Großes Medieninteresse bei der Pressekonferenz der NSU-Nebenklagevertreter
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"Heute ist nicht der Tag des großen Abhakens": NSU-Nebenklagevertreter kritisieren Abschlussbericht

Anwältinnen und Anwälte der NSU-Opfer haben den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses deutlich kritisiert: In einer gemeinsamen Erklärung bemängelten sie, der Ausschuss habe das zentrale Problem, nämlich "institutionellen Rassismus" nicht erkannt.

Von Redaktion

"Die Arbeit des Ausschusses ist nicht getan. Heute ist nicht der Tag des großen Abhakens." Mehmet Daimagüler fand bei der Vorstellung einer gemeinsamen Erklärung der NSU-Nebenklagevertreterinnen und –vertreter klare Worte. 17 Anwältinnen und Anwälte benennen darin deutlich ihre Forderungen an Sicherheits- und Ermittlungsbehörden, aber auch an die Politik. Dazu gehört etwa die Abschaffung der V-Mann-Praxis oder die Einrichtung unabhängiger Kontrollstellen für staatliche Institutionen wie der Polizei, aber auch Schulen.

Carsten Ilius stellte dabei fest: "Wir haben beim NSU-Fall ein doppeltes Anerkennungsproblem. Zum einen wird der institutionelle Rassismus nicht benannt, zum anderen werden Opfer rechter Gewalt nicht anerkannt." Insbesondere ersteres ist für die Anwältinnen und Anwälte ein zentrales Problem des Abschlussberichts, den der NSU-Untersuchungsausschuss am Donnerstag in Berlin vorstellte. Angelika Lex konkretisierte bei der Präsentation der gemeinsamen Erklärung: "Die Forderungen des Untersuchungsausschusses greifen mir zu kurz." Als allererstes müsse institutioneller Rassismus bekämpft werden. Sebastian Scharmer ergänzte: "Dieser institutionelle Rassismus ist im NSU-Fall so klar, dass es uns ärgert, dass die Obleute des Ausschusses sich in diesem Punkt auf keine gemeinsame Erklärung einigen konnten." Sein Kollege Daimagüler führte aus, dass zur Arbeit des Untersuchungsausschusses eben nicht nur die Aufklärungsarbeit gehöre, sondern eben auch die Schaffung von Vertrauen durch genau diese Arbeit. "In der Hinsicht muss ich leider feststellen, dass nichts passiert ist", so Daimagüler.

Längst überfällige Debatte

Daimagüler sagte weiter, er habe Mitleid mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt: "Nicht mit den Mördern, sondern mit den Kindern, die sie mal waren und die ihr Leben noch vor sich hatten." Nazis würden nicht als Nazis geboren und Mörder nicht als Mörder. Hier müsse sich die Gesellschaft ihrer Verantwortung bewusst werden. In dem Zusammenhang sei auch Sprache wichtig. "Wie reden wir denn derzeit über Sinti und Roma? Wie wurde in der Beschneidungsdebatte über Juden und Muslime geredet?" fragte der Anwalt. Über diese Fragen müsse gesprochen werden. "Dafür wünsche ich mir Impulse aus dem Parlament."

Bei aller Kritik betonten die Anwältinnen und Anwälte, die Arbeit des Untersuchungsausschusses sei nicht gescheitert, sondern äußerten Anerkennung dafür. Allerdings fehle die Schlussfolgerung. "Ohne die Bezeichnung des institutionellen Rassismus fehlt die Verbindung zwischen der Ausschussarbeit und der gesellschaftlichen Debatte", erklärte Carsten Ilius. Die Benennung des Problems wäre ein politisches Signal für eine längst überfällige Debatte gewesen.

Die Erklärung im Wortlaut:

"Sie dürfen nicht den Fehler machen, die Dinge aus heutiger Sicht zu beurteilen. Damals hatten wir keine Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Hintergrund", erklärt der pensionierte Kriminaloberrat Wilfling am 11.07.2013 bei seiner Aussage im Prozess gegen Beate Zschäpe u.a. vor dem Oberlandesgericht München. "Jetzt tun Sie mal nicht so, als würde es keine türkische Drogenmafia geben".

Wilfling ist als Münchener Mordermittler langjährig erfahren. Er hat Bücher über seine Arbeit veröffentlicht und würde sich nie als Rassist sehen. Und doch verdeutlicht seine Aussage das Problem: Das katastrophale Versagen der Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU ist keine Summe der Fehler von Einzelnen. Der Fehler liegt im System. Vorurteile werden nicht hinterfragt. "Ausländer" müssen von "Ausländern" ermordet worden sein. Hintergründe sind selbstverständlich im Bereich Organisierter Kriminalität zu suchen.

Mangelndes Engagement kann man den Ermittlungsbehörden dabei freilich nicht vorwerfen. Hunderte Zeuginnen und Zeugen wurden selbst in der Türkei verhört, Drogenhunde eingesetzt, fingierte Dönerbuden eröffnet, verdeckte Ermittler als Journalisten eingesetzt, Steuerbanderolen auf Zigarettenschachteln überprüft; selbst ein Wahrsager wurde befragt. Uber elf Jahre fahndeten hunderte Ermittler in die falsche Richtung. Alle Zeugen, alle Analysen, alle Beweismittel, die auf rassistisch motivierte Anschläge hindeuteten, wurden konsequent ignoriert.

