Die Erinnerung darf nicht enden
Titelbild: Flickr / Martina Güll / CC BY-ND 2.0

9. November: Wir müssen uns erinnern, auch wenn das schwer zu ertragen ist

Am 9. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen und Jüdinnen und Juden wurden erschlagen. Man mag das nicht hören, niemand will sich vorstellen, wie es war, wie es roch, wie sich die Schreie anhörten. Doch manchmal müssen wir das tun, meint Anetta Kahane.

 

Historisch gesehen sind 80 Jahre eine kurze Zeit. Doch manche Ereignisse, auch wenn sie 80 Jahre zurückliegen, prägen die Gegenwart mehr als das Glück von vorgestern. Als der November 1938 begann, waren die Jüdinnen und Juden in Deutschland bereits entrechtet und wurden systematisch schikaniert. Jeden einzelnen Schritt zu ihrer Enthumanisierung haben die Nationalsozialisten öffentlich kundgetan. Und die ihnen zujubelnde Bevölkerung nahm es zur Kenntnis. Mal erfreut, mal gleichgültig. Ganz selten entsetzt. Viel war den Novemberpogromen also schon vorausgegangen. Sie hatten sich gewissermaßen herangeschlichen. Schritt für Schritt, Hetze für Hetze, Gewalttat für Gewalttat. So waren dann die Nächte, in denen Jüdinnen und Juden und jüdische Einrichtungen konzertiert angegriffen wurden, eigentlich keine Überraschung. Sondern nur ein erster Höhepunkt. Victor Klemperer sagte über die Ereignisse um den 9. November, er hätte von einem Freund "gehört, dass man die Nacht zuvor spontan die hiesige Synagoge niedergebrannt u. jüdische Fensterscheiben eingeschlagen habe. Ich brauche die historischen Ereignisse der nächsten Tage, die Gewaltmassnahmen, unsere Depression nicht zu schildern. Nur das Engpersönliche und conkret Tatsächliche" (Victor Klemperer: Die Tagebücher, S. 1155). Er wusste gleich, dass diese Nächte historisch genannt werden würden, nicht jedoch, wie weit die Eskalation gehen und wie viele Tote sie kosten würde.

Am 9. November vor neuem Antisemitismus zu warnen klingt wie ein Klischee, wie die hohle Ansage politischer Routine. Selbst mit allerbester Absicht ist es schwer, am 9. November der Ereignisse zu gedenken, die als Konsequenz zur Folge hatten, sich der schlimmsten Grausamkeiten der modernen Geschichte gegenwärtig zu werden. Am 9. November brannten Synagogen, und es wurden Jüdinnen und Juden erschlagen. Nicht wenige, nicht viele, gerade so viele, dass daraus am Ende Berge von Leichen wurden. Die Nazis erschossen, erschlugen und vergasten Millionen von Menschen. Sie verbrannten sie mitunter auch. Darunter kleine Kinder und Babys, mit Benzin übergossen und angezündet - vor den Augen ihrer Mütter. In die Luft geworfen und zum Zielschießen freigegeben - unter dem Gelächter ihrer Kameraden. Man mag das nicht hören, niemand will sich vorstellen, wie es war, wie es roch, wie sich die Schreie anhörten. Doch manchmal müssen wir das tun.

Nichts ist damit vergleichbar. Und nichts, was heute geschieht, kommt dem im Entferntesten nah. Darüber sollten wir froh sein. Ernsthaft und wirklich. Dennoch müssen wir uns daran erinnern. Um der Erinnerung wegen. Um der Opfer wegen. Und weil wir sonst nicht im Ansatz verstehen, was wir zu verteidigen haben.

Und wir müssen doch auch an heute denken. Allein die Tatsache, dass es politische Gruppen gibt, die jene Verbrechen für einen Vogelschiss halten oder sonstige gedankliche Anleihen aus der Ideologie der Mörder*innen beziehen, muss ein Grund sein, sich Gedanken zu machen und zu handeln. Wer heute Menschen für minderwertig erklärt, sie als Dreck bezeichnet oder mit Tieren gleichsetzt, übt psychische Gewalt aus und bereitet den Boden für physische Gewalt. Und dieser Boden ist fruchtbar. Jeden Tag werden Menschen aus rassistischen Gründen angegriffen. Dies geschieht in einem gesellschaftlichen Klima, das von Entgrenzung und Enthemmung geprägt ist und Hass verbreitet. Wenn manche Politiker*innen diese Stimmung dann auch noch für ihre Zwecke missbrauchen oder gar genau darauf setzen, kann die Situation schnell gefährlich werden. Besonders für jene, die ohnehin ein leichtes Ziel rechtsextremer Attacken sind. Asylsuchende, Einwandernde oder einfach Menschen mit dunkler Hautfarbe. Besser, als den Täter*innen ständig mit Verständnis zu begegnen oder ihre Taten mit sozialem Unwohlsein zu rechtfertigen, wäre etwas Mitgefühl mit den Angegriffenen. Die Betroffenen brauchen unseren Schutz und unsere Empathie. Vor allem sie. Ursachenforschung kommt danach.

Diesen November ehren wir das Andenken derer, die 1938 ermordet wurden und, ja, warnen auch vor den Folgen von rassistischer Enthemmung. Deshalb stehen die Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus in diesem November ganz im Zeichen des 80. Jahrestags der Pogromnächte. Erinnern, verstehen, handeln. Das gilt auch für den Sächsischen Förderpreis für Demokratie, den wir mit vier weiteren Stiftungen wie jedes Jahr vergeben. Auch er ist der Ausdruck unseres Handelns heute zu Ehren der Toten von damals. Der Sächsische Förderpreis war noch nie so wichtig. Die bundesweiten Projekte gegen Antisemitismus und die in Sachsen brauchen eine klare Haltung. Wir sind sehr froh, dass es möglich ist, aus der Zivilgesellschaft heraus diese Form der aktiven Erinnerung mitzugestalten.

Die Zivilgesellschaft ist wichtig und braucht deshalb Ihre und unsere Unterstützung. Wenn sie genug Mittel sammelt, ist sie unabhängig. Sie sagt die Dinge direkt, sie kann, wenn es denn sein muss, dann auch allein handeln. Darauf müssen sich die Initiativen verlassen können und die Betroffenen. Die zivile Gesellschaft sind wir, die wir die Erinnerung wachhalten, auch wenn sie schwer zu ertragen ist.

 

Titelbild: Flickr / Martina Güll / CC BY-ND 2.0
 

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