„Unsere Geschichten – Eure Geschichte“: Migrantinnen und der Nationalsozialismus

Warum beschäftigen sich Frauen mit Migrationshintergrund mit der NS-Geschichte? Eine Seminarreihe mit Neuköllner Stadtteilmüttern zeigte, dass es dafür viele Gründe gibt. Aus den Erfahrungen ist eine Broschüre entstanden, die neue Perspektiven eröffnet – sowohl auf die deutsche Geschichte als auch auf die Geschichten der Zugewanderten.

von Christine Lang

Auf dem Podium im Jüdischen Museum in Berlin sitzt eine Muslimin und berichtet von ihrer Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Emine Elçi ist eine der Stadtteilmütter aus Neukölln, die an der Seminarreihe „Stadtteilmütter auf den Spuren der Geschichte“ der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste teilgenommen hat. Über hundert Teilnehmerinnen beschäftigten sich bisher in diesen Seminaren über mehrere Wochen hinweg mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen. Die Erfahrungen von vierzehn der Teilnehmerinnen wurden nun in der Broschüre „Unsere Geschichten – eure Geschichte? Neuköllner Stadtteilmütter und ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus“ veröffentlicht. Am 25. Januar 2011 wurde sie im Rahmen einer Lesung und Diskussionsrunde präsentiert.

Vom Nationalsozialismus wusste ich nur Bruchstücke, in der Schule wurde das nur trocken durchgenommen. Ich habe zwar das Tagebuch von Anne Frank gelesen, aber konnte das nie so richtig einordnen“, erzählt Emine Elçi, die in Deutschland geboren ist. Makfirete Bakalli, die aus dem Kosovo nach Deutschland geflohen ist, hat in der Schule nie den Holocaust behandelt. Ähnlich ging es den meisten Teilnehmerinnen der Seminare.

Die Initiative dazu, sich einmal intensiver mit dem Nationalsozialismus, seinen Verbrechen und Folgen zu beschäftigen, ging 2006 von den Stadteilmüttern selbst aus. „Stadtteilmütter“ sind Frauen mit Migrationshintergrund, die von der Diakonie zu Familienberaterinnen ausgebildet werden. Sie stammen aus der Türkei, vom Balkan, aus Polen, dem Irak oder Sri Lanka. „Die Frauen bekommen mit, wie wichtig die deutsche Vergangenheit auch heute noch in aktuellen Debatten ist und wie ihre Kinder das Thema in der Schule behandeln“, sagt Jutta Weduwen von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Zu einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehören auch Kenntnisse der Geschichte. Ein Ziel der Seminare ist, die Partizipation der Frauen mit Migrationshintergrund an der Gesellschaft zu stärken.

Wie können wir die Erinnerung an den Holocaust für alle zugänglich machen?

An zehn Terminen und auf einer Wochenendfahrt lernten die Stadtteilmütter verschiedene Aspekte der NS-Geschichte kennen. Sie besuchten Gedenkstätten, sprachen mit Zeitzeugen und beschäftigten sich mit Dokumenten und Filmen. Häufig kamen dabei Bezüge zur eigenen Geschichte und zu Erfahrungen mit Rassismus, Ausgrenzung oder Flucht auf. Jutta Weduwen berichtet von den Ängsten, die ein Besuch im KZ Sachsenhausen bei einigen Teilnehmerinnen ausgelöst hat und den Fragen, die sie sich stellten: Könnte das nicht noch einmal passieren? Und will ich in einem Land leben, das so etwas hervorgebracht hat?

Doch es gibt auch positive Anknüpfungspunkte. Regina Cysewski, eine deutsch-polnische Stadtteilmutter, erzählt, dass das Seminar ihr ermöglichte, sich mehr mit der deutsch-polnischen Geschichte und den Erfahrungen ihrer eigenen Familie in der NS-Zeit zu beschäftigen. Für Emine Elçi war besonders das Treffen mit einer jüdischen Zeitzeugin eindrücklich: es führte zu Gesprächen über verschiedene Religionen – aber auch zu Diskussionen über den Israel-Palästina-Konflikt. Sie sei durch das Seminar viel sensibler geworden und versuche Menschen nicht mehr aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu beurteilen, berichtet Elçi.

An persönlichen Zugängen zur NS-Geschichte mangelt es den Stadtteilmüttern offenbar nicht. Doch Menschen mit Migrationshintergrund wird häufig nicht zugetraut, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. Eine Rolle spielt dabei auch der Vorwurf gegenüber Muslimen, antisemitisch zu sein. In der Holocaust-Gedenkstätte „Haus der Wannseekonferenz“ hat man allerdings keine schlechten Erfahrungen mit muslimischen Besuchern gemacht. Antisemitische Äußerungen höre man eher von weißen Deutschen über 60, betont Elke Gryglewski, die in der dortigen Bildungsabteilung arbeitet. Das Problem antijüdischer Einstellungen unter Muslimen dürfe zwar nicht vernachlässigt werden, doch müsse man dabei auch berücksichtigen, dass es sich oft um „Stellvertreter-Auseinandersetzungen“ für die eigene Ausgrenzung in der Gesellschaft handle.

Die Mehrheitsgesellschaft für die Geschichten der Zugewanderten öffnen

Zusätzlich zum Thema Nationalsozialismus waren die persönlichen Geschichten der Stadtteilmütter ein wichtiger Bestandteil der Seminarreihe. Häufig bleiben diese Geschichten in der Mehrheitsgesellschaft ungehört. Daher auch die Idee der Frauen, eine Broschüre über das Seminar herauszugeben, in der sie ihre eigenen Migrationsgeschichten und Ausgrenzungserfahrungen erzählen und mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verknüpfen.

Das Seminar wirft damit auch die Frage auf: Wie kann sich der Erinnerungsdiskurs der Mehrheitsgesellschaft für die Geschichten der Migrantinnen und Migranten öffnen? Elke Gryglewski vom Haus der Wannseekonferenz bringt die Verbindungen auf den Punkt: „Warum konzentrieren wir uns ausschließlich auf das einzigartig Schlimme des Nationalsozialismus? Wir sollten auch mehr auf das achten, was davor war – nämlich Ausgrenzungen von Minderheiten und Rassismus.“

Die Broschüre „Unsere Geschichten – eure Geschichte? Neuköllner Stadtteilmütter und ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus“ kann bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste bestellt werden. Es gibt sie auch als pdf-Dokument zum Herunterladen.

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