Heute wird dazu der Bericht der Untersuchungsausschuss des Bundestages veröffentlicht. Genau das entscheidende Problem wird darin in der gemeinsamen Wertung nicht benannt:

Institutioneller Rassismus.

Unabhängig von der persönlichen Einstellung und den Absichten der Beamten, folgen die Ermittlungsbehörden einer inneren Logik, Normen und Werten, deren rassistische Konsequenzen sich unter anderem in den Ermittlungen zur Mord- und Anschlagsserie des NSU wiederfinden.

Hochgelobt für das parteiübergreifende Engagement der Obleute, schafft es nun zu Zeiten des Wahlkampfs gerade der Untersuchungsausschuss nicht, das Problem so zu bezeichnen, wie es sich uns präsentiert. Wir sind RechtsanwältInnen und NebenklagevertreterInnen im so genannten NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München. Wir haben die Akten gelesen. Wir haben Zeuginnen und Zeugen gehört. Wir haben aber vor allen Dingen von unseren Mandantinnen und

Mandanten erfahren, wie sie nach den Taten jahrelang selbst im Fokus der Ermittlungen stehen mussten.

Das heißt:

  1. Hinterbliebene und Verletzte fordern die Anerkennung auch in der Politik, dass das systematische Versagen der Ermittlungsbehörden auf institutionellem Rassismus beruht. Das Problem muss klar benannt werden. Alles andere wäre Augenwischerei. Morde hätten verhindert werden können.
  2. Wir fordern eine Neueinsetzung des Untersuchungsausschusses in der nächsten Legislaturperiode. Eine lückenlose Aufklärung der Taten des NSU und der möglichen Verwicklungen der Ermittlungsbehörden und des Verfassungsschutzes ist lange nicht abgeschlossen.
  3. Bei jedem Gewaltverbrechen muss in Zukunft frühzeitig und nachvollziehbar in den Akten vermerkt und begründet werden, wenn die Ermittlungsbehörden der Auffassung sind, dass eine rassistisch oder neonazistisch motivierte Tat ausgeschlossen werden kann.
  4. Wir fordern eine Ausbildung und stetige Qualifikation aller Polizeibeamten, die institutionellem wie individuellem Rassismus entgegenwirkt. Zudem müssen gut ausgebildete und szenekundige Abteilungen bei den Landespolizeien neu aufgebaut und neu besetzt werden, die sich spezifisch mit rechter Gewalt beschäftigen und allgemeine Abteilungen für "Staatsschutzdelikte" ersetzen. Diese Ermittlungsgruppen müssen zukünftig immer dann zwingend an den Ermittlungen beteiligt werden, wenn ein rechter Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann.
  5. Bei den Staatsanwaltschaften müssen Abteilungen gebildet werden, die für rechte Gewalttaten gesondert zuständig und ausgebildet sind. Abteilungen, die allgemein für "politisch motivierte" Taten oder gar zusätzlich für Delikte von und gegen Polizeibeamte zuständig sind, genügen dafür keinesfalls.
  6. Es muss verstärkt darauf hingewirkt werden, dass BeamtInnen mit Migrationshintergrund auch in Führungspositionen geworben werden. Weil dies bislang offensichtlich nicht gelungen ist, sollte zur Umsetzung zunächst eine verbindliche Quote festgesetzt werden. Rassistischen Tendenzen innerhalb der Ermittlungsbehörden muss konsequent – auch disziplinarisch - entgegengewirkt werden.
  7. Das V-Mann-System der Verfassungsschutzbehörden hat versagt und gehört aufgelöst. Es fordert rechtsradikale Entwicklungen mehr, als dass er sie verhindert. Der Verfassungsschutz hat gerade im Hinblick auf den NSU bewiesen, dass enorme Ressourcen in V-Leute gesteckt wurden, die nur bekannte, zu wenig oder gar bewusste Falschinformation geliefert haben. Das Geld der V-Leute ist teilweise in den Aufbau von Neonazi-Strukturen geflossen. Ein Verbotsverfahren hinsichtlich der NPD scheiterte auch an der weitgehenden Integration von V-Leuten in der Partei bis in die Führungsspitze. Es bleibt grundsätzlich zu diskutieren, inwieweit die notwendige Aufklärung über neonazistische Aktivitäten ausschließlich die Polizeibehörden besorgen können.
  8. Opfer rechter Gewalt seit 1990 sind lückenlos entsprechend der Liste der Amadeu Antonio Stiftung, der "Zeit" und des "Tagesspiegels" als solche anzuerkennen.
  9. Die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt müssen erhalten, flächendeckend ausgebaut und gefördert werden.
  10. Es sind auf Landes- und Bundesebene Kontrollgremien einzuführen, die als unabhängige Ansprechpartner für Betroffene von institutionellem oder persönlichem Rassismus durch die Ermittlungsbehörden oder für "Whistleblower" in solchen Fällen zur Verfügung stehen. Diese sollten mit effektiven Kontrollbefugnissen ausgestattet und durch das Parlament eingesetzt werden.

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte: Antonia von der Behrens, Dr. Mehmet Daimagüler, Dr. Björn Elberling Berthold Fresenius, Alexander Hoffmann, Carsten Ilius, Detlef Kolloge, Stephan Kuhn, Angelika Lex, Stephan Lucas, Ogün Parlayan, Jens Rabe, Eberhard Reinecke, Aziz Sariyar, Sebastian Scharmer, Reinhard Schön, Peer Stolle.

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