"Kämpfen und Siegen" war die Kernaussage der Union-Choreografie. Zwar hatten sie in der Lautstärke danach nicht mehr viel zu bieten, die Mannschaft trug am Ende aber trotzdem 3 Punkte vom Feld.
Jan Tölva

1. FC Union Berlin vs. FC St. Pauli – Wo anderer Fußball möglich scheint

Vergangenen Freitag spielte der 1. FC Union gegen den FC St. Pauli in Köpenick. In der Alten Försterei trafen damit zwei Vereine aufeinander, die für mehr, als die Marke Fußball stehen. Der Ex-Hamburger Jan Tölva war für Fussball-gegen-Nazis.de vor Ort.

Von Jan Tölva

Spiele zwischen dem 1. FC Union Berlin und dem FC St. Pauli stellen die Polizei immer vor eine besondere Herausforderung. Einerseits fühlen sich nicht unwesentliche Teile des Anhangs beider Vereine durchaus miteinander verbunden, andererseits kommt es bei fast jedem Aufeinandertreffen auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen kleineren Gruppen auf beiden Seiten. Auch vergangen Freitag kam es bereits vor dem Anpfiff zu Reibereien in der Nähe des S-Bahnhofs Köpenick. Teils vermummte Anhänger_innen des FC St. Pauli sollen Fans des 1. FC Union verfolgt haben, woraufhin die Polizei 28 Gästefans vorübergehend festgenommen und für die Dauer des Spiels in die Stadionwache verbracht hat. Deren Wahrnehmung der Geschehnisse dürfte aber von jener der Polizei deutlich abweichen.

Wenig Interpretationsspielraum hingegen ließ das Verhalten eines Union-Fans, der nach Spielende mit seinem Mittelfingern winkend vor dem Gästeblock herumhüpfte und blökte, bis er unsanft vom Ordnungsdienst überwältigt wurde. Gegen ihn wurde Anzeige wegen Beleidigung gestellt, wie die Polizei mitteilte.

Protest der Pauli-Fans und Fannähe des Vereinspräsidenten

Die meisten Fans beider Vereine haben von den Auseinandersetzungen im Vorfeld wenig mitbekommen und so auch nicht verstanden, weshalb ein Großteil der Fangruppen vom FC St. Pauli noch vor Anpfiff ihre Zaunfahnen auf den Kopf drehten. Nicht zu übersehen hingegen waren die Probleme der BVG bei der Bewältigung der anreisenden Fanmassen. Weshalb offenbar weder bei der An- noch bei der Abreise Entlastungszüge eingesetzt worden sind, lässt sich für Außenstehende nur schwer nachvollziehen. So musste sich ein Großteil der 21.717 Zuschauer_innen am Nadelöhr Ostkreuz in eine der überfüllten S-Bahnen Richtung Erkner quetschen, nur um dann in Köpenick festzustellen, dass der dortige Bahnhof mit nur einem Ausgang eher Marke Flaschenhals ist.

Mit in einer der S-Bahnen angereist ist übrigens neben Mitgliedern der Hamburger Band Fettes Brot und Sportchef Thomas Meggle auch Oke Göttlich, der noch immer neue Präsident des FC St. Pauli. Göttlich eilt ja der Ruf einer gewissen Fannähe voraus. So nah wie in der S-Bahn Richtung Köpenick dürfte aber auch er dem Anhang des Kiezclubs nur selten kommen. Es passt jedoch ins Bild vom FC St. Pauli als Verein, bei dem tatsächlich einiges anders läuft. Immerhin stammt nicht nur Göttlich als Präsident, sondern auch Sandra Schwedler als neue Vorsitzende des Aufsichtsrats aus der aktiven Fanszene. In Zeiten der Kinds und Hopps und Kühnes eine erwähnenswerte Tatsache.

