Gedenkfeier für Ludolf Katz, einem jüdischen Spieler von Göttingen 05. Juden und Jüdinnen waren maßgeblich für die Etablierung des Fußballsports in Deutschland. Die "Balllümmelei" und die Erinnerung an ihre Gründergeneration erlebt derzeit ein Come-Back.
Christina Hinzmann // Göttinger Tageblatt

Was die Shoa nicht auslöschen konnte: Erinnerung an jüdische Fußballspieler

2015 jährt sich die Befreiung vom Nationalsozialismus und von Auschwitz zum 70. Mal, auch die deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen werden 50 Jahre alt. Der gesellschaftlich wieder um sich greifende Antisemitismus und der Kampf dagegen werden so zum Schwerpunktthema auf Fussball-gegen-Nazis.de. Start der Themenreihe ist ein Artikel über die Fans von Göttingen 05 und ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihres Vereins. Sie gedenken dem jüdischen Sportler Ludolf Katz, der vor der nationalsozialistischen Verfolgung in die USA fliehen konnte.

Von Jan Tölva

Geschichte ist immer etwas, das in der Gegenwart geschrieben wird. Was sie zeigt, ist nicht die Vergangenheit, sondern ein Blick von Heute auf Gestern. Geschichte ist also immer auch ein Ausdruck dessen, wie diejenigen, die sie schreiben, die Welt sehen und wo sie selbst sich darin verorten. Geschichte ist immer eine Interpretation. Sie zeichnet nie das gesamte Bild. Je nachdem, wohin wir blicken, stehen einige Punkt im Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit, während andere im Schatten verborgen bleiben.

Das gilt auch und besonders für die Geschichte des deutschen Fußballs, dessen vorherrschende Erzählung noch immer vor allem den weißen, bürgerlichen Männerfußball handelt. Es ist dabei viel die Rede von Konrad Koch und Uwe Seeler, von Franz Beckenbauer und Sepp Herberger. Kaum Erwähnung finden dagegen der Arbeiter_innen- und der konfessionell organisierte Sport, die Gründung von migrantischen Vereinen durch die sogenannten "Gastarbeiter" oder die 1958 gegründete Deutsche Damen-Fußballvereinigung. Die Geschichte des deutschen Fußballs wird noch immer oft erzählt als eine Geschichte wichtiger weißer Männer und das auch und vor allem, weil er noch immer überwiegend in der Hand weißer Männer ist, die sich selbst für überaus wichtig halten.

Jüdinnen und Juden im deutschen Fußball

Eine Facette der Geschichte des deutschen Fußballs, die lange übersehen, wenn nicht sogar bewusst verschwiegen wurde, ist die durchaus hohe Präsenz von Jüdinnen und Juden auf dem Rasen, auf den Rängen und in den Vereinsführungen in der Zeit vor der Machtübergabe an die Nationalsozialist_innen. Selbst herausragende Figuren wie Walther Bensemann, Gründer des Kicker und Organisator der "Ur-Länderspiele" deutscher Auswahlmannschaften, oder Kurt Landauer, Mitbegründer des FC Bayern München und dessen langjähriger Präsident, wurden jahrzehntelang nur unter ferner liefen wahrgenommen.

Oft waren es erst engagierte und interessierte Fans, die die jüdische Geschichte ihres jeweiligen Vereins wieder ausbuddelten und nicht selten brauchte es sehr lange, bis sie mit ihrem jeweiligen Anliegen in den Führungsetagen der Vereine auf Gehör stießen. Heute hingegen vergibt der DFB alljährlich den nach einem im Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Fußballer benannten Julius-Hirsch-Preis, über Kurt Landauer lief jüngst ein Film im Fernsehen und unter dem Motto "Nie Wieder" wird regelmäßig den Opfern der Shoah gedacht.

Es ist also etwas in Bewegung gekommen und doch sind wir noch lange nicht am Ziel. Nicht nur ist Antisemitismus noch immer ein gesellschaftliches Problem und somit auch im Fußball noch immer präsent. Es ist auch noch längst nicht alles an jüdischer Geschichte ans Tageslicht gebracht worden, was der deutsche Fußball zu bieten hat. Gerade bei den kleineren Vereinen, die es sich nicht leisten können, studierte Historiker_innen zu beauftragen, ihre jeweilige Geschichte zu durchleuchten, hängt es an der Initiative von einzelnen, ob ein Verein beginnt, seine Geschichte neu zu denken und neu zu schreiben oder eben nicht.

"Im Augenblick ist der Fußball wohl der Bereich, wo die Aufarbeitung am stärksten betrieben wird", meint auch der renommierte Buchautor Dietrich Schulze-Marmeling, der mehrere Bücher zur jüdisch-deutschen Geschichte des Fußball veröffentlicht hat. "Es gibt kaum einen bedeutenderen Verein, wo sich nicht eine Gruppe von Fans dafür sorgt, dass die Verfolgten, Vertriebenen und Ermordeten zurück in die Vereinsgeschichte geholt werden."

