Rechtes Konzert in Nienhagen 2014: Die Warteschlange am Einlass
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Rechte Jugendkultur und lokale Verankerung: Der Jahresrückblick 2014 aus Sachsen-Anhalt

Die Rechte in Sachsen-Anhalt macht sich dieses Jahr vor allem im Bereich des jugendkulturellen Rechtsextremismus bemerkbar: Neben zahlreichen Konzerten und neonazistischen Großevents existieren viele Versände, die rechte Propaganda in Form von Kleidung, Stickern und CDs in Sachsen-Anhalt vertreiben. Weitere Themen sind wie in allen anderen Bundesländern auch dieses Jahr Flüchtlingspolitik und die Unterbringung von Flüchtlingen, die Neonazis versuchen für ihre rassistischen Bestrebungen zu vereinnahmen um so gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen.

Von Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.

Bässe dröhnen, Bierbecher fliegen durch die Luft. Betrunkene grölen. Nienhagen, ein kleiner Ort im Vorharz war im August ein weiteres Mal Schauplatz eines der größten deutschen Rechtsrockfestivals. In Gruppen werden die Neonazis durch den Ort geleitet. Den am Rande protestierenden Einwohner_innen Nienhagens bietet die Szenerie eine absurde Freakshow muskelbepackter, volltätowierter Skinheads, die aus ihrer Gesinnung auch verbal keinen Hehl machen. Doch die Bürgerinitiative „Nienhagen Rechtsrockfrei“ bot dem rechten Musikevent in diesem Jahr mit einem erfolgreichen Bürgerfest die Stirn. Nienhagen ließ sich von den Drohungen und Beleidigungen nicht einschüchtern.

Im Jahr 2013 fanden in Sachsen-Anhalt 33 öffentlich angekündigte neonazistische Großevents und  legendierte Konzerte statt. Auch für das zu Ende gehende 2014 ist mit einer Fortführung des Trends zu Dutzenden Konzerten unterschiedlicher Ausrichtung und Größenordnung zu rechnen. Allein bis Mitte Oktober diesen Jahres zählte die Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. knapp 20 Konzerte. Erneut hat sich so gezeigt, dass sich rechtsextreme Konzertveranstalter auf die ordnungsrechtlichen Anforderungen für solche kommerziellen Veranstaltungen einstellen und über die logistisch-organisatorischen Ressourcen verfügen, die für die Umsetzung ihrer Events notwendigen sind.

Dominanz des jugendkulturellen Rechtsextremismus

Die extreme Rechte zwischen Elbe und Saale befindet sich in einer Umbruchphase. Überkommene Organisations- und Aktionsmuster – Parteiarbeit, Kundgebungen und Infostände – gerieten 2014 weiter in den Hintergrund. Stattdessen spielt der jugendkulturelle Rechtsextremismus mit seiner vor allem musikalischen Prägung eine wachsende Rolle. Mindestens 20 aktive Bands und Musikprojekte unterschiedlicher Genres – vom klassischen Rechtsrock über Liedermacher bis hin zu NSHC (National Socialist Hardcore) und NS-Black Metal – konnte Miteinander e.V. in den letzten Jahren in Sachsen-Anhalt registrieren. Nicht nur in Sachsen-Anhalt sondern auch in ganz Deutschland und weltweit sind Sachsen-Anhalts rechtsextreme Musiker_innen auf Konzerten und Festivals der Szene vertreten.

Neonazis verdienen jedes Jahr Millionenbeträge durch den Verkauf von rechtsextremer Musik, Kleidung und von Propaganda-Artikeln. Bundesweit werden diese Materialien in ca. einhundert Versänden und Verlagen produziert und vertrieben. Seit einigen Jahren verlieren kleine, regionale Versände allerdings an Bedeutung während die Szenegrößen ihre Vormachtstellung ausbauen können. In Sachsen-Anhalt existieren momentan etwa zehn Versände mit eher regionaler Bedeutung,  in denen Musik und Kleidung für unterschiedliche Genres angeboten werden. Mindestens ein Versand vertreibt zudem Stickereien mit völkischen und neonazistischen Motiven und Geschenkartikeln. Klassische, neonazistische Ladengeschäfte existieren zurzeit nicht, allerdings gibt es seit über fünf Jahren „Thor Steinar“-Ladengeschäfte in Magdeburg und Halle.

Auch in Sachsen-Anhalt haben Neonazis in den vergangenen Jahren Immobilien erworben, welche sehr unterschiedlich genutzt werden. Diese Häuser sind mit verschiedenen Nutzungskonzepten im gesamten Land zu finden –mit einer gewissen Konzentration im südlichen Sachsen-Anhalt. In eigenen Immobilien kann sich die Szene nahezu vollständig ordnungsrechtlichen Anforderungen entziehen. Auch eine strafrechtliche Verfolgung ist bei Veranstaltungen und Treffen in solcherart „geschützten“ Räumen nur bedingt zu befürchten. Daher sollte die Bedeutung solcher Immobilien nicht unterschätzt werden.

