Der Londoner Fußballklub Tottenham Hotspur spielt in der Europe League, die Fans reisen nach Rom, Lyon und Mailand und sind dabei in dieser Saison bereits häufiger Ziele gewalttätiger Angriffe mit antisemitischen Vorzeichen geworden. Dahinter steckt ein kompliziertes Identifikationsmuster, um das sich in England eine heftige Debatte entwickelt hat.
Von Klaus Katzenbach
Mehr als 100 Fans von Tottenham Hotspur befanden sich am Abend vor dem Europa League-Rückspiel ihrer Mannschaft in Lyon im Pub "Smoking Dog" im Altstadtviertel Saint-Jean, als das Lokal von etwa 50 Maskierten angegriffen wurde. Die Aggressoren warfen Gegenstände in die Fenster, darunter Stühle und Betonplatten. Zahlreiche Augenzeugen berichteten übereinstimmend, dass die Angreifer wiederholt den Hitlergruß gezeigt hätten. Die meisten der anwesenden Fußballfans zogen sich in die hinteren Räume der Bar zurück, die offenbar keinen Hinterausgang hatte. Dennoch schafften die Angreifer es nicht, sich Zugang zum Pub zu verschaffen (oder es war von vornherein gar nicht ihr Ziel), da einige Anhänger des Londoner Clubs Widerstand leisteten. Nach wenigen Minuten zogen sich die Maskierten zurück, kehrten aber nach einer Viertelstunde in kleinerer Anzahl zurück und starteten einen neuerlichen Angriff.
Der rechte Kontext
Anders als vor drei Monaten in Rom, als Spurs-Fans ebenfalls in einem Innenstadtlokal attackiert worden waren, hielten sich die Verletzungen diesmal in Grenzen. Drei Tottenham-Anhänger wurden in ein Krankenhaus gebracht, vier weitere ambulant behandelt. Diese Darstellung des Ablaufs der Ereignisse wird sowohl von diversen französischen und britischen Medien, als auch von Augenzeugen bestätigt. Was die Nachricht besonders beunruhigend macht, sind aber weniger die tatsächlichen Blessuren und Sachbeschädigungen als vielmehr der Kontext: Zum wiederholten Mal innerhalb weniger Monate wurden Spurs-Fans zum Ziel offensichtlich antisemitisch motivierter Übergriffe. Es gab drei Festnahmen nach den Angriffen von Lyon, einer der Inhaftierten gehört einer rechtsextremen Gruppierung an, die beiden anderen werden zum Fanumfeld von Olympique Lyonnais gezählt. Die Bewegung der sogenannten Identitären, eine Organisationsform der Neuen Rechten, hat eine starke Basis in den Altstadtvierteln rund um den angegriffenen Pub, wie der in Lyon ansässige Nachrichtensender Euronews berichtet. Überhaupt gilt Lyon als eine der Hochburgen der Rechtsextremen in Frankreich – darüber wurde auch in einer (vor dem jüngsten Vorfall aufgezeichneten) Podiumsdiskussion debattiert.
Insbesondere der Antisemitismus ist im Département Rhône weit verbreitet, wie der Jahresbericht des Service de Protection de la communauté Juive zeigt. Nach der Dokumentation dieser jüdischen Selbsthilfeorganisation wurden in keiner französischen Stadt 2012 mehr antisemitische Angriffe registriert als in Villeurbanne, einem Vorort von Lyon, nicht einmal im zwanzigmal größeren Paris. Auch wenn man diesen Hintergrund kennt, ist aber die Frage noch nicht beantwortet, warum die Rechtsradikalen und Hooligans sich ausgerechnet friedliche englische Fußballfans als Ziel ihres Angriffs aussuchten. Nicht bestreitbar ist wohl, dass die Ereignisse von Rom ein solches Vorgehen in den Augen der Antisemiten attraktiver gemacht haben.
