Volksverhetzungsparagraph - Welche Folgen hat das Urteil des Verfassungsgerichtes?

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Verherrlichung des NS-Regimes strafbar bleibt. Damit unterlag der verstorbene NPD-Funktionär Rieger mit seiner Beschwerde. Welche Folgen hat das?

Von Frank Jansen und Jost Müller-Neuhof

Als der Bundestag Ende der fünfziger Jahre über die Strafbarkeit der Volksverhetzung diskutierte, war der gerade erst durchlittene Schrecken der Naziherrschaft einer der Gründe, von gezielten Anti-Nazi-Paragrafen Abstand zu nehmen. Sonder- und Einzelgesetze, Regeln, die sich gegen konkrete Meinungen, Religionen oder Weltanschauungen richteten oder sie besonders privilegierten, sie sollten besser nicht in die junge Bundesrepublik überführt werden, sie waren Sache des überwundenen Regimes. Aber irgendetwas tun wollte man schon gegen die Welle antisemitischer Delikte, gegen Hetzschriften und Pamphlete, mit denen Stimmung gegen Juden gemacht wurde. Also einigte man sich darauf, die Diskriminierung von Minderheiten als Volksverhetzung in Paragraf 130 des Strafgesetzbuches zu bestrafen.

Wie wird heute bestraft?

50 Jahre und so manche Verschärfung später steht fest: Die Volksverhetzung ist und bleibt ein Tatbestand, der die Juden und das Andenken an die Opfer des Naziterrors schützen soll – und sich auch gezielt gegen Nazimeinungen richten darf, wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag geurteilt hat.

Je weiter die Taten in die Vergangenheit rückten, desto schärfer wurde bestraft, wer die historische Wahrheit verzerrte. Zunächst waren Holocaust-Leugner dran, ab 2005 dann auch Neonazis, die sich zu „Gedenkmärschen“ wie für Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß in Wunsiedel trafen. Immer standen die neuen Tatbestände mit der im Grundgesetz weithin geschützten Meinungsfreiheit in Konflikt. Denn an Hitler oder Heß Gutes zu finden steht prinzipiell auch unter dem Schutz des Grundrechts. Dennoch: Seit 2005 wird gemäß Paragraf 130 Absatz vier „mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“. Demonstrationen, bei denen solche Taten zu befürchten sind, können die Behörden seitdem verbieten.

Wie ist das Urteil begründet?

Das Bundesverfassungsgericht hat sich sein Urteil vielleicht im Ergebnis, nicht aber in der juristischen Herleitung leicht gemacht. Anders als etwa die Bundesregierung oder das Bundesverwaltungsgericht sehen die Richter Paragraf 130 Absatz vier nicht als „allgemeines Gesetz“, wie es auch nach dem Wortlaut des Grundgesetzes die Meinungsfreiheit einschränken kann. Sinn der Sache ist, konkrete Meinungsverbote von vornherein auszuschließen.

Die Verfassungsrichter sehen jetzt jedoch eine „Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts“, wie sie schreiben. Angesichts des Unrechts und des Schreckens der nationalsozialistischen Herrschaft sei dies gerechtfertigt. Sie machen auch deutlich, dass sie das Verbot jedweder rechtsradikaler Äußerungen für unzulässig erachten würden. Nationalsozialistisches Gedankengut als „radikale Infragestellung der geltenden Ordnung“ falle nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus, heißt es. Genauso könnten auch totalitäre Systeme in anderen Staaten unterstützt werden. Den Richtern geht es nur darum, offensives Werben gerade für den Nationalsozialismus nach deutschem Muster auszuschließen.

Wie wichtig ist Heß für die rechte Szene?