Vor Ort in Göttingen

Ein positives Beispiel aus diesen Tagen bietet die Fanszene von Göttingen 05. Tief gefallen ist der Verein aus dem südlichen Niedersachsen. Spielte er 1981 noch in der 2. Bundesliga und war er danach noch lange Zeit zumindest drittklassig, so ging es nach einer Insolvenz kurz nach der Jahrtausendwende steil bergab. Es folgten Jahre voller vereinsrechtlicher Wirren; doch heute hat sich der Verein beziehungsweise sein Nachfolgeverein immerhin von der achten Liga in die fünftklassige Oberliga Niedersachsen emporgearbeitet.

Von altem Glanz ist der Verein indes noch immer weit entfernt. Wenn heute jemand in Schwarz-Gelb durch Göttingen spaziert, dann ist diese Person mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Fan von Borussia Dortmund, nicht aber des lokalen Fünftligisten. Denn während zu den Spielen des örtlichen Basketballbundesligisten BG Göttingen beständig mehr als 3.000 Menschen pilgern, spielt 05 im Schnitt vor rund einem Zehntel davon.

Dennoch genießt der Verein noch immer einen guten Ruf in Fankreisen, denn allen Turbulenzen zum Trotz gibt es in Göttingen eine zwar überschaubare, aber überaus aktive Fanszene. Was die Szene eint ist neben der Liebe zu 05 ihr klar linkes Selbstverständnis. Wie könnte es auch anders sein in einer notorischen linken Hochburg wie der Studentenstadt Göttingen. Das gilt für die Ultragruppe Rasensportguerilla genauso wie für die Skinheads von den Ciderboiz. Nicht ganz zufällig hat auch die Kampagne "Glotze Aus, Stadion An!", die sich für Fankultur im Amateurfußball einsetzt, aus Göttingen.

Plakat für das Gedenken an Ludolf Katz in Göttingen. (Bildquelle: Dirk Mederer)

Auf der Suche nach der jüdischen Geschichte

Nun haben die Fans von 05 neben ungezählten anderen Projekten auch der jüdischen Geschichte ihres Vereins angenommen. Im Grunde war das ja auch nur naheliegend. Immerhin befindet sich der Fanraum, in dem die Szene sich trifft, direkt am Platz der Synagoge unweit des Hauptbahnhofs. Früher einmal stand hier ein Gotteshaus, das den rund 500 Mitgliedern der örtlichen jüdischen Gemeinde ein geistliches Zuhause bot. Schon damals befand sich zeitweise das Vereinsheim von Göttingen 05 in direkter Nachbarschaft. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Synagoge zerstört. Heute steht hier ein nur noch ein Mahnmal, das erinnern soll an das, was geschehen ist und nie hätte geschehen dürfen.

Wie eine Flamme schrauben sich die 86 Dreiecke aus Stahl des von dem jüdischen Künstler Corrado Cagli aus Rom entworfenen Denkmals gen Himmel. 1973 wurde es errichtet; wie Zeitungen von damals berichten fand die feierliche Eröffnung unter Polizeischutz statt. Oberbürgermeister Göttingens war zu jener Zeit der SPD-Politiker Artur Levi, selbst Jude und während des 2. Weltkriegs im Londoner Exil im Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland aktiv. Er war ein Mann mit Prinzipien. Auch in der späteren Bundesrepublik hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. An Veit Harlan, den Regisseur des antisemitischen Propagandafilms "Jud Süß", schrieb er 1952 einen offenen Brief, in dem er forderte: "Treten Sie ab von der kulturellen Bühne Deutschlands!"

Aktiv werden

Levi starb 2007, doch es darf als sicher gelten, dass er sich gefreut hätte über das Engagement der Fans von Göttingen 05. Bereits im vergangenen Sommer trafen sie sich, um gemeinsam das Mahnmal zu säubern – eine Aktion, über die auch die örtliche Tageszeitung, das Göttinger Tageblatt, berichtete. Die Fans "griffen auch ein, wenn sich Menschen [dort] zum Feiern treffen [...] oder diese Stelle als Toilette missbrauchten", hieß es dort in einem Artikel. Es ist im Grunde eine Schande, dass so etwas überhaupt notwendig ist.

Zum Jahrestag der Reichspogromnacht dann organisierten die Fans zwei Veranstaltungen zum Thema. Am 9. November nahmen sie an der alljährlichen Gedenkkundgebung am Platz der Synagoge teil; im Anschluss wurde im Fanraum der Film "Und plötzlich waren wir Feinde“ gezeigt, der von der Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus Göttingen handelt. Tags darauf war der bereits erwähnte Schulze-Marmeling einem Vortrag geladen. "Man wird sich im Leben nie zurücklehnen können", sagte dieser in einer abschließenden Bemerkung, "weil Antisemitismus in bestimmten gesellschaftlichen Situationen immer wieder entflammen kann." Wer würde ihm da widersprechen?

