Völkische Weltanschauung und Bewegung

Die Geschichte der völkischen Bewegung reicht bis in die Zeit um 1900 zurück - und sie war 1945 nicht zu Ende. Das Völkische hat den Nationalsozialismus beeinflusst, wie es auch den modernen Rechtsextremismus beeinflusst.

Von Uwe Puschner

Nur wenige der völkischen Organisationen wie die „Deutschgläubige Gemeinschaft“ oder die „Germanische Glaubens- Gemeinschaft“ überlebten den Nationalsozialismus und bestehen bis in die Gegenwart hinein.

Anders verhält es sich mit der völkischen Weltanschauung. Ihre Ideologeme, denen man heute vor allem im Internet begegnet, lassen sich in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus auch jenseits des rechtsextremistischen Umfelds aufspüren: Wir finden sie in Teilen der Esoterik, etwa in Form einer spezieller Runengymnastik à la Friedrich Bernhard Marby oder Siegfried Adolf Kummer. Völkisches Gedankengut lebt auch im Bereich der Fantasy-Literatur – in den Romanen von Autoren wie Stephan Grundy, Harry Harrison, John Holm und Diana Paxson. Jugendmusikkulturen wie Neofolk und Pagan Metal sind ebenfalls von germanenideologischen und völkischreligiösen Denkmustern und von den einschlägigen Grundlagenschriften völkischer Ideologen aus dem frühen 20. Jahrhundert (wie Ludwig Fahrenkrog, Rudolf John Gorsleben, Bernhard Kummer, Guido List, Otto Sigfrid Reuter oder Herman Wirth) beeinflußt. Viele Schriften der aufgezählten Autoren liegen als Reprints und in Nachdrucken vor.

Aber vor allem der Rechtsextremismus und sein Umfeld bedienen sich über die Anlehnung an die NS-Ideologie hinaus vieler Elemente der völkischen Weltanschauung. Mit Parolen wie „Odin statt Jesus“ auf T-Shirts wird gegen die christlich-abendländische Kultur Stellung bezogen. Bei Gelegenheit vermeintlicher germanischer Brauchtumspflege wie Sonnenwendfeiern lebt die völkische Germanenideologie mit ihren Paradigmen der Überlegenheit und Auserwähltheit wieder auf. Mit Hilfe von jeweils ausgewählten Versatzstücken aus der völkischen Ideologie des frühen 20. Jahrhunderts verfolgen Organisationen wie die „Artgemeinschaft“ des bekannten rechtsextremen Aktivisten und Netzwerkers Jürgen Rieger noch im 21. Jahrhundert das bereits von der völkischen Religions- und Rassenideologie vorformulierte Ziel, die „eigene Identität vom Schutt der christlichen Jahrhunderte zu befreien und gleichzeitig die Grundlagen zu erarbeiten, die in der Schaffung einer von unserer Menschart geprägten ‚Nordischen Nation’ ihren Ausdruck finden.“

Zur Geschichte der völkischen Bewegung

Die völkische Bewegung ist kein „Erzeugnis der Nachkriegszeit“, sondern hat, wie einer ihrer Ideologen 1933 feststellte, ihre Anfänge „schon zwanzig, dreißig Jahre vor dem [Ersten] Weltkrieg“. Die völkische Weltanschauung war bereits vor dem Ersten Weltkrieg vollständig ausformuliert. Sie kann mit der 1911 ausgegebenen Parole „Ein Volk, ein Gott, ein Reich!“ als Koordinatensystem der völkischen Bewegung abgesteckt werden. Diese Parole ist so einprägsam, dass sie den Völkischen als politische Zielbeschreibung diente. Nun beschreiben diese drei Begriffe aber viel weniger Inhalte als eine Zukunftsvision, die die Bewegung mit ihrem politischen Wirken zu erreichen hoffte. Diese drei Begriffe basieren auf einem einzigen Element: dem Rassismus. Die völkische Rassenideologie kann als Generalschlüssel zum Verständnis von völkischer Weltanschauung und Bewegung bezeichnet werden.

