Der Sammelband "Zurück am Tatort Stadion" ist pünktlich zur Leipziger Buchmesse erschienen und auf jeden Fall: lesenswert!
Redaktion FgN

Zurück am Tatort Stadion: Anti-/ Diskriminierung in Fußballfankulturen

13 Jahre sind vergangen, seit der von Gerd Dembowski und Jürgen Scheidle herausgegebene Sammelband "Tatort Stadion. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball" veröffentlicht wurde. Noch länger gibt es die Wanderausstellung "Tatort Stadion" des "Bündnisses Aktiver Fußballfans" (BAFF), die seit 2001 neonazistische, rassistische, antisemitische, sexistische und homophobe Vorfälle in deutschen Stadien dokumentiert und seit 2010 komplett überarbeitet als "Tatort Stadion 2" gezeigt wird. Jetzt ist im Werkstatt-Verlag die Fortsetzung "Zurück am Tatort Stadion. Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fußball-Fankulturen" erschienen, herausgegeben von Martin Endemann, Robert Claus, Gerd Dembowksi und Jonas Gabler. Unser Autor hat das Buch vorab gelesen. 

Von Frederik Schindler

Der Sammelband mit insgesamt 29 Beiträgen und Interviews auf 384 Seiten ist in vier Kapitel gegliedert: Denkort Stadion, Kampfort Stadion, Tatort Europa und Gegenorte. In einem ersten einführenden Beitrag widmen sich Dembowski und Gabler der Konstruktion eines gemeinsamen "Wir", das über die Abgrenzung von vermeintlich "Anderen" funktioniert. Dieses ist ohnehin schon konstitutives Merkmal von Fankultur im Allgemeinen, denn durch die antagonistische Konzeption des Fußballsports und -spiels, bedeutet das Bekennen zu „seinem“ Team gleichsam auch die Anerkennung von Gegnerschaft und Konkurrenz. Zusammen mit anderen Eigenschaften formt eine aggressive Auslegung des "Wir und die Anderen" sogenannte "alte Werte" der Fußballfankulturen: Ein Gemisch "althergebrachter (hegemonialer) Männlichkeit, von Weißsein, autoritärem Denken, von Sozialdarwinismus gepaart mit Unterwürfigkeit ('Recht des Stärkeren'), von Revierdenken, Projektivität (Schuldsuche beim Gegenüber), Gewaltakzeptanz und einer ausgeprägten Fokussierung auf bestimmte Körperideale" stünde dann für das, was "unpolitisch" genannt wird: "'Keine Politik im Stadion' steht somit immer auch für den Aufruf, solch ein Netzwerk 'alter Werte' als Grundlage für das so wichtige 'Wir und die Anderen' zu erhalten." Es ist der alte Gedanke des Soziologen Norbert Elias, der sich früh mit dem Fußball im Zivilisationsprozess beschäftigte.

Fußball ist mehr als nur "männlich"

Juliane Lang, Mitglied im Forschungsnetzwerk "Frauen und Rechtsextremismus", analysiert in ihrem Beitrag zum "Blick des Fußballs auf seine 'jüngere Schwester'" einen dezidiert männlichen Blick auf den Frauenfußball und zeigt, dass eine Verbesonderung des Frauenfußballs mit Abwertung einhergeht und von vergeschlechtlichten Mustern in der Wahrnehmung des Sports zeugen. So gäbe es keine andere medial derart präsentierte Sportart, "in der das Geschlecht  der Spieler_innen so maßgeblich die Wahrnehmung des Sports und dessen Verhandlung in der Öffentlichkeit beeinflusst". Außerdem werde der Frauenfußball als eigenständige Sportart neben dem von Männern gespielten Fußball konstruiert, was unter anderem daran liege, dass "Authentizität" im Fußball "auf irrationale Weise an Männlichkeit gebunden" werde und eine ästhetische Inkompabilität des Fußballsports mit Weiblichkeit behauptet werde. Diese Geschlechterordnung, die auf Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit basiert, also auf der Annahme von genau zwei gegenseitig aufeinander bezogenen Geschlechtern, reproduziere sich durch die institutionelle Trennung von Männer- und Frauenfußball immer wieder selbst. Im Gegensatz zur feministischen Position der Unterstützung der Verbesonderung des Frauenfußballs, die "der Abwertung des Frauenfußballsports im ewigen Vergleich mit dem Männerfußball eine eigenständige Spielart des Fußballs" entgegensetzt, plädiert sie für die emanzipatorische Utopie, "die Einteilung der Welt in zwei Menschengeschlechter – und zwei Sportarten – sowie die damit einhergehenden Zuschreibungen in Frage zu stellen". Eine gleichrangige Anerkennung des Frauenfußballs kann dabei nur der erste Schritt sein.