Nach Ende des Vortrags dann kam der eigentliche Höhepunkt der kleinen Veranstaltungsreihe, nämlich die Enthüllung einer neuen Gedenktafel für Ludolf Katz, einen der wenigen jüdischen Spieler bei Göttingen 05, dessen Geschichte sich heute noch einigermaßen rekonstruieren lässt und zu dessen Leben Fans des Vereins in den letzten Monaten intensive Nachforschungen angestellt hatten.

Ein jüdisches Leben im braunen Göttingen

Katz wurde am 11. Mai 1903 geboren. Zum Ende des 1. Weltkriegs trat er bei Göttingen 05 ein und blieb dem Verein treu, bis parallel zur Machtübergabe an die Nationalsozialist_innen die Vereine begannen ihre jüdischen Mitglieder hinauszuwerfen. Auch Göttingen 05 bildete hier keine Ausnahme, auch hier durfte bald nur noch Mitglied ein, wer "deutschen Blutes" war.

Die alte Garnisonsstadt Göttingen war keine heile Welt. Ganz im Gegenteil – Göttingen war bereits früh eine regelrechte Hochburg der Nationalsozialist_innen. Bereits 1922 gründete sich ein Ortsgruppe der NSDAP; bei Wahlen schnitt die Partei regelmäßig überdurchschnittlich gut ab.

So wurden schnell nicht nur die Sportvereine zu einer "No-Go-Area" für Jüdinnen und Juden; immer häufiger kam es selbst auf offener Straße zu gewalttätigen Angriffen durch Nationalsozialist_innen oder andere Antisemit_innen. Auch Ludolf Katz wurde Opfer eines solchen Angriffes. Am 28. März 1933 wurde er von Angehörigen der SA verprügelt und erlitt zahlreiche Verletzungen. Er habe "einen vorbeimarschierenden Zug provoziert", hieß es kurz darauf im Göttinger Tageblatt. Als wenn es einer Provokation bedurft hätte, damit deutsche Antisemit_innen gewalttätig werden.

Katz selbst gelang 1938 die Flucht in die USA, wo er 1994 in Sarasota, Florida starb. Er wurde 91 Jahr alt. Vielleicht waren die Erlebnisse vom 28. März einer der Gründe gewesen, weshalb er für sich zurecht keine Zukunft in Deutschland mehr hatte sehen können. Millionen anderen gelang es nicht zu fliehen. Auch Katz' Eltern überlebten den Krieg und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht. Ihre Spur verliert sich im Warschauer Ghetto.

Eine Mauer mutwilligen Vergessens

Daheim in Göttingen jedoch erinnert sich bald keine_r mehr an Ludolf Katz und all die anderen, die vor 1933 Teil der Vereinsfamilie von Göttingen 05 gewesen waren. Als der Verein 1955 sein 50jähriges Bestehen feiert, fällt über die vertriebenen, die in den Tod getriebenen und die ermordeten ehemaligen Vereinsmitglieder kein Wort. Es hätte wohl auch zu viele unbequeme Fragen aufgeworfen. Immerhin waren die, die dort feierten, zu großen Teilen dieselben, die nur eineinhalb Jahrzehnte zuvor die Vertreibung und Vernichtung der Göttinger Jüdinnen und Juden wenn vielleicht nicht aktiv betrieben, so doch zumindest tatenlos hatten geschehen lassen.

Erst als der Autor Harry Grüne, sich 1998 in seinem Buch „Zwischen Hochburg und Provinz“ mit der Geschichte des Göttinger Fußballs befasst, wird erstmals ein wenig Licht geworfen auf das Schicksal der jüdischen Sportler_innen, die einst ein fester Bestandteil von Göttingen 05 gewesen waren. Doch die Recherche gestaltet sich schwierig. Im Zuge der Insolvenz 2003 sind große Teile des Vereinsarchivs ganz einfach auf dem Müll gelandet und im Archiv des Göttinger Tageblatts, das schon vor 1933 stramm nationalsozialistisch gewesen war, findet sich auch nur wenig Information.

Was bleibt ist die Erinnerung

Doch auch wenn wohl in Göttingen genauso wie an vielen anderen Orten nie alles wird zutage gefördert werden können, was es wert wäre, nicht vergessen zu werden, so sind die Beschäftigung mit der Vergangenheit und die Suche nach der jüdischen Geschichte des deutschen Fußballs nie ganz vergebens. Denn so wie Geschichte immer in der Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit geschrieben wird, so verändert unser Blick auf das Gewesene auch unser Verständnis dessen, was jetzt ist, und es verändert auch uns, indem wir unsere eigene Position innerhalb der Geschichte immer wieder neu zu begreifen lernen.

Wir können nicht mehr verhindern, was geschehen ist, aber wir können verhindern, dass es wieder geschieht. Geschichten wie die von Ludolf Katz, einem einfachen jüdischen Kaufmann und Sportler aus Göttingen, können uns helfen, das niemals zu vergessen.

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