"Yids" und "Joden"
Damals waren den physischen Übergriffen im Stadion antisemitische und rassistische Sprechchöre gefolgt ("Juden Tottenham" riefen Anhänger des Römer Clubs Lazio auf Deutsch). Auch einige Fans des Londoner Lokalrivalen West Ham United nutzten die Bühne des anschließenden Premier-League-Spiels gegen Tottenham Hotspur, um das Zischen von Gaskammern zu imitieren – eine Praxis, von der sich der Club aufs Schärfste distanzierte und die er mit lebenslangen Stadionverboten beantwortete. Warum aber ausgerechnet Tottenham Hotspur? Und warum häufen sich diese Vorfälle aktuell?
Die erste Frage lässt sich zumindest ansatzweise damit beantworten, dass die Spurs traditionell als "jüdischer Klub" wahrgenommen wurden – eine zunächst vor allem von gegnerischen Anhängern vorgenommene antisemitische Identfikation, deren faktischer Gehalt kaum eine Rolle spielte. Zwar hat der Nordlondoner Stadtteil Tottenham früher tatsächlich eine größere jüdische Community beherbergt, das galt und gilt jedoch für viele Quartiere der britischen Hauptstadt. Auch sind die Anhänger der Spurs mutmaßlich nicht in größerem Anteil jüdischen Glaubens als die des Lokalrivalen Arsenal, der ebenfalls im Norden Londons beheimatet ist, das "jüdische" Image aber nie trug. Als Reaktion auf antisemitische Schmähungen gegnerischer Fans entwickelte sich in jedem Fall die Selbstbezeichnung von Tottenham-Fans als "Yids" (oder "Yiddos", "Yid Army"), die wiederum Bezug nimmt auf herabwürdigende Schimpfwörter.
Diese Praxis der subversiven Wendung wurde seit den 1970er-Jahren auch zum Vorbild für Anhänger des Amsterdamer Klubs AFC Ajax, die ebenfalls regelmäßig Zielscheibe antisemitischer Schmähungen waren ("Jodenclub"). Dies im Übrigen wie im Fall der Spurs ebenfalls nur auf Basis recht vager Verbindungen – das Stadtviertel De Meer, in dem das alte Stadion des Klubs lag, hatte einen relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Den Brauch, bei Spielen israelische Fahnen aufzuhängen, übernahmen Ajax-Fans von Tottenham, wo das allerdings nur vereinzelt praktiziert worden war. Ihre sehr offensive Identifikation reicht von den Sprechchören "Joden! Joden!" über Davidsterntattoos bis zu Gesängen wie "Wer nicht hüpft, der ist kein Jude".
Schwierige Identifikation
Wie im Fall der Spurs wird das Phänomen auch in Amsterdam von einem großen Anteil nicht-jüdischer Fans praktiziert – und damit in eine komplexe, für Menschen jüdischen Glaubens nicht einfach zu navigierende Situation überführt. Sowohl Ajax wie auch Tottenham waren in der Vergangenheit bemüht, die Identifikation herunterzuspielen. Als Israels Nationalmannschaft in der Qualifikation zur Europameisterschaft 2004 ihre Heimspiele nicht im eigenen Land austragen durfte, weil die UEFA das aufgrund der Intifada sanktionierte, gab es die Überlegungen, die Spiele stattdessen im Spurs-Stadion White Hart Lane abzuhalten – ein Ansinnen, dem der Klub sich widersetzte. Ajax wiederum versuchte in jüngster Zeit, Fans davon abzuhalten, offensiv Bezug auf eine vermeintlich "jüdische" Identität zu nehmen, um Protesten jüdischer Niederländer nachzukommen.
