacht gestellt.

 

Wird dazu aufgerufen, dass „auffällige“ Eltern umerzogen werden sollen?

Nein, es wird empfohlen, das Gespräch mit Eltern zu suchen, wenn durch sie oder ihre Kinder diskriminierende und demokratiefeindliche Handlungen und Äußerungen passieren.

 

Fazit:

Durch gezielte Auslassungen, falsche Zitierungen und gewollte Missinterpretationen haben rechte „Alternativmedien“ den Eindruck erweckt, eine Broschüre zum Umgang mit konkreten Fällen von Rassismus und Rechtsextremismus wolle dazu anregen, die politische Einstellung der Eltern zu erfassen und zu kontrollieren. Dass dies von Massenmedien in Form der „BILD“-Zeitung und von einigen Politiker*innen ungeprüft übernommen wird, dass Aussagen getroffen werden, offenkundig ohne sich mit der Broschüre auseinandergesetzt zu haben, ist ärgerlich – und noch eine wohlwollende Interpretation.

 

 

Hier der Verlauf der Kampagne via Twitter: 

 

Wenn der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner die Handreichung als “übelsten politischen Kindesmissbrauch” bezeichnet, ist das nicht nur geschmacklos, sondern verharmlost auch Missbrauch. Brandner stellte bereits eine kleine Anfrage zur Broschüre im Bundestag. Quelle Screenshot

Kleinere AfD-Verbände sprangen auf den Diffamierungs-Zug mit auf. Quelle Screenshot

 

Auch Roland Tichy beteiligt sich an der Verbreitung der falschen Informationen. Quelle Screenshot

Auf David Bergers Blog „Philosophia Perennis“ kommt ein Professor Henning Zoz zu Wort, der gleich ein Verbot der Amadeu Antonio Stiftung fordern. Ein neutraler Akteur ist Prof. Zoz allerding nicht, er sitzt im Kuratorium der AfD nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung. Getwittert am 29.11.2018 um 00:01 Uhr. Quelle Screenshot

Und auch der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier vom völkischen Flügel hat nachts ein passendes Sharepic parat. Quelle Screenshot

 

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag beteiligt sich auch die CDU/CSU-Fraktion an der Debatte. Die CDU-Bundestagsabgeordnete Nadine Schön aus dem Saarland verlangt, dass die Broschüre eingestampft werden sollte. Auch sie konzentriert sich in einer Stellungnahme beinahe ausschließlich auf das Beispiel mit den Zöpfen. Die Stellungnahme wird vom Twitter-Account der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag geteilt. Quelle Screenshot

 

Dass sich nun die CDU/CSU in die Debatte einmischt, freut den Online-Chef der rechtspopulistischen Zeitung „Junge Freiheit“. Quelle Screenshot

 

Nicht verwunderlich: Beatrix von Storch, die vor rund drei Jahren meinte, die Polizei solle an der Grenze auch auf Kinder schießen, möchte, dass nicht nur die Broschüre verschwindet, sondern gleich die ganze Stiftung.  Quelle Screenshot

 

 

Die Broschüre „Ene, mene, muh – und raus bist du! Ungleichwertigkeit und frühkindliche Pädagogik“ als PDF zum Download hier!

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