Liebe und Frieden und so: Bei #wirsindmehr zeigten die jugendlichen Teilnehmer*innen, dass die Kids in Deutschland alright sind. Das Empowerment muss für den beschwerlichen Demokratiearbeitsalltag in Sachsen halten.
BTN/KA

65.000 Menschen zeigen in Chemnitz: Wir sind viel mehr

Auch wenn Rechtsextreme ständig behaupten sie seien das Volk, bewiesen am Montagabend Zehntausende, dass wir immer noch in der deutlichen Überzahl sind. Der Abend hat aber auch gezeigt, wie schwierig die Situation in Chemnitz ist.

 

Von Kira Ayyadi

 

Über eine Woche ist es nun her, dass Daniel H. in der Innenstadt von Chemnitz erstochen wurde und Rechtsextreme dies zum Anlass nahmen um Jagd auf Migrant*innen zu machen und ein rechtsextremes Bündnis mehrere Tausend Menschen auf die Straße brachte, die Nazi-Parolen grölend durch die Stadt zogen. Chemnitz ist derzeit in einer Art Ausnahmezustand. Viele Bürger*innen sind verunsichert und wissen nicht, was sie glauben sollen. In einer Art Schockstarre wissen sie nicht, was gerade mit ihrer Stadt passiert. Auf den Straßen beäugen sich die Passant*innen kritisch.

Wenn man den braunen Mob in den vergangenen Tagen beobachtet hat, kann man es tatsächlich  mit der Angst zu tun bekommen. Auch wegen des Aufwindes, in dem sich unterschiedliche rechtsextreme Szenen wähnen. Umso toller war das Zeichen, dass Künstler*innen und viele, besonders junge Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet gestern in Chemnitz gesetzt haben. Auf dem Gratis-Konzert #wirsindmehr traten Trettmann, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., Nura von SXTN, Marteria, Casper,  Die Toten Hosen und die Organisatoren, die Chemnitzer Band, Kraftklub, auf. Laut offizieller Schätzung nahmen 65.000 Menschen an dem Konzert teil und bewiesen damit, dass wir, die demokratische Zivilgesellschaft, mehr sind – viel mehr.

Und so riefen Zehntausende am Montagabend gemeinsam „Wir sind mehr“, „Alerta, Alerta, Anifascista“, oder schrien den Neonazis gemeinsam mit Campino und Rod von Die Ärzte ein „Arschloch“ entgegen. Das waren bewegende Momente, die Mut machen, besonders denen, die in Chemnitz und ganz Sachsen in ihrem alltäglichen Leben ständig dem rechtsextremen Mob widersprechen.

Nach der erfolgreichen Raumeinnahme der Rechtsextremen in den vergangenen Tagen in Chemnitz, in der es zu Angriffen auf Gegendemonstrant*innen, Journalist*innen und Migrant*innen kam, wurden die Straßen der sächsischen Stadt nun wieder von Demokrat*innen zurückerobert und besetzt. AfD und Co. wissen um die Macht der Bilder und versurchen, ihren angeblichen „Trauermarsch“ sozialmedienwirksam zu inszenieren. Doch die Bilder, die gestern aus Chemnitz ausgingen, sind stärker.

 

Was bleibt für Chemnitz?

 

Im Vorfeld des Konzerts gab es einige kritische Stimmen, die von „Party-Protesten“ unpolitischer Menschen gesprochen haben. Schließlich könnten die Menschen, die extra angereist waren, am Abend wieder Heim fahren. Engagierte Chemnitzer*innen bleiben jedoch hier. Daher ist es umso wichtiger, diese Menschen, Initiativen und Projekte nicht nur kurzfristig zu unterstützen, sondern auch langfristig. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Menschen durch die Dynamik während und am Rande des Konzerts politisiert werden und beginnen, sich zu engagieren.

Die Wut auf Rechtsextreme und auf das, was sie in Chemnitz getan haben, war am Montag an jeder Ecke in der Innenstadt zu spüren. Und so kam es auch zu einer recht skurrilen Szene nach Ende des Konzerts: Mehrere Konzertbesucher*innen versammelten sich am Rande der Stelle, an der Daniel H. ermordet wurde. Sie gingen davon aus, dass alle dort Trauernden Nazis seien. Die Stimmung war sehr gereizt. Die Polizei musste anrücken und forderte die Anti-Faschist*innen auf, sich zu entfernen.  Menschen, die die Situation in Chemnitz seit Tagen beobachtet haben, konnten die Protestierenden schließlich davon überzeugen, dass dieser Protest hier nicht angemessen sei. Wir können niemandem ins Herz schauen und wissen nicht, ob jemand aufrichtig trauert. Doch die Angehörigen und Freunde von Daniel haben ein Recht, an dieser Stelle zu trauern. Und so saßen gestern neben einigen offensichtlichen Rechtsextremen auch gute Freunde von Daniel und seine Lebensgefährtin um das Blumenmeer. Freunde von Daniel, mit denen wir an  diesem Abend gesprochen haben, sagten uns, dass sie sich gegen jede Instrumentalisierung dieses tragischen Todesfalls wehren. Die derzeitige Situation mache es ihnen unmöglich, angemessen zu trauern.

Der Gedenkort am Abend

Die Aufarbeitung der Ereignisse der vergangenen Tage in Chemnitz beginnt erst und sie wird lange dauern. Der Montag hat uns und all den verunsicherten Chemnitzer*innen gezeigt, dass wir als demokratische Zivilgesellschaft viel mehr sind. Hier wurde niemand verfolgt, nur weil er nicht ins eigene Weltbild passt – es blieb friedlich. Hoffen wir, dass diese Bilder auch die Menschen überzeugt, die bisher verunsichert waren, wie sie sich positionieren sollen und dass in Chemnitz bald wieder so etwas wie Ruhe einkehrt.

 

 

Mehr zu Chemnitz auf Belltower.News:

drucken