Wo der Mythos des "übergriffigen Fremden" bewusst geschürt wird: Screenshot des islamfeindlichen, rechtspopulistischen und "Pegida"-nahen Blogs "Politically Incorrect".
Screenshot 01.02.2016

Das Bild des »übergriffigen Fremden« – warum ist es ein Mythos?

Statistiken über sexualisierte Gewalt und über sexuellen Missbrauch zeigen, dass die Täter_innen in der überwiegenden Anzahl ihre Opfer persönlich gut kennen, oft besteht ein Vertrauensverhältnis. Der »fremde Täter«, der am unbekannten Ort überfällt, gewalttätig und übergriffig wird, ist statistisch belegt eher die Ausnahme. Dementsprechend handelt es sich in den meisten Fällen um einen Mythos, um ein Gerücht. Wenn aktuell also vor allem Ängste vor Flüchtlingen und zugewanderten jungen Männern geschürt werden, hat das andere Gründe.

Von Heike Radvan, Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung

Die Mythen vom »sexuell übergriffigen und gewalttätigen fremden Mann« greifen auf Bilder und Geschichten zurück, die seit vielen Jahrhunderten innerhalb von Familien, Dorfgemeinschaften usw. weitererzählt werden. Viele Menschen hören in ihrer Kindheit entsprechende Geschichten, sie sind kulturell verankert, zum Beispiel in Märchen, Gemälden und Filmen. Es handelt sich um ein Stereotyp, das sowohl rassistisch als auch sexistisch ist. Und es hat bestimmte Funktionen: So ist es mit dem Bild eines Gewalttäters, der als »der Andere«, der
»Fremde« gezeichnet wird, möglich, die Auseinandersetzung mit der Gewalt, die im sozialen Nahraum, in der eigenen Familie oder der eigenen »Wir-Gruppe« stattfindet, zu umgehen oder zu beschweigen. Der bekannte oder gar verwandte Täter wird geschont; der Konflikt vermieden. Oft sind Betroffene sexualisierter Gewalt in einer unterlegenen, wenig mächtigen Position: Sie sind häufig abhängig vom Täter. Nicht selten sind Täter in der Gesellschaft anerkannte Personen. Eine Auseinandersetzung ist schwierig, nicht zuletzt, da sexualisierte Gewalt
und sexueller Missbrauch nach wie vor stark tabuisierte Themen sind. Des Weiteren ist es für Betroffene eine bleibende, schwierige Situation, sich der eigenen Ohnmachtserfahrung zu stellen.

Und es gibt eine weitere Funktion: Rassistische Zuschreibungen werten die als »deutsch« und als »weiß« definierte Wir-Gruppe, - »das Eigene« - als höherwertig, »modern« und »aufgeklärt«. Die Fremdgruppe wird als minderwertig und rückständig gezeichnet und zu Feinden erklärt. Solche Bilder und erfundene Geschichten hat es historisch immer wieder gegenüber Angehörigen von Minderheitengruppen gegeben. Sie richteten sich im Mittelalter zumeist gegen Juden und gegen Sinti und Roma. Mythen behaupteten, dass Kinder gestohlen und/oder missbraucht wurden, Frauen vergewaltigt und/oder ermordet. Diese Geschichten entsprachen jedoch nicht der Realität. Häufig dienten sie als »Legitimation« für Pogrome, Vertreibungen und Gewalt gegen missliebige und als bedrohlich wahrgenommene Minderheiten. Häufig wurden unaufgeklärte Fälle vermisster Kinder oder vergewaltigter Frauen benutzt, die Frage von Schuld und Täterschaft zu »lösen«, indem sie jüdischen Männern oder Angehörigen wandernder Gruppen zugeschrieben wurden. Im Übergang zur Moderne wurden diese Mythen weitergegeben und verändert. Hinzu kamen Bilder über »den schwarzen Mann«, der als »der Wilde«, als sexuell enthemmt, potent, übergriffig und gewalttätig galt. Solcherart Bilder sind bis heute wirksam und prägen den Alltag von Menschen, die davon betroffen sind, schränken deren Handlungsspielräume und Lebensqualität ein und bedeuten häufig eine Zunahme von Gewalterfahrungen ohnehin diskriminierter Menschen oder Gruppen.

Im Kolonialismus gab es eine Vielzahl rassistischer Mythen, die bereits bestehende Stereotype aufgriffen und modifizierten. Diese Bilder waren mit unterschiedlichen Zuschreibungen gegenüber Frauen und Männern verbunden. Rassistische und sexualisierte Gewalt trifft beide Gruppen, wobei die Art der Zuschreibungen verschieden ist. So spricht Maureen Maisha Eggers davon, dass die Projektionen auf schwarze Frauen für domestizierbare  Sexualisierung  stehen,  also  für  Verfügbarkeit  und  Unterwerfung.  Demgegenüber  gelten  schwarze
Männer bis heute als Konkurrenz, ihnen wird mit extremer Aggression begegnet.  In der Gegenwart richten sich diese rassistischen und sexistischen Bilder häufig gegen Muslime. Im antimuslimischen Rassismus finden sich sexualisierte Bilder über »den schwarzen fremden Mann« wieder. Und auch hier haben diese Bilder nichts mit der Realität oder mit dem Handeln von Muslimen zu tun. Vielmehr haben sie eine Funktion für die weiße Mehrheitsgesellschaft: Sexualisierte Gewalt kann ins Außen, auf die Muslime projiziert werden und damit  einem
»fremden Täter« zugeschrieben.