Die Mehrzahl der sich der völkischen Sammlungsbewegung zurechnenden Organisationen forderte deshalb - wie die 1913 als erstes völkisches Kartell ins Leben gerufene „Deutschvölkische Vereinigung“ - von ihren Mitgliedern das „Blutsbekenntnis“, manche darüber hinaus zusätzlich - wie der 1911 gegründete „Deutsche Orden“ - eine als ordensinterne „Sippenpflege“ bezeichnete Ahnenprobe – für die der „Sippenkundler“ Bernhard Koerner verantwortlich war, der über Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1952 das „Deutsche Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch der bürgerlichen Familien“ herausgab. Die Rasse bestimmte nämlich gemäß der völkischen Heilslehre das Schicksal des einzelnen wie des – wiederum rassisch definierten – Volkes. Im Falle der Deutschen hieß dies,

„dass wir von heiliger deutscher Abstammung sind, von jenem Blute, aus dem das Heil der Welt erwachsen soll. Aus der großen Heimat gehn wir hervor als deutsche Menschen, und das ist unsere Aufgabe, daß wir diese Geburt erfüllen. Und wenn wir den Adel wegwarfen, der unser einst war, [...] so müssen wir trachten, ihn wieder zu gewinnen als unser größtes, unser erstes und nunmehr unser letztes Gut. [...] Vom Weltbaume, dem deutschen Gleichnisbilde des unerforschlichen Allgeschehens, heißt es [...], dass der Tag kommt, an dem er erzittern wird. [...] Dieser Tag ist da. [...] Wach auf, deutsches Volk, deine Heimat ist in Gefahr [...]! Wirf den Schlaf von den Augen, die Tat will getan sein! Sie wartet auf dich! Von Gott stammst du: richte dein Gesetz auf in der Welt! Das Gesetz deines Blutes! Das Gesetz deines Herzens! Die Freiheit und die Kraft deines Gottes!“.

Was unter völkischer Rassenökonomie zu verstehen war, wie „Bevölkerungspolitik und Züchtungspolitik [...] nach den Lehren der Rassenpflege“ betrieben werden sollte, faßt erschreckend prägnant und dicht der 1913 publizierte „Rassenarbeitsplan“ des „Deutschbundes“ zusammen:

„Auf der einen Seite ist die Ausmerzung der Minderwertigen anzustreben ([durch] Ausschluß der Geistes- und Nervenkranken, Geschlechtskranken usw. von der Nachzucht [und ein] ärztliches Zeugnis bei der Verehelichung). Auf der anderen Seite ist die Fortpflanzung der tüchtigen und edlen Volksbestandteile zu begünstigen [...], aber auch der schon sehr bedrohlichen Abnahme der Volksvermehrung überhaupt entgegenzuwirken ([etwa durch] stärkere Steuernachlässe für kinderreiche Familien, eine Wehrsteuer für Militärfreie, Besteuerung der Junggesellen, Säuglings- und Mutterschutz, Stillprämien und dergl[eichen])“. Ferner wandte man sich gegen jede Art künstlicher Empfängnisverhütung und forderte demgegenüber die „Errichtung einer Teutstiftung zur Unterstützung rassisch wertvoller Nachkommenschaft“, desweiteren eine Partnerwahl, die „rassische[r] Tüchtigkeit“ zu erfolgen hätte und schließlich, „daß die kinderreiche Mutter in der öffentlichen Meinung wieder den ihr gebührenden Ehrenplatz erhält.“

Für eine kleine Gruppe Völkischer gingen diese Pläne wie auch die lebensreformerischen Konzepte längst nicht weit genug. Das völkische Fernziel „Rassenreinheit“ und das Idealbild vom hoch gewachsenen, langschädeligen, langgesichtigen, blonden und blauäugigen völkischen Menschen der Zukunft, so glaubten sie, ließe sich mit den geschilderten Maßnahmen kaum verwirklichen. Sie setzten auf eine planmäßige „germanische Rassenrein- und -hochzucht“.

