Die inzwischen gelöschte Hetzseite gegen Mario Götze auf Facebook.
Screenshot Facebook

Mario "Judas" Götze und antisemitische Stereotype im deutschen Profi-Fußball

Als am 23. April 2013 der Wechsel des Fußball-Profis Mario Götze von Borussia Dortmund zum Erzfeind FC Bayern München bekannt wurde, löste dies einen Shitstorm auf seinem Facebookprofil aus, der mit antisemitischen Stereotypen versehen war. Fortan galt Mario Götze als Verräter – als "Judas". Und muss seitdem vor den Fans immer wieder als Sündenbock herhalten.

Von David Kirsch

Der FC Bayern München ist ein Ausnahmefall im deutschen Profifußball. Da wäre zum einen die jüdische Geschichte, die neben der Eintracht Frankfurt kein bestehender deutscher Fußballverein mit ihm teilt. Ebenso ist es eine traurige Besonderheit, dass die Fanszene der Bayern kaum von Neonazis und anderen rechtsextremen Gruppierungen geprägt ist.

Wenn Profifußballer zum FC Bayern zu wechseln, ist das nicht nur aus sportlicher Sicht ein besonderes Ereignis. Auch die Vorurteile und Anfeindungen, die den Spielern entgegengeschleudert werden, können diesen sehr bedeutsam machen.

Als am 23. April 2013 der Wechsel von Mario Götze aus dem Kader der Borussia Dortmund zum Erzfeind FC Bayern München bekannt wurde, löste dies einen Shitstorm auf Facebook aus, der mit eindeutigen antisemitischen Stereotypen versehen war. Fortan galt Mario Götze als Verräter – als "Judas".

Beim Götze-Transfer wurde der FC Bayern München zur Zielscheibe reaktionärer Projektionen: Mario Götze wurde vom einstigen Aushängeschild des BVB zum "Verräter" an Idealen wie Heimat und Tradition gebrandmarkt.

Hierbei spielten plumpe antiamerikanische Geisteshaltungen ebenso eine Rolle wie ein Unverständnis kapitalistischer Vergesellschaftung. Diese Fehlannahmen sind oft mit antijüdischen Zuschreibungen verbunden, deren Ursprünge einen geschichtlichen Hintergrund haben.

"Judenklub" FCB vs. "Arbeiterklub" BVB

Vor der Arisierung des FC Bayern durch die Nationalsozialisten im Jahre 1942 galt dieser als "Judenklub". Nicht zuletzt aufgrund seiner beträchtlichen Zahl an jüdischen Mitgliedern, der modernen kosmopolitischen Ausrichtung und den internationalen Ambitionen, die im Widerspruch zum "germanischen Ideal des "Amateurismus" standen, welches die Nationalsozialisten propagierten.

Im Gegensatz dazu hatte der "Ballspielverein Borussia 09" (BVB) bereits früh eine proletarische Tradition und bildete – ebenso wie Schalke 04 – den ideellen Gegenpol zu den Bayern. Seit Beginn der nationalsozialistischen Diktatur bis in das Jahr 1945 gehörten oftmals bis zu 80 Prozent der regionalen Mannschaften der SA an. Der deutsche Fußball wurde nationalsozialistisch zu Gauligamannschaften vereinheitlicht. August Lenz, der 1935 in einem Spiel gegen Spanien als erster Borusse das Nationaltrikot tragen durfte, entwickelte sich nicht erst durch seine NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Tätigkeit in der "Organisation Todt" des damaligen Reichsministers für Bewaffnung und Munition zu einer tragenden Figur des Vereins.

Die Bayern als "FC Hollywood"

Die Abneigung gegen den FC Bayern lässt sich so auch geschichtlich nachzeichnen, wenngleich sich die Ausdrucksformen der Ressentiments gegen den Verein im Laufe der Zeit änderten: So hasst und beneidet man den Klub heutzutage vor allem aufgrund seiner Modernität und seines Erfolges, der lediglich durch das viele "gehortete" Geld möglich gewesen sein soll. Allen anderen deutschen Profifußballvereinen wird hingegen unterstellt – im Gegenteil zum FCB - knochenharte Arbeit leisten müssen und sich nicht etwa wie der erfolgsverwöhnte "FC Hollywood" längst schon dem Kommerz angebiedert zu haben.