Erlebniswelt Aufmarsch

Eine zentrale Rolle für die Identitätsstiftung, Selbstlegitimierung und Mobilisierung der extremen Rechten spielen Demonstrationen und Kundgebungen. Neben der Propagierung ihrer Themen in der Öffentlichkeit zielen die Aufmärsche der neonazistischen Szene auf eine temporäre Dominanz des Sozialraumes.

In Dessau und Merseburg versuchten rechte Aktivist_innen mit regionalen Demonstrationen einen wiederkehrenden Kristallisierungspunkt für die Szene zu schaffen. In Magdeburg ist der jährliche Aufmarsch aus Anlass des Gedenkens an die Bombardierung der Stadt im Januar bundesweit das letzte Großereignis zu einem historisch Identitätsthema der extremen Rechten, das noch weitgehend ohne nachhaltige Beeinträchtigung für die Organisator_innen und Teilnehmer_innen stattfindet. Auch wenn dort die Zahl der Teilnehmer_innen in den letzten Jahren bei unter 1000 stagniert, besitzt dieser Aufmarsch eine zentrale Bedeutung für die Inszenierungen des regionalen und bundesweiten Rechtsextremismus.

Einschüchterndes Engagement

Unter Beibehaltung ihrer politischen Ausrichtung treten neonazistische Aktivist_innen stattdessen immer öfter in kommunalen, kulturellen und sportlichen Kontexten als Multiplikator_innen des ehrenamtlichen Engagements auf. Neonazis, die ihre Interessen als die des Ortes darzustellen vermögen, treffen – unabhängig von der politischen Zuordnung – auf Akzeptanz.

Die Strategie, über die Verankerung von Personen vor Ort Einfluss auf das gesellschaftliche Klima zu nehmen, erwies sich vor allem dort als erfolgreich, wo kommunale Verantwortungsträger_innen die eigentlich Intention von Neonazis, sich langfristig eine ökonomische und soziale Basis zu schaffen, nicht hinreichend erkennen.  Exemplarisch lässt sich das für Sachsen-Anhalt am Fall Stresow (Landkreis Jerichower Land) beschreiben. Hier unterhält der rechte Aktivist und ehemalige Hooligan Dennis Wesemann ein umsatzstarkes Unternehmen, welches Merchandise für die Hooliganszene vertreibt. Bei den Wahlen zum Ortschaftsrat erhielt er die meisten Stimmen und kündigte an, sich zum Ortsbürgermeister wählen zu lassen. Seitdem dieses Vorhaben aufgrund öffentlichen Drucks scheiterte, soll Wesemann versucht haben, mit den Mitteln der Einschüchterung die Entscheidungen im Rat in seinem Sinne zu beeinflussen.

Agieren Neonazis wie in Stresow als Impulsgeber, können sie den Kern einer regional agierenden neonazistischen bzw. gewaltaffinen rechten Szene bilden. Diese nutzt sich bietende Freiräume für ihre Gesellungsformen. Damit entstehen Angsträume für jene, die dem Weltbild des Rechtsextremismus nicht entsprechen. So kann paradoxerweise gerade die Schwäche der organisierten rechten Strukturen zu einer stärkeren Verankerung rechter und neonazistischer Einstellungen und Aktivitäten vor allem in ländlichen Regionen führen.

Ressentiments und rechte Gewalt

Auch die Zahl der rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten ist nicht automatisch an den Erfolg oder Misserfolg neonazistischer Strukturen gebunden. Dies zeigt sich zum Beispiel in Halle (Saale). Seit Jahren ist hier der formal organisierte Rechtsextremismus besonders schwach aufgestellt. Trotzdem nimmt die Stadt in der Statistik der Mobilen Opferberatung bei Miteinander e.V. für das Jahr 2013 einen Spitzenplatz bei rechten Angriffen ein. Die übergroße Mehrheit der Angriffe erfolgte aus rassistischer Motivation. Wie in Stresow vermochten es zudem auch in Halle neonazistische Einzelpersonen als regionale Impulsgeber das gesellschaftliche Klima vor Ort zu beeinflussen. Seit Juli 2014 kommt es im Neubauviertel Halle-Silberhöhe zu anhaltenden rassistischen Protesten gegen den Zuzug rumänischer Familien. Anfangs formierten sich dort Anwohner_innen in verschiedenen Facebook-Gruppen und ließen ihren rassistischen und antiromaistischen Ressentiments freien Lauf. Später initiierten u.a. Neonazis Demonstrationen und andere Aktivitäten bis hin zur Gründung einer „Bürgerwehr“. Immer wieder wird so die Anonymität des Internets verlassen und der rassistische Protest in den öffentlichen Raum getragen. Nicht nur hier zeigte sich in den letzten Monaten, dass es Neonazis gelingt, sowohl virtuell als auch in der Öffentlichkeit angespannte und ressentimentgeladene Stimmungen für ihre menschenfeindlichen Ziele zu nutzen.