Anreise durch´s Nadelöhr. (Quelle: Jan Tölva)

Die Alte Försterei ist eins der schönsten Stadien

Doch nicht nur die Hamburger, auch der 1. FC Union gilt als Verein, bei dem die Uhren ein wenig anders gehen als anderswo. Sein Anhang gilt als bunt und leidensfähig. Auch das Stadion an der Alten Försterei, bei dessen Umbau zahlreiche Fans mit geholfen haben, gehört mit seiner Stehgeraden und seinem rustikalen Charme ohne Zweifel zu den schönsten im deutschen Profifußball. Der Gästeblock ist jedoch gewöhnungsbedürftig. Unten, hinterm Zaun, gibt es einige Reihen Sitzplätze, auf denen allerdings bei einem Spiel wie diesem keine_r sitzt, sondern alle stehen. Dahinter kommt eine Art Gang und darüber Stehränge. Wer jedoch in diesem Gang oder auf den ersten paar Stufen darüber steht, kann vom Spielfeld einen nicht unwesentlichen Teil – namentlich ein Tor samt halbem Strafraum – überhaupt nicht sehen. Wenn kleinere Fanszenen zu Gast sind, dürfte das zwar kein Problem sein, aber bei einem Verein wie dem FC St. Pauli, dessen Anhang selbst noch Teile der benachbarten Blöcke füllt, lässt sich das bautechnische Problem nicht von der Hand weisen.

Vielleicht jedoch hatte das im konkreten Fall auch etwas Gutes. Das einzige Tor des Abends nämlich, das Sebastian Polter in der 89. Minute für die Gastgeber_innen erzielte, dürften viele Fans des FC St. Pauli gar nicht so genau gesehen haben. Es war wohl auch besser so. Vorausgegangen war eine Szene, die mit dem Wort Pech nicht einmal halbwegs akkurat beschrieben werden kann. Abwehrchef Sören Gonther hatte einen handelsüblichen Rückpass zu Torwart Robin Himmelmann gespielt, der bis dahin wie immer in den letzten Spielen ein sicherer Rückhalt seines Teams war. Der wiederum legte sich den Ball ein Stück vor, um den Ball weit in die gegnerische Hälfte zu dreschen, was ihm wie all seinen Kolleg_innen in 999 von 1.000 Fällen auch gelingt. Auf dem Acker der Alten Försterei jedoch war offenbar just an der Stelle, wo der Ball sich befand, eine kleine Unebenheit. Der Ball hüpfte ein kleines Stück nach oben, Himmelmann trat ins Leere und fiel auf seinen Allerwertesten. Polter dagegen sprang der Ball fast direkt vor die Füße und er musste ihn nur noch einschieben. St. Paulis Trainer Ewald Lienen meinte nach dem Spiel: "Hätte er daneben geschossen, hätte ich ihm den Fairplay-Preis verliehen."

Pauli spielt aktuell gegen den Abstieg

Nach der Niederlage in Berlin rückt der Abstieg für den FC St. Pauli in greifbare Nähe. Was das für den Verein bedeuten würde – finanziell und überhaupt – lässt sich bis jetzt nur erahnen. Fest jedoch steht, dass wenn Kampfbereitschaft und Selbstaufopferung die einzigen Kriterien für den Klassenerhalt wären, die Hamburger niemals würden absteigen dürfen. Wo bei manch anderem Verein dem Torwart mit dem Abhacken wichtiger Körperteile gedroht worden wäre, erging sich bei St. Pauli der Gästeblock nahezu unisono in „Himmelmann“-Rufen, und überhaupt war der Auftritt des Gästeanhangs mehr als hörenswert. Während bei Union die Mitmachquote bis zum späten Tor, erschreckend niedrig war. Da konnten sich die Ultras auf der Waldseite, die zu Spielbeginn eine nicht eben kreative, aber doch schön gemachte und vor allem riesige Choreo gezeigt hatte, noch so sehr anstrengen. St. Pauli hingegen war so laut, dass in den Fernsehbildern, die später am Abend über die Bildschirme flimmerten, oft nur sie zu hören waren. Umso schmerzhafter fühlt sich da die Erkenntnis an, dass auch das nichts hilft, wenn vorne niemand ein Tor schießt.