Und die plötzliche Häufung antisemitischer Vorfälle rund um Tottenham-Spiele? Zumindest zeitlich folgten sie unmittelbar einer Initiative des Vorsitzenden der britischen Society of Black Lawyers, Peter Herbert, der Anfang November 2012 Tottenhams Fans ein "Ultimatum" von zwei Wochen Dauer stellte. Wer danach das Word "Yid" öffentlich benutzte, habe mit einer Strafanzeige von ihm zu rechnen. Herbert, der auf seiner Website unter anderem mehrere Fotos von sich mit Al Sharpton und Jesse Jackson präsentiert, zwei amerikanischen Politikern, die in der Vergangenheit mehrfach Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt waren, und der sich einst dafür einsetzte, dass Louis Farrakhan, der offen antisemitische Anführer der Nation of Islam, nach Großbritannien einreisen durfte, betonte, die Absicht der Verwendung des Wortes sei unerheblich. Selbst wenn jüdische Tottenham-Fans es verwendeten, werde er sie anzeigen.
Wessen Judentum?
Unterstützung erfuhr Peter Herbert vom Comedian David Baddiel. Baddiel, aktiver Chelsea-Fan, erläuterte der Daily Mail, dass er es als Kind jüdischer Eltern anstößig fände, wenn nicht-jüdische Spurs-Fans lauthals "Yid Army" sängen. Anders als in Fällen, in denen etwa African Americans das Schimpfwort "Nigger" als Selbstbezeichnung verwendeten, stellte Baddiel anschließend im Guardian klar, sei der Fall Tottenham keine Aneignung einer Diskriminierung, weil die meisten Spurs-Fans gar keine Juden seien. Die Aussagen Baddiels wurden ebenso wie die von Herbert breit kritisiert, zumal Baddiel die Verwendung des Begriffs "Yids" durch Tottenhams Fans als Ursache der antisemitischen Sprechchöre von Chelsea-Fans, die er selbst mitangehört hatte, ausmachte.
Ähnlich argumentierte Herbert nach den Angriffen von Rom, als er im Guardian kommentierte, der Antisemitismus der Lazio-Fans und Rechtsradikalen werde durch die "Yids"-Gesänge erst "legitimiert". Eine solche Argumentation ist strukturell zumindest nahe an der Auffassung, die potenziellen Opfer von Antisemitismus sollten sich möglichst unauffällig verhalten, um keine Angriffsfläche zu bieten. Mehrheitsfähig scheint sie in England auch nicht zu sein, die kritischen Kommentare überwogen eindeutig. Dazu gehörte auch der von Andrew Gold in der Huffington Post, er besuchte wie Baddiel als Kind einer jüdischen Familie Chelsea-Spiele, anders als der Comedian will er für den Antisemitismus der Chelsea-Fans aber nicht die Spurs-Fans verantwortlich machen. Im Gegenteil, aus ihm selbst wurde ein Anhänger von Tottenham Hotspur, mit der Begründung: "I am a proud British Jew and I will not be suppressed." Gold idealisiert seinen Klub als "unique as the outstanding multicultural, accepting club in Europe". Ähnlich äußerten sich auch andere Fans, wie Lee Taylor, der seine eigene biografische Entwicklung vom Skinhead zum besten Freund eines Schwarzen mit seinem Dasein als "Yid" identifiziert und den Ausdruck als Synonym für Toleranz und Offenheit verwendet.
Unabhängig davon, wie man die Aneignung der "Yid-Identität" bewertet – zu behaupten, sie sei erst der Anlass für die Angriffe von Rom und Lyon ist ebenso abwegig wie die Verschwörungstheorie mancher Tottenham-Fans, erst die Kritik von Herbert und Baddiel habe die Rechtsradikalen auf die Idee gebracht, Spurs-Anhänger zu attackieren. Die entsprechenden Debatten wurden und werden geführt, sie, wie hier geschehen, nachzuvollziehen, kann den Hintergrund aktueller Vorfälle wie den Angriff auf die Spurs-Fans in Lyon erhellen. Auf keinen Fall jedoch sollten sie den Blick auf das verstellen, worum es eigentlich geht. Antisemitismus – diese Grundauffassung ist nie überholt – lässt sich weder mit "den Juden" erklären noch mit den Menschen, die sich mit ihnen identifizieren, wie immer man das findet. Sondern mit den Antisemiten.
Textübernahme mit freundlicher Genehmigung von Publikative.org
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