Diese Gegenüberstellung von "ehrlicher Arbeit" und "zerstörerischem Kapital" hat seine Grundlagen in einer ideologischen Auffassung kapitalistischer Wertvergesellschaftung. Sie übersieht, dass in kapitalistischen Gesellschaften, in denen Tauschakte der Regelfall und Ausdruck permanenten ökonomischen Miteinanders sind, ein jeder Mensch unter das Diktat der Verwertung gezwungen ist. Weiter wird eine Aufspaltung in Produktions- und Zirkulationssphäre vollzogen, die übersieht, dass es kaum Kapital gibt, welches lediglich in einer der Sphären tätig wäre. Zudem birgt diese Fixierung die gefährliche Nähe zu reaktionären Argumentationsformen, die in ihrer Konsequenz strukturelle Ähnlichkeiten zur nationalsozialistischen Unterscheidung in als arisch definiertes "schaffendes Kapital" und angeblich jüdisches "raffendes Kapital" aufweisen.

Und so ist es auch kein Zufall, dass Mario Götze nach seinem Wechsel zum FC Bayern München von Dortmund-Anhängern als "Judensohn" betitelt wurde.

Mario "Judas" Götze

Bereits im Mai 2013 äußerten einige Dortmunder Fans als unmittelbare Replik auf den Transfer von Mario Götze strukturell antisemitische Parolen, welche sie gegen die modernen Zumutungen des "FC Hollywood" in Anschlag brachten. Auf einem Transparent stand geschrieben: "Das Streben nach Geld zeigt wieviel Herz man wirklich hat... Verpiss dich Götze!"

So wird dem FC Bayern – und damit verbunden auch Mario Götze – das vorgehalten, was jeder Fußballverein unter den Anforderungen der modernen Welt machen muss, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können:
Erfolgreiche Spieler kaufen und verkaufen.

Der FC Bayern muss also als Projektionsfläche all jener herhalten, die statt Modernität und Kosmopolitismus einen frei von wirtschaftlichen Einflüssen existierenden, "ehrlichen" Fußball wünschen. Die oftmals in diesem Zusammenhang getätigte Bezeichnung des FC Bayern als "FC Hollywood" ist Ausdruck des weit verbreiteten Antiamerikanismus.

Dass Mario Götze fortan als "Judas" tituliert wurde, kann durch die Beschaffenheit dieser antisemitischen Beschimpfung erklärt werden, die an das allerälteste religiöse antijüdische Ressentiment vom Gottesmord anknüpft. In der christlichen Erzählweise ist Judas derjenige, der Christus im letzten Moment verraten hat, also Jude geblieben und nicht Christ geworden ist. Der Vorwurf des Gottesmordes und der, den Messias nicht als solchen anzuerkennen, ist die älteste Form des christlichen Antijudaismus. Möglicherweise werden die Anhänger des BVB nicht gewusst haben, wer Judas überhaupt war. Jedoch speist sich der Antisemitismus (und somit inbegriffen auch der Antiamerikanismus) auch aus dem Unbewussten.

Fakten gegen Vorurteile?

Der Antisemitismus ist nach einigen Sozialtheoretikern eine irrationale, wahnhafte Ideologie. Demzufolge lassen sich Menschen mit antisemitischen Überzeugungen oft auch nicht von Fakten beirren. Umso widersprüchlicher muss es deshalb erscheinen, dass derjenige Verein, der bereits mehrere deutsche Fußballclubs vor dem endgültigen finanziellen Ruin bewahrte, der FC Bayern München ist. Einerseits half man 2004 den FC St. Pauli mit kostenlosen Freundschaftsspielen aus der Insolvenz, andererseits bewahrte man einen anderen Verein im Jahre 2003 vor der endgültigen Pleite, in dem man ihm 2 Millionen Euro lieh: dem Ballsportverein Dortmund 09.

Am 13. Spieltag der Bundesliga-Saison 2013/14 traf Mario Götze erstmals auf seinen ehemaligen Verein. Er wurde in der 56. Minute für Mario Mandzukic eingewechselt – und erzielte zehn Minuten später das 1:0 für die Münchner. Zwar verkniff er sich den Jubel, jedoch linderte dies die Wut seiner ehemaligen Fans nicht. Auf deren Transparenten konnte man lesen: "Echte Liebe oder Mia san Mia – Für dich war’s längst Klar! Fick dich, Götze!" Währenddessen ertönten immer wieder lautstark "Judas"-Rufe aus den Rängen der BVB-Fans.

Dass ausgerechnet er es war, der ein Jahr darauf in der 113. Minute das entscheidende Siegtor für Deutschland im WM-Finale gegen Argentinien erzielte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. In dieser Nacht wurde er vom Verräter zum "deutschen Erlöser". Den Generalvorwurf des Verrats erlebt Götze jedoch seit seinem Wechsel immer wieder. 

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