Auch der Soziologe und freie Journalist Jan Tölva bezieht sich in seinem Beitrag über Homophobie im Fußball auf das Konzept der hegemonialen Männlichkeit  der Geschlechterforscherin Raewyn Connell und zeigt, dass Männlichkeit im Fußball absolut wünschenswert ist, während jede Abweichung als minderwertig gesehen wird. Dies zeige sich beispielsweise im Präsentieren von sexistischen und/oder homophoben Spruchbändern, die Tölva als festen Bestandteil der Fankultur im Männerfußball bezeichnet. Im Bereich Frauenfußball sieht er eine starke Verknüpfung der Homophobie mit Sexismus, etwa im gewünschten Bild bei der Weltmeisterschaft in Deutschland 2011 von "weiblichen Fußballerinnen als sexy Heteramädchen mit langen Haaren, Make-Up und lackierten Fingernägeln". Dies sei zudem mit normierenden Schönheitsidealen verbunden, denen vor allem Frauen ausgesetzt sind. Er resümiert, dass Fankultur "weg vom unbedingten Hype um Stärke, Ehre und Mut, hin zur Anerkennung und Wertschätzung von Unterschiedlichkeit" müsse, zur Möglichkeit eines Zustands ", in dem man ohne Angst verschieden sein", wie es Theodor W. Adorno in der Minima Moralia formulierte.

Kein Friede mit Nationalismus

"Vom trügerischen Frieden mit deutschem Nationalismus im Fußball" ist der Titel eines weiteren Beitrags von Gerd Dembowksi, der im Bereich der Antidiskriminierung im Fußball den einseitigen Blick auf Neonazis kritisiert. Schließlich gäbe es in der deutschen Gesellschaft zwar einen Konsens gegen Neonazismus, allerdings seien neonazistische Ideologieelemente wie Antisemitismus, Rassismus und Patriotismus weit in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Wer nur gegen Neonazis kämpfe, verliere den Blick auf menschenfeindliche Einstellungen in der restlichen Gesellschaft. Die Gefahr bei Spielen der National-Elf sind laut Dembowski nicht nur Nazis in der Kurve, die Gefahr ist vor allem, dass diese "in der großen Masse unwidersprochen an eine national geprägte Grundstimmung" anknüpfen können.

Fußball ist Politik und Politik war immer schon Fußball

Der Beitrag von Peter Römer und Patrick Gorschlüter über die politische Wandlung und Ausdifferenzierung der deutschen Ultra-Bewegung nimmt eine langjährige Debatte auf. Bezogen auf explizit fanpolitische Themen sei die große Mehrheit der Ultragruppen interessiert. Allerdings bezeichnen sich die meisten Gruppierungen – "auch jene, die Diskriminierung nach innen und außen ausüben" - als unpolitisch, deutliche Positionierungen sind die Ausnahme. Zwar kann es auch Gruppen geben, die sich als unpolitisch bezeichnen und dennoch gegen Rassismus aktiv sind. Engagement gegen Sexismus und Homophobie wird aber häufig als lächerlich abgetan. Die Autoren stellen hier einen Trend zur Diversifizierung der Ultrabewegung fest, da es eben sowohl diskriminierende als auch anti-diskriminierende Gruppen gibt. Darüberhinaus spielen politische Themen eine stärkere Rolle in der Vernetzungsarbeit von Ultragruppen als in den Anfangsjahren der Bewegung. Zunehmend erkennen die Fans der Ultrabewegung den Widerspruch einer ablehnenden Haltung gegenüber Politik und den eigenen Ultra-Idealen. Auch eine sich selbst unpolitisch gebende Gruppe kann ihrem Anspruch selten gerecht werden: "Ihre Aktionen werden von außen als politisch gelesen, teilweise übt sie selbst Diskriminierung aus, adaptiert politische Symbolik und positioniert sich gegenüber politisch eindeutiger handelnden Gruppen." Gerd Dembowksi kritisiert in seinem Beitrag über sozialpädagogische Fanprojekte, dass rechtsorientierte Fußballfans durch die Inszenierung als unpolitisch schlechter ausgegrenzt werden können: "Im Jahre 2015 sind sie wie auch schon früher über die Anrufung 'alter Werte' und die Akzeptanz der Losung 'Football without Politics' im Zweifelsfall voll in ihren Fanszenen integriert. Dass eindeutig rechtsextreme Einstellungspartikel eher zurückgehalten werden sollten, um diese Integration unter dem vereinenden Dach des gemeinsamen Vereins  (…) nicht zu gefährden, haben die meisten rechtsorientierten Fans längst begriffen. Als ausgegrenzt können sich 2015 eher (Teile von) Ultragruppen (…) sehen, die sich zivilcouragiert (…) einsetzen, also gegen Diskriminierung kämpfen."

