Nicht in jedem Wäldchen herrscht Idylle.
Flickr / Hugo Campos / CC BY-NC 2.0

Realitätsverlust im "neurechten Wäldchen"

Am 17. Juni will die "Identitäre Bewegung" in Berlin demonstrieren. Mit 1.000 Teilnehmern wird gerechnet – seitens der "Identitären Bewegung". Optimistisch, denn tatsächlich hat die “Bewegung” in Deutschland nur etwa 400 Mitglieder. Das alles ist nicht ungefährlich: Die Selbstüberschätzung der angereisten neurechten "Elite" ist so groß, sie könnte zu einer Verschiebung im Raum-Zeit-Kontinuum führen und diese Stadt endgültig in ein schwarzes Loch aus gigantischen Egos, permanenter Selbstbeweihräucherung und feschen Undercuts stürzen. Quasi der Ist-Zustand der "Identitären".

Von Stefan Lauer

Martin Sellner, der österreichische It-Boy der Bewegung, veröffentlichte auf Sezession.de – Götz Kubitscheks Internettagebuch – eine Art Bestandsaufnahme der Neuen Rechten unter dem Titel “Das neurechte Wäldchen” und stellt fest, dass es nicht weiter geht in der "neuen patriotischen Bewegung". Im Stylesheet von Sezession.de scheint festgelegt zu sein, dass ausschließlich Texte in schwurbelnder, pathetischer Prosa das Licht des Internets erblicken dürfen. Dem fügt sich Sellner gerne.

In Kommentaren unter dem Beitrag wird der Autor nicht nur mit Lenin verglichen, sondern allen Ernstes auch die Neue Rechte mit dem Christentum. Denn trotz der Stagnation sieht Sellner ein Licht am Ende des Tunnels, einen ersten Schritt in Richtung Erlösung sozusagen. Er bemüht dabei eine geographische Metapher. Auf der einen Seite stünden die "Politisch Korrekten", auf der anderen Seite die "Dissidenten". Getrennt würden die beiden Gruppen bisher durch eine "karge Todeszone": "von Einschlagskratern übersät, mit Scheinwerfern ausgeleuchtet und von Scharfschützen überwacht." Aber immerhin, die Neue Rechte habe es geschafft, ein "neurechtes Wäldchen" auf dem Todesstreifen zu pflanzen, wo sich unbeobachtet Protagonisten aus beiden Lagern zum Stelldichein träfen. Und nicht nur das: Die Grenze würde porös. Auf dem "antideutschen Schutzwall", der die "Politisch Korrekten" vom Todesstreifen trennt, würden nämlich bereits viele warten, die nur einen Anlass bräuchten, um endlich Schutz in Sellners kleinem Wald zu suchen: "Jeder Terroranschlag, jede Vergewaltigung, jede Aussage von Käßmann und Co. pumpt einen neuen Schwall an Unzufriedenen hinaus, denen es 'einfach reicht'."

Kein schöner Waldspaziergang

Perspektivisch füllt sich also der Todesstreifen, die Grenzen zum Lager der "Dissidenten" verschwimmen und alle könnten endlich mal zusammen so richtig schön unzufrieden sein. Ganz egal über was: Morde, Vergewaltigungen oder erfundene Aussagen und das natürlich zusammen mit den sogenannten "Dissidenten" von der "alten Rechten".

Da können sich im "Wäldchen" Wolfgang Gedeon und Ursula Haverbeck – in Sellners Welt schließlich auch nur "Dissidentin" – treffen und über die jüdische Weltverschwörung und den Holocaust fachsimpeln, Beatrix von Storch kann die "Frühsexualisierung" geißeln, Horst Mahler und Björn Höcke treffen sich auf ein Kaltgetränk mit Landolf Ladig. Schade, dass das Waldsterben vorbei zu sein scheint.

Sellners Text liefert dabei wenig Informatives zum Zustand der Neuen Rechten, dafür aber viele Informationen darüber, wie man sich selbst sehen möchte. Denn: Selbsteinschätzung ist hier vor allem Selbstüberschätzung. Schaut man auf die Umfragewerte der AfD, dann ist "Stagnation" derzeit nicht das erste Wort, das einem einfallen könnte. In den letzten Landtagswahlen blieb die Partei einstellig. Auch Prognosen für die Bundestagswahl sehen sie derzeit bei mageren acht Prozent. Von den 14 Prozent, die die Rechtspopulisten im Oktober in den Umfragen erreichten oder gar den hohen Ergebnissen bei den Landtagswahlen 2016 ist die Partei weit entfernt. Und das, obwohl sie sich noch vor wenigen Monaten im Höhenflug sah. In einem geleakten Strategiepapier schrieben die Rechtspopulisten noch: "Ob Brexit, Wahlerfolge der Freiheitlichen Partei Österreichs oder der Wahlsieg Donald Trumps (…): solche Ereignisse (…) kommen der AfD zugute. (…) Problematisch wird die Lage im Ausland nur, wenn nach ihren Wahlerfolgen 'Rechtspopulisten' bei der Regierungsausübung versagen oder in massive Schwierigkeiten geraten. Dafür dürfte es aber 2017 auf jeden Fall noch zu früh sein." Ein Blick in die Nachrichten beweist: War es nicht. Die FPÖ stellt nicht den Bundespräsidenten in Österreich, genauso wenig wie der Front National in Frankreich, Donald Trump manövriert sich von einer Peinlichkeit zur nächsten und der Brexit ist weiterhin mehr Theorie als Praxis.

