Von Willy Dreßen
Das Wort Euthanasie – aus dem Griechischen – bedeutet Sterbehilfe. Gemeint ist die Erleichterung des Endes eines mit Sicherheit und auf qualvolle Weise verlöschenden Menschenlebens. Eine gefährliche Verfälschung erfuhr der Begriff im Zusammenhang mit dem sogenannten Sozialdarwinismus und der um die Jahrhundertwende aufkommenden Eugenik bzw. Rassenlehre. 1920 veröffentlichten die bekannten wissenschaftlichen Autoren Karl Binding und Alfred Hoche ihr Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Darin wurden Standarddefinitionen, wie sie später im nationalsozialistischen Gedankengut gebraucht wurden, vorweggenommen: „Ballastexistenzen“, „Neben-Menschen“, “Defektmenschen“, „geistig Tote“, „leere Menschenhülsen“.
Hitler knüpfte in Mein Kampf an diese Gedanken an. Nach der Machtergreifung wurde in suggestiver Form für die so aufgefasste Euthanasie in Presse, Rundfunk und Film, aber auch in Schulbüchern Propaganda gemacht. Die Planungen für kommende Maßnahmen blieben jedoch geheim. Hitler wollte aus Angst vor Protesten der Öffentlichkeit und des Auslandes erst bei Ausbruch des erwarteten Krieges mit den Krankentötungen beginnen, weil er glaubte, dann seien sie besser geheimzuhalten. In der zweiten Jahreshälfte 1938 gingen in der „Kanzlei des Führers“ zunehmend Bittschriften von Eltern ein, die für ihre Kinder den Gnadentod erbaten. Bei der „Kanzlei des Führers“ wurde eine Tarnorganisation gebildet. Durch Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939 mussten missgebildete Kinder gemeldet werden. Sie wurden dann nach einer formellen Begutachtung in so genannte Kinderfachabteilungen gebracht und dort durch Gift oder durch Verhungernlassen getötet.
Nach der Besetzung Polens im September 1939 ging die Leitung der dortigen Heilanstalten in deutsche Hände über. Arbeitsunfähige Kranke der polnischen Heilanstalten Owinska, Dziekanka, Koscian, Srem, Warta, Turek, Konin und Wloclawek wurden den Gesundheitsverwaltungen gemeldet und anschließend von dem Sonderkommando Lange in einem mit CO-Gasflaschen bestückten Gaswagen getötet. Auf die gleiche Weise wurden im Herbst 1939 in einer provisorischen Gaskammer im Fort VII in Posen Geisteskranke ums Leben gebracht. Kranke aus pommerschen und westpreußischen Heilanstalten wurden von dem SS-Wachsturmbann Eimann im Wald von Piasnica erschossen.
Der Beginn der Krankenmorde im besetzten Polen beschleunigte die Organisation der „Euthanasie“ im Reich. Im Oktober 1939 unterschrieb Hitler eine Tötungsermächtigung, deren Text auf privatem Briefpapier seiner Kanzlei niedergelegt und auf den 1. September rückdatiert war. Dieser Text – in dem von der Gewährung des Gnadentodes die Rede ist – verschleierte von Anfang an, dass es nicht um Gnadentod, sondern um die „Ausmerzung“ der arbeitsunfähigen und lästigen Kranken ging.
In der Folgezeit wurden Mitarbeiter für die „Euthanasie“-Organisation, die später nach dem Sitz der Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, die Tarnbezeichnung „Aktion T4“ erhielt, angeworben, wobei kein Zwang ausgeübt, die Angeworbenen jedoch zur Geheimhaltung verpflichtet wurden. Um aus dem Schriftverkehr der Organisation Rückschlüsse auf die beteiligten Dienststellen zu verhindern, führte man Tarnbezeichnungen ein. Die beiden wichtigsten waren die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, kurz „RAG“, zuständig für die Anordnung der Krankenverlegungen, geleitet von Professor Werner Heyde und später von Professor Hermann Paul Nitsche, und die „Gemeinnützige Krankentransport GmbH«“(Gekrat), Halterin der berüchtigten grauen Omnibusse mit getarnten Fenstern, die dem Amtsleiter der Kanzlei des Führers, Reinhold Vorberg (Deckname „Hintertal“), unterstand.