FC Union spricht die Sprache seiner Fans – besser als der DFB

Fußball kann so grausam sein. Er kann aber auch Großes bewirken. Das zeigen gerade Vereine wie St. Pauli und Union. Sicher, das Banner zum Integrationsspieltag war auch eine schöne Geste, wobei sie wohl noch schöner gewesen wäre, wenn das Banner nicht nur in Richtung auf Haupttribüne und Fernsehkameras, sondern auch in Richtung des Großteils der anwesenden Fans gezeigt worden wäre. Die wirkliche Arbeit aber passiert ohnehin anderswo im Alltag. So ist es von seiner Bedeutung her kaum zu überschätzen, wenn ein Verein wie der 1. FC Union sich öffentlichkeitswirksam für die Belange von Geflüchteten einsetzt. Immerhin war Köpenick einer der frühen Schwerpunkte rassistischer Proteste gegen die Unterbringung von Asylsuchenden. Wenn dann ein Fußballverein, der für den Stadtteil steht wie sonst nichts und niemand sonst, klar Stellung bezieht, ist das mehr als nur ein Zeichen guten Willens. Es ist ein aktiver Eingriff in den lokalen öffentlichen Diskurs, und es dürfte weit besser geeignet sein, die Menschen zum Nachdenken zu anzuregen, als jede noch so schöne Rede von Politiker_innen oder von gut bezahlten Werber_innen entwickelte Kampagnen, die richtigen Menschen erreichen. Genau das nämlich ist es, was der 1. FC Union kann wie kaum ein zweiter Verein. Er spricht die Sprache seiner Fans und der wiederum fühlt sich von ihm verstanden.

Essen am Spielfeldrand: in Köpenick nichts für Vegetarier_innen. (Quelle: Jan Tölva)

Moderner Fußball? Nicht nur in Leipzig

Union und St. Pauli stehen beide, wenn auch auf leicht unterschiedliche Weise, für die Hoffnung, im erfolgreichen Profifußball nicht alles aufgeben zu müssen. Während bei der Hertha ein Private-Equiety-Unternehmen eingestiegen ist und der Hamburger SV sich Milliardär Klaus-Michael Kühne andient, während Dietmar Hopp die TSG Hoffenheim übernimmt und Martin Kind in zwei Jahren aller Voraussicht nach Hannover 96 übernehmen wird, während Borussia Dortmund schon lange ein börsennotiertes Unternehmen ist und RB Leipzig die Grenzen des auch nur Denkbaren in Sachen Kommerzialisierung neu auslotet, setzen St. Pauli und Union auf Fannähe und Glaubwürdigkeit als Markenkern. Sicher, beide Vereine müssen sich vermarkten und machen das auch. Doch ist es beiden Vereinen unter kräftiger Mithilfe ihrer Fans gelungen, sich so aufzustellen, dass ihr Name für weit mehr steht als nur für Fußball und vielleicht noch ein wenig Lokalkolorit. Wer Fan des FC St. Pauli oder des 1. FC Union ist, verbindet damit eine Haltung, die zwar nicht immer leicht in Worte zu kleiden ist, die aber immer etwas mit einer grundsätzlichen Opposition gegen das Establishment zu tun hat.

Es wäre daher mehr als schade, wenn auch nur einer der beiden Vereine aus den oberen beiden Ligen verschwinden würde. Der Fußball braucht solche Gegenentwürfe, die aufzeigen, dass die Öffnung für Investor_innen und die bedingungslose Unterordnung unter Vermarktungsinteressen nicht alternativlos sind. Für derlei Gedanken dürfte in den Köpfen derjenigen, die nach dem Spiel per Bus oder Sonderzug zurück nach Hamburg fuhren, allerdings wenig Platz gewesen sein. Dafür saß der Schmerz wohl noch zu tief. „Einfach mal die Klasse halten“, hatte der Verein vor ein paar Wochen als Losung ausgegeben. Dass mit dem „einfach“ dürfte sich erledigt haben.

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