Auf 384 Seiten werden vielfältige Perspektiven behandelt

Im Kapitel "Tatort Europa" versammeln sich beispielsweise Beiträge und Interviews über Rassismus und Antidiskriminierungsarbeit in Italien (Kai Tippmann), Frankreich (Jonas Gabler im Gespräch mit Nicolas Hourcade) und England (Claudia Krobitzsch im Gespräch mit Steven Bradbury). Weitere hier nicht näher erwähnten Aufsätze behandeln u.a. Diskriminierung im Fußball im Spiegel von Macht und Ohnmacht in den Medien (Ronny Blaschke), Frauen in der Ultraszene und Antidiskriminierungsarbeit im europäischen Fußball (Heidi Thaler), Antisemitismus in Fankulturen (Florian Schubert), Migrantinnen und Migranten im deutschen Fußballl (Diethelm Blecking), neonazistische Einflüsse im Amateurbereich und die Initiative Fußballfans gegen Homophobie (Martin Endemann) und den Wandel der Antidiskriminierungsarbeit im deutschen Fußball (Michael Eichener). Zudem finden sich Interviews mit dem Vorsitzenden der Bundesbehindertenfanarbeitsgemeinschaft (BBAG), mit einem Kölner Ultra über Ethnizität und Weißsein in Fankulturen und ein Gespräch zwischen Tülin Duman, Pablo Thiam, Robert Claus und Gerd Dembowski über Rassismus im Fußball im Sammelband.

Als Abschluss des Sammelbandes sprach Gerd Dembowski mit dem ehemaligen DFB-Präsidenten Dr. Theo Zwanziger über Fußball und Antidiskriminierung im Rückblick. Darin berichtet Zwanziger von den ablehnenden Reaktionen, als er 2011 beim Christopher Street Day in Berlin sagte, dass es homosexuelle Fußballerinnen und Fußballer gäbe: "Das wurde abends in der 'Tagesschau' thematisiert, und viele meinten: 'Jetzt ist er völlig übergeschnappt.' Aber das hat mich nicht gestört. Wenn ich eine Überzeugung vertrete, ist es mir egal, ob das eine Mehrheits- oder Minderheitsüberzeugung ist. Und es ist immer schöner, aus Minderheitsdenken Mehrheitsdenken zu machen, als gedankenlos der Mehrheit hinterherzulaufen."

Zu kritisieren ist, dass der Sammelband an einigen Stellen Aktualität vermissen lässt - so hätten sich Autoren stärker der aktuellen Auseinandersetzung mit den "Hooligans gegen Salafisten" (HoGeSa) zuwenden können. Auch die Beteiligung von Fußballfans an Pegida und seinen Ablegern kommt im Buch nicht vor. Stattdessen sind die Interviews an einigen Stellen zu lang geraten.

Die Stärke des Buches bleibt die enge Verbundenheit der Autorinnen und Autoren mit den behandelten Themen, da sie zum Teil selbst mit Fans und Ultras zusammenarbeiten oder aus Fanszenen stammen. Sie sind beispielsweise Mitarbeiter der Kompetenzgruppe "Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit" (KoFaS) der Uni Hannover oder Aktivistinnen und Aktivisten der Initiativen Bündnis Aktiver Fußballfans, F_in Frauen im Fußball, Fußballfans gegen Homophobie und Football Against Racism in Europe (FARE). Somit ist es den Herausgebern wunderbar gelungen, das Feld der (Anti-)Diskriminierung im Fußball in seiner gesamten Breite abzubilden. 

Endemann, Martin/Claus, Robert/Dembowski Gerd/Gabler, Jonas (Hrsg.): Zurück am Tatort Stadion. Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fußball-Fankulturen. Göttingen: Die Werkstatt (2015), 19.90 Euro. Erhältlich im Buchhandel und beim Verlag Die Werkstatt

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