Sowohl zivilgesellschaftliche Kräfte als auch die Polizei und Vertreter_innen der Stadt Halle haben jedoch schnell auf die Herausforderung mit abgestimmten Aktivitäten reagiert. Dadurch konnten bisher gewalttätige Auseinandersetzungen verhindert werden, trotzdem wird die Situation wohl auf absehbare Zeit angespannt bleiben.

Rechte Parteien

Der Bedeutungsverlust der NPD für den organisierten Rechtsextremismus ist nicht nur in Sachsen-Anhalt evident. Die NPD verpasste am 31. August 2014 mit 4,9% nach zehn Jahren den Wiedereinzug in den sächsischen Landtag denkbar knapp. Auch bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen am 13. September 2014  scheiterte sie an der 5%-Hürde. So ist die Partei nur noch in einem Landtag (M-V) vertreten. Zusätzlich muss die NPD sich auf Bundesebene mit dem laufenden Verbotsverfahren auseinandersetzen.

Dennoch spielt die neonazistische Partei vor Ort nach wie vor eine Rolle. So ist die NPD in Sachsen-Anhalt seit der Wahl im Mai 2014 mit 34 Mandaten in den Kommunalparlamenten vertreten. Allerdings erwies sich die Qualität der Arbeit ihrer Mandatsträger_innen in der zurückliegenden Legislaturperiode als mangelhaft und diskontinuierlich. Immer wieder jedoch versuchten und versuchen einzelne Abgeordnete der NPD gezielt dort rassistische Stimmungen zu verstärken, wo die Unterbringung von Asylbewerber_innen die Kommunen vor große organisatorische Herausforderungen stellt. Durch thematische Anfragen bemüht sich die Partei den Eindruck zu vermitteln, Asylbewerber_innen und Migrant_innen missbrauchten den Sozialstaat und schädigten das Gemeinwohl einer Kommune oder eines Landeskreises – u.a. aufgrund der Kosten, die durch ihre Unterbringung entstehen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Argumentation mit dem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen in größeren Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung trifft.

Während die NPD den eigenen Erwartungen an ihre Kommunalpolitik weitgehend nicht gerecht wird, vollzieht sich im Land ein widersprüchlicher Formierungsprozess der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Bei den Kommunalwahlen 2014 zog die AfD in Halle und Magdeburg jeweils in Fraktionsstärke in die Stadträte ein. Doch bereits nach zwei Monaten lösten sich die Fraktionen aufgrund interner Querelen wieder auf. Die in der Öffentlichkeit bekanntgewordenen Fälle von rassistischen und den Holocaust relativierenden Statements von Funktionsträger_innen der rechtspopulistischen Partei legen zudem den Schluss nahe, dass die Landespartei bisher nicht in der Lage ist, sich klar von explizit rechtsextremen Positionen zu distanzieren. Ungeachtet dessen ist davon auszugehen, dass die AfD ihren Strukturaufbau mit dem Ziel eines erfolgreichen Antritts zur Landtagswahl 2016 fortsetzen wird.

Herausforderungen für die Zivilgesellschaft

Die aufzunehmenden Asylsuchenden in den Landkreisen und Städten bieten organisierten Neonazis, aber auch Bürger_innen, die rassistische Ressentiments teilen, eine öffentliche Plattform. Aufgrund der zahlreichen internationalen Krisenherde wird die Zahl der Flüchtlinge mittelfristig weiter steigen. Sehr wahrscheinlich werden daher auch die Versuche von Neonazis zunehmen, diesen Umstand zur Mobilisierung gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte auszunutzen. Angesichts der anhaltenden Debatte über sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge werden auch antiromaistische Proteste wie in Halle weiter anhalten oder an anderen Orten Sachsen-Anhalts neu entstehen.

Der Erfolg solcher Instrumentalisierungsversuche hängt stark davon ab, wie „überzeugend“ organisierte Neonazis und Rassist_innen vor Ort auftreten können. Nicht zuletzt kommt es aber auch darauf an, wie sich Kommunen und Landkreise den Themen Flucht, Asyl und Zuwanderung annehmen bzw. die damit verbundenen Herausforderungen kommunizieren. Hier ist auch die Zivilgesellschaft gefordert, etwa bei der Organisation von Initiativen und Aktionen gegen rassistische Mobilisierungen auf der Straße und im Internet oder ganz praktisch in der Gestaltung einer Willkommenskultur.

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