An die einzelnen Heilanstalten wurden Meldebogen verteilt. Als durchsickerte, um was es sich handelte, weigerten sich viele Anstalten, diese auszufüllen oder klassifizierten fast alle Kranken als arbeitsfähig. Vielfach wurden auch Angehörige aufgefordert, die Patienten schleunigst nach Hause zu holen. In die „renitenten“ Anstalten wurden Ärztekommissionen geschickt, die die Kranken nur nach schriftlichen Unterlagen meldeten. Die Kranken wurden nach einer vorherigen formellen Begutachtung in die Tötungsanstalten Grafeneck bei Reutlingen, Brandenburg/Havel, Bernburg an der Saale, Hartheim bei Linz an der Donau, Sonnenstein in Sachsen und Hadamar bei Limburg (vier Anstalten waren jeweils gleichzeitig in Betrieb) gebracht und dort ab Januar 1940 mit CO-Gas, das über das Kriminaltechnische Institut des Reichskriminalpolizeiamtes in Gasflaschen der Firma IG-Farben Ludwigshafen besorgt wurde, getötet. Beim Abtransport mussten, da der Zweck der Aktion bekannt geworden war und viele Kranke durchaus nicht abgestumpft waren, Patienten oft mit Gewalt in die Busse gezerrt werden. Um die Geheimhaltung wieder zu sichern, verlegte man ab Herbst 1940 die Kranken in so genannte Zwischen¬anstalten.
Die Angehörigen erhielten „Trostbriefe“, in denen ihnen angeboten wurde, die Urne mit der Asche der Leiche des Kranken, die man aus seuchenpolizeilichen Gründen habe einäschern müssen, zu übersenden. So genannte Absteckabteilungen sorgten, indem sie die Todeszeit und den Todesort des Opfers abänderten, dafür, dass nicht zu viele Angehörige aus demselben Bezirk zur gleichen Zeit Trostbriefe erhielten. Pannen, die immer wieder vorkamen (Angehörige bekamen Urnen, die nur Stroh enthielten etc.), sorgten für immer mehr Gerüchte. Die Beunruhigung wuchs, als Alkoholiker, Senile, Fürsorgezöglinge etc. bei den Meldebogenaktionen erfasst wurden. Proteste der Bevölkerung und vor allem der beiden Kirchen häuften sich. Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, geißelte am 3. August 1941 in einer Predigt den staatlichen Krankenmord. Die Vergasungsaktion an den erwachsenen Geisteskranken wurde daraufhin eingestellt; die Aussonderung und Vergasung der kranken KZ-Häftlinge im Rahmen der so genannten Aktion 14 f 13 und die Kinder-»Euthanasie«, die zirka 5000 Opfer forderte, waren davon jedoch nicht betroffen.
Der Krankenmord ging danach in versteckterer Form –Gift und Verhungernlassen – in bestimmten Heil- und Pflegeanstalten, wie Uchtspringe, Kaufbeuren, Niedernhart und vor allem Meseritz-Obrawalde in Pommern, weiter. Die Bezeichnung dieser Aktion als »wilde Euthanasie« vermittelt einen falschen Eindruck. Die Transportleiter der »Gekrat« holten nach den vorbereiteten Listen in gleicher Weise wie in der ersten Phase die Kranken aus den Zwischenanstalten ab.
Die jüdischen Heilanstaltsinsassen waren ohnehin nach einem Erlass des Reichsinnenministers vom 15. April 1940 ohne Rücksicht auf ihre Arbeitsfähigkeit und den Grad ihrer Erkrankung erfasst und zum größten Teil in der Tötungsanstalt Brandenburg vergast worden. Ihr Tod wurde von einem in Berlin eingerichteten fingierten Sonderstandesamt mit der Bezeichnung »Irrenanstalt Chelm« (Cholm II, Post Lublin) beurkundet. Dabei wurden die Sterbedaten verschoben und die Pflegekosten noch monatelang nach dem Tod eingezogen.
In der ersten Phase bis zum „Stopp der Aktion“ wurden nach einer erhalten gebliebenen Statistik 70273 Kranke getötet. Wie viele Kranke in der zweiten Phase der „Euthanasie“ noch getötet worden sind, ist nicht genau bekannt. Nach Schätzungen dürften in den beiden Phasen der Aktion etwa 120000 Kranke getötet worden sein. Die deutsche Medizin benutzte die Leichen der Opfer, die ihr von der T 4 zur Verfügung gestellt wurden, zu Forschungszwecken. Mehr als die Hälfte der medizinischen Institute arbeitete mit der RAG zusammen. Besonders die Hirnforschung profitierte von den gebotenen Möglichkeiten. Bis in neuere Zeit wurden entsprechende Präparatsammlungen, so z.B. im Max-Planck-Institut in Frankfurt a.Main, benutzt.
Nach dem Krieg wurden nur wenige Beteiligte der T 4 von deutschen Gerichten verurteilt. Viele der Akteure machten wieder Karriere.
Dieser Text ist aus dem Buch Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte von Wolfgang Benz (Hrsg.)