Die Karlsruher Richter haben NPD und parteiungebundenen Neonazis einen schweren Schlag versetzt. Rudolf Heß ist eine zentrale Ikone der Szene. Dass ihrer nun definitiv nicht mehr legal auf der Straße gedacht werden darf, bedeutet den endgültigen Verlust einer großen Propagandashow. Von 2001 bis 2004 waren tausende Neonazis aus dem In- und Ausland zum Todestag von Heß im August ins fränkische Wunsiedel geströmt. Die braunen Massen wollten den dort begrabenen NS-Spitzenfunktionär als Märtyrer und „Friedensflieger“ verherrlichen. Der Stellvertreter Hitlers in der NSDAP war 1941 nach Großbritannien geflogen, um über einen Frieden im Sinne des braunen Regimes zu verhandeln. In den Nürnberger Prozessen wurde Heß 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt. Er blieb fanatischer Nationalsozialist und brachte sich 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau um. Diese Biografie macht Heß in den Augen vieler Rechter zum Helden.

Welche Rolle spielte Jürgen Rieger?

Der umtriebigste Heß-Fan war der im Oktober verstorbene NPD-Vizechef Jürgen Rieger. Er organisierte die Aufmärsche in Wunsiedel und stieg in der Hierarchie der Szene weit auf. Seinen Tod wollte die NPD nutzen, um Wunsiedel wieder als Wallfahrtsort zu vereinnahmen. Denn sie hatte „Wunsiedel“ 2005 verloren, als der Bundestag den Paragrafen 130 verschärfte, um Aufmärsche zur Glorifizierung von NS-Größen dauerhaft zu verhindern. Dagegen hatte Rieger Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Die NPD meldete für vergangenen Sonnabend einen Gedenkmarsch für Rieger an. Verfassungsschützer warnten: Die Szene sehe eine große Chance, mit der Verklärung Riegers auch wieder Heß zu feiern. Das Landratsamt Wunsiedel verbot deshalb die Demonstration, das Verwaltungsgericht Bayreuth wies einen Eilantrag der NPD ab. Doch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hob das Verbot auf – allerdings mit der Maßgabe, es dürfe nur an Rieger erinnert werden, keinesfalls an Heß. So konnten am Sonnabend etwa 850 Rechtsextremisten durch Wunsiedel laufen. Der Aufmarsch fiel allerdings deutlich kleiner aus, als Sicherheitsexperten erwartet hatten. Möglicherweise waren viele Neonazis nicht gekommen, weil sie nur des kleinen Helden Rieger gedenken durften und nicht ihres großen Idols Heß.

Wie wirkt das Urteil auf die NPD?

Der Szene ist der gesamte Volksverhetzungsparagraf ein Gräuel. 2007 inszenierte die NPD eine Kampagne mit dem Ziel der Abschaffung des Paragrafen 130. Im September 2007 behauptete der Chef der NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern in einer Wutrede, dieses Strafgesetz sei „justiert“ worden, „um Sonderrechte für Minderheiten durchzusetzen“. Die Fraktion forderte, der Paragraf müsse gestrichen werden. Kurz darauf brachte auch die NPD-Fraktion in Sachsen einen inhaltlich identischen Antrag ein. In beiden Landtagen stieß die NPD auf einhellige Ablehnung.

Wie reagiert die Politik?

Eindeutig. Brandenburgs neuer Innenminister Rainer Speer (SPD) sagte: „Damit werden Verbote von Neonazi-Aufmärschen erleichtert und das Andenken und die Würde der unzähligen Opfer dieser verbrecherischen Ideologie geschützt.“ Und auch sein bayerischer Kollege Joachim Herrmann (CSU) deutete das Urteil als Beleg dafür, dass sich „der demokratische Rechtsstaat kraftvoll gegen nationalsozialistische Wirrköpfe und ihr gefährliches Gedankengut wehren“ könne.

Dieser Artikel erschien im "Tagesspiegel" vom 18.11.2009. Mit freundlicher Genehmigung.

Im Internet:

| Kommentar im "Tagesspiegel": Anti-Nazi-Grundordnung

| Kommentar in der Süddeutschen Zeitung: Verwüstete Erinnerung

| Kommentar in der taz: Falsches Gesetz trifft die Richtigen

Zum Thema:

| Wer beerbt Jürgen Rieger?

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