Obwohl die extremen völkischen Rassenerneuerungsvorhaben entweder noch im Planungsstadium oder an äußeren Bedingungen scheiterten, wäre es verfehlt, sie als fehlgeleitete Utopien nicht ernst zunehmen. Denn den völkischen Weltanschauungspropheten und ihren Anhängern war es im Gegenteil tief ernst damit, daß „ein völkischempfindendes Volk nach Rassenreinheit strebt“ oder – wie der Historiker und Nobelpreisträger Theodor Mommsen spöttisch und dabei den völkischen Fanatismus verkennend schrieb – „einen eigenen, alle Herrlichkeit des Menschengeistes in sich beschließenden germanischen Adam dem allgemeinen zu substituieren“.

Das Ziel der Völkischen war tatsächlich die Schaffung eines „neuen“, rassereinen Menschen – als solches Utopie und gegen alle Naturgesetze –, der mit seinesgleichen, also rassereinen deutsch-germanisch-arischen Individuen, das neue Volk des „einen Reiches“ bilden sollte, eines vorwiegend agrarischen, berufsständisch verfaßten, großgermanischen Reiches, das dem Motto der völkischen Zeitschrift „Heimdall“ gemäß sich von Skandinavien bis zur Adria, von Bologna bis zur Narwa und von Besançon bis zum Schwarzen Meer erstrecken sollte. Diese Vorstellungen dienten den Völkischen nicht nur zur Rechtfertigung ihrer antislawischen und antisemitischen Hetze gegen die im Deutschen Reich ansässige slawische und jüdische Bevölkerung, sondern auch zur Legitimation von Forderungen nach Lebensraum vor allem im Osten Europas beziehungsweise den gleichermaßen gegen Juden und Slawen im Reich sich richtenden Diskrimierungsforderungen, die von Entrechtung, Ausweisung und Umsiedlung über Deportation bis hin zu der an der Jahrhundertwende schon offen ausgesprochenen Vernichtung reichten.

Dennoch bestand bei den Völkischen von Beginn an Einigkeit darüber, dass die „Rassenfrage“ nicht zum alleinigen Inhalt der völkischen Weltanschauung gemacht werden dürfe. Hier setzte ihre Beschäftigung mit der Religion ein. Religion und Religiosität galten als Triebfedern jedweden Denkens und Handelns in völkischem Geist. Das bedeutete nicht die Preisgabe des völkischen Rassedogmas, sondern setzte dieses in der Konstruktion von der arteigenen Religion voraus: einer Religion, die der Rasse innewohnend und ihr angeboren ist.

Es gehört zu den Überzeugungen der völkischen Weltanschauung, dass verantwortungsvolles Handeln im Sinne der Rasse ein ethisch-religiöses, durch die Rasse bedingtes Handeln voraussetze. Wie einerseits der „Verlust der Religion im Volke“ als Gefahr für den „gesellschaftlichen und staatlichen Bestand“ und als signifikantes Indiz für die völkische These von Degeneration, Rassenverfall und „Arierdämmerung“ bewertet wurde, so war andererseits Religion Garant für die sittliche, völkische und damit auch für die rassische Wiedergeburt.

Die völkische Bewegung und die NS-Zeit

Die personellen, institutionellen und ideologischen Zusammenhänge und Verflechtungen zwischen dem Nationalsozialismus und der völkischen Bewegung sind deutlich sichtbar: Der Nationalsozialismus vereinnahmte das Adjektiv „völkisch“, bediente sich vieler Elemente der völkischen Weltanschauung und griff auf ihre Symbole wie das Hakenkreuz und den „Heil“-Gruß zurück. Gleichzeitig waren die Beziehungen zwischen den Völkischen und den Nationalsozialisten spannungsreich und ihre grundlegende Rivalität trotz weltanschaulicher Nähe und sogar trotz zeitweiliger Kooperation schon für die Zeitgenossen unübersehbar.