Der Mythos vom »übergriffigen Fremden« - warum er geglaubt wird

Nazis nutzen diese weit verbreiteten und im kulturellen Gedächtnis verankerten Projektionen. Sie verbreiten Gerüchte über Gewalttaten und über Missbrauch und schüren damit Angst und Hass gegen eingewanderte und heimische people of colour.  Doch warum werden entsprechende Erzählungen geglaubt und warum breiten sich Gerüchte vermeintlicher Übergriffe so schnell online und offline aus? Folgendes Beispiel zeigt, wie mit der Projektion auf vermeintliche Täter von Außen eine Auseinandersetzung mit dem Thema sexueller Missbrauch innerhalb einer Kleinstadt verhindert wird: Nach ihrer Entlassung aus der Haft nehmen zwei Männer, ehemalige Sexualstraftäter, ihren Wohnsitz im sachsen-anhaltinischen Dorf Insel. Es bleibt ungeklärt, wie die Information über ihre Straftaten an die Öffentlichkeit gelangt. Neonazis nutzen Ängste der Bewohner_innen und mobilisieren: drei mal pro Woche marschieren bis zu 100 Menschen vor dem Wohnhaus der Männer auf. Aufgrund des Vertreibungsdrucks verlassen diese das Dorf. Unbeachtet bleibt eine Geschichte, die Journalist_innen recherchieren: Im Dorf war es in der jüngeren Vergangenheit zur Vergewaltigung eines jungen Mädchens und mehrfach zu sexuellen Übergriffen gekommen. Diese wurden jedoch im Rahmen der Kampagne nicht thematisiert. Der Umgang mit der Gewalt innerhalb des Dorfes war von Verharmlosung geprägt, dem Opfer wurde nicht geglaubt, während ein Täter unbelastet in der Dorfgemeinschaft lebt. Die Kampagne und die Aufmärsche richteten sich allein gegen die beiden »fremden« Männer, die nicht aus dem Dorf stammten.

Mit dem Mechanismus der »Ethnisierung von Sexismus« geraten zudem Betroffene aus dem Blick, die nicht dem Bild vom Opfer aus der deutschen Mehrheitsbevölkerung entsprechen: In vielen Gemeinschaftsunterkünften sind geflüchtete Mädchen und Jungen aufgrund fehlender Strukturen und Schutzräume besonders gefährdet. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs weist deshalb darauf hin, dass Mindeststandards gegen sexuelle Gewalt zum Schutz von Mädchen und Jungen unabhängig ihrer Herkunft und
Lebenssituation und damit auch für alle Flüchtlingsunterkünfte gelten müssen.

Sexualisierte Gewalt ist in sexistischen Verhältnissen oft alltäglich. Der Fokus auf »die fremden Männer« dient vor allem der Ablenkung: Nicht mehr die sexualisierte Gewalt individueller Täter ist das Problem, sondern der »Fremde«. Frauen haben in dieser Lesart der »eigenen Kultur« zur Verfügung zu stehen; in der »deutschen Kultur« hat »der deutsche Mann« ein Anrecht auf »die deutsche Frau«. Margarete Jäger, stellvertretende Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS), zeigt bereits in einer Studie von 2000, dass
hiermit Rassismus und Sexismus Verstärkung erfährt, frauenfeindliche Aspekte der »eigenen Kultur« jedoch banalisiert werden. Der Sexismus-Vorwurf ist vor allem in antimuslimischer Rhetorik zentraler Bestandteil. Er dient auch hier der Externalisierung und Verschleierung des eigenen Sexismus und legitimiert gleichzeitig rassistische Argumentationsweisen. So wird »dem fremden Mann« und geflüchteten Männern generell durch Rechtspopulist_innen und Neonazis eine größere Bedrohlichkeit zugeschrieben. Das jedoch hat nichts mit der
Realität zu tun: Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund sind bei Sexualdelikten nicht auffälliger als »Deutsche«. Entsprechende Straftaten steigen nicht mit dem Zuzug von Flüchtlingen in einen Ort. Vielmehr bagatellisiert oder dethematisiert diese Projektion Sexismus und sexualisierte Gewalt in der »deutschen« Mehrheitsbevölkerung und legitimiert Rassismus.
 

Dieser Text ist ein Auszug aus der Handreichung „Das Bild des übergriffigen Fremden – wenn mit Lügen über sexualisierte Gewalt Hass geschürt wird“ der Amadeu Antonio Stiftung.
 


 

Die Handreichung zum Download

Als Print-Version können Sie die Handreichung "Das Bild des 'übergriffigen Fremden' - Warum ist es ein Mythos?" bestellen unter netzwerke@amadeu-antonio-stiftung.de.
 

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