Möglicherweise ist Martin Sellner einfach ein bisschen zu weit in sein metaphorischen Wäldchen gewandert und kann nicht mehr genau erkennen, ob er vom "antideutschen Schutzwall" aus vielleicht doch eher ausgelacht als angelächelt wird.

Die Realität ficht Sellner allerdings nicht an. Seine neurechte Baumschule ist der "Ort der Sehnsucht und des neuen Anderen". Wie so oft in der Welt von AfD, Pegida und Co inszeniert auch Sellner sich als verführerischer Outlaw, der Dinge sagt und tut, die sich andere nicht trauen. "Das neue Andere" ist bei Licht und ohne tragenden Pathos betrachtet gar nicht neu, sondern reaktionär, rassistisch und antisemitisch.

Radikalisierung der Radikalen

Das einzige, das jetzt noch schief gehen kann, wäre – laut Sellner – eine Radikalisierung. Dadurch würde der angeblich riesige Rückhalt, den die Neue Rechte und damit die "Identitäre Bewegung" in der breiten Bevölkerung genießt, nämlich verspielt. Er beschwört "Gewaltlosigkeit" und "Transparenz". Dabei muss man sich nur kurz bei der IB umschauen, um zu erkennen, dass die Radikalisierung dieser Bewegung schon längst geschehen ist.

Robert Timm, Berliner Identitären-Chef, steht Anfang Mai zusammen mit dem Brandenburger AfD-Funktionär Jean Pascal Holm inmitten einer Gruppe rechter Fußballfans. Aus der Gruppe heraus wird mehrfach der Hitlergruß gezeigt und Parolen wie "Arbeit macht frei, Babelsberg 03" oder "Zecken, Zigeuner und Juden" gerufen. Oliver S., "Identitäre Bewegung Harz", war Mitglied der Jugendorganisation der NPD und bis 2015 bei Neonazi-Aufmärschen unterwegs. Mario Alexander Müller, der Kopf der "Kontrakultur Halle", einer "Identitären"-Gruppe, ist zweimal wegen Körperverletzung vorbestraft und war ebenfalls Mitglied der "Jungen Nationaldemokraten".

Thorsten Hahnel beobachtet die rechtsextreme Szene in Sachsen-Anhalt. Laut seiner Einschätzung gegenüber BelltowerNews, stammen etwa zwei Drittel der "Kontrakultur"- und "IB"-Mitglieder aus organisierten Neonazi-Strukturen: "Die 'Identitäre Bewegung' als auch die 'Kontrakultur' ist ein Sammelbecken für Personen aus rechten und neonazistischen Strukturen, die sich strategisch von diesen Szenen abgrenzen wollen.”

An Demonstrationen der "Jungen Alternative" nehmen zusammen mit "Identitären" auch verurteilte Neonazis teil. Pierre B. zum Beispiel, seit Dezember 2016 auf zwei Jahren Bewährung, nachdem er zwei Schüler eines Braunschweiger Gymnasiums so brutal zusammengeschlagen hatte, dass einer der beiden einen doppelten Kieferbruch davon trug. Das "Flensburger Tageblatt" und die taz berichten über eine mögliche Messerattacke auf einen Antifa-Aktivisten durch IB-Anhänger. Und nicht zuletzt gefährdet die IB mit ihrer neuesten Aktion direkt Menschenleben, wenn sie versucht, Seenotretter im Mittelmeer von ihrer Arbeit abzuhalten.

So sehr Sellner und seine Kameraden auch versuchen, die Neue Rechte und die "Identitäre Bewegung" als gemäßigt und respektabel darzustellen, so wenig sind sie das in der Realität. Und egal mit wie viel Pathos Gewaltlosigkeit beschworen wird, der Wirklichkeit hält auch das nicht stand. In Sellners "neurechtem Wäldchen" trifft man keine romantischen "Renegaten" und "Aussteiger", sondern Wutbürger, rechte Schläger, Rassisten und Antisemiten.

Titelfoto oben: Flickr Hugo Campos / CC BY-NC 2.0

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