Den völkischen Ideologen und ihren Gefolgsleuten galt der Nationalsozialismus als „ein Glied der allgemeinen völkischen Bewegung“. Diese Einordnung wiesen die Nationalsozialisten entschieden zurück und behaupteten im Gegenteil, daß die „nationalsozialistische Bewegung“ als „Vorkämpferin und damit als Repräsentantin“ der völkischen Ideen zu gelten habe, da „erst die Arbeit der NSDAP“ völkisch zu einem politischen Schlagwort und weltanschaulichen Kampfbegriff gemacht hätte.

Hitler zog in Zusammenhang mit dem Neuaufbau der NSDAP seit 1925 wiederholt mit beißendem Hohn über die Führer der völkischen Bewegung her. Er lehnte die diffuse „Sammelbezeichnung ‘völkisch’“ ebenso ab wie die Repräsentanten der völkischen Bewegung, bei denen es sich um „phantastisch-naive Gelehrte, Professoren, Land-, Studien- und Justizräte“ handele und um weltfremde „Wanderscholaren“, die „von altgermanischem Heldentum, von grauer Vorzeit, Steinäxten, Ger [= germanische Wurf- oder Stoßwaffe] und Schild“ schwärmten. Und er warnte besonders vor den „sogenannten religiösen Reformatoren auf altgermanischer Grundlage“. In einer Regierungserklärung vor dem Reichstag am 30. Januar 1934 - dem Jahrestag der Machtübernahme - zählte Hitler schließlich neben Kommunisten und bürgerlichen Intellektuellen „jenes Grüppchen völkischer Ideologen, das glaubt, die Nation wäre nur dann glücklich zu machen, wenn sie die Erfahrungen und die Resultate einer zweitausendjährigen Geschichte vertilgt, um im vermeintlichen Bärenfell aufs neue ihre Wanderungen anzutreten“, zu den „Feinden des neuen Regiments“.

Hitler und Goebbels schätzten vor allem die älteren völkischen Führungspersönlichkeiten aus der Vorkriegszeit als ernst zunehmende politische Rivalen des Nationalsozialismus ein, da diese sich nicht in die nationalsozialistische Bewegung einfügen wollten und auf ihren Führungsansprüchen beharrten. Gerade in Anbetracht der potentiellen Konkurrenz griff die nationalsozialistische Führung zu einer Umarmungstaktik und hofierte Altvölkische wie den „Chefideologen“ des Antisemitismus, Theodor Fritsch, den Literaturhistoriker und Agitator Adolf Bartels oder den Gobineau-Apologeten Ludwig Schemann als so genannte völkische Vorkämpfer.
Jüngere Vertreter der völkischen Bewegung wie Darré, Himmler und Rosenberg gehörten bereits zu Hitlers nationalsozialistischer Führungselite, der sie wegen ihrer großgermanischen Reichsvisionen „auf bäuerlich- und religiös-germanischer Grundlage“ allerdings als „spinnerige Jenseitsapostel“ abtat.

Obwohl sich Hitler immer wieder von einzelnen Segmenten der völkischen Bewegung, namentlich den ‚neuheidnischen’ und germanophilen Flügel, distanzierte und die „Sammelbezeichnung ‚völkisch’“ wegen der „außerordentlich unbestimmte[n] Verwendung dieses Begriffs“ ablehnte, steht die nationalsozialistische Ideologie auf dem Fundament der völkischen Weltanschauung: der Rassenideologie.

Der Auszug des Essays "Ein Volk, ein Reich, ein Gott. Völkische Weltanschauung und Bewegung"
 ist aus dem Buch "Der Nationalsozialismus und die deutsche
Gesellschaft" (2002)

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