„Der Nährboden für rechtsextremistische Strömungen liegt in der Soziologie der Gesellschaft“

Warum werden Leute eigentlich Nazis? Belltower.news betreibt ab jetzt einmal wöchentlich Ursachenforschung und fragt Fachleute nach ihrer Einschätzung. Heute im Gespräch mit Thilo Schmidt, Fachjournalist und Lehrbeauftragter der Universität der Künste, Berlin.

Was sind die Ursachen von Rechtsextremismus?

Schwierige Frage. Eine einfache Antwort ist nicht möglich – und dennoch machen es sich viele „Experten“ zu einfach. Mal liegt es an der Arbeitslosigkeit, mal an der DDR-Erziehung. Mag sicher beides eine Rolle spielen. Auch ich behaupte nicht, die genaue Antwort zu kennen, glaube aber, dass der Nährboden für rechtsextremistische Strömungen in der Soziologie der Gesellschaft liegt, und zwar genauer gesagt darin, dass es grundsätzliche fremdenfeindliche, antisemitische oder antidemokratische Tendenzen bei einem bestimmten Teil der Gesellschaft gibt, und zwar in Ost und West. Diese Zahlen entwickeln sich völlig unabhängig von Wahlergebnissen rechtsextremer Parteien und sind auch in Bundesländern signifikant, in denen die Rechtsextremen bei Wahlen keine Rolle spielen. Anschaulich belegt durch verschiedene Untersuchungen, zum Beispiel die Studie „Deutsche Zustände“ von Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld. Vermutlich speist sich ein guter Teil der rechtsextremen Szene aus diesem gewissen Prozentsatz, weil im Denken eine grundsätzliche Bereitschaft vorhanden ist, die einfachen Losungen der Rechtsextremen zu übernehmen.

Warum denken und/oder handeln manche Menschen rechtsextremistisch?

Einerseits weil sie, wie oben beschrieben, eine antidemokratische, rassistische oder antisemitische Grundhaltung einnehmen. Woher die wiederum kommt, ist fraglich, sicherlich werden auch pädagogische Gründe oder frühkindliche Denkmuster eine Rolle spielen. Andererseits ist es vorstellbar, dass bestimmte Schlagworte, die mit einer gewissen Normalität in der Öffentlichkeit kursieren, fremdenfeindliche Haltungen zumindest nicht verhindern, vielleicht sogar befördern. Ohne dass man es vielleicht will, kommt man den Rechtsextremen dort ein Stück entgegen: Worte wie „Hassprediger“ oder „Kopftuchmädchen“ werden zu wenig hinterfragt und differenziert.

Wie beziehungsweise wodurch gelangen Menschen in ein rechtsextremistisches Umfeld?

Da gilt insbesondere für den strukturschwachen Osten: NPD und Kameradschaften besetzen zunehmend den öffentlichen Raum – und übernehmen dort Aufgaben, aus denen sich die demokratischen Parteien und der Staat zurückgezogen haben: Kinderbetreuung, Jugendausflüge, Dorffeste. Sie engagieren sich in freiwilligen Feuerwehren, übernehmen gar ganze Jugendklubs. So mischt sich dann beispielsweise die NPD schleichend in viele Lebensbereiche ein und wird als völlig normale Partei wahrgenommen.

Anders sieht es in Gegenden vor allem in Westdeutschland aus, in denen es eine starke zivilgesellschaftliche Geschlossenheit der Demokraten gibt, dort strahlt die rechtsextreme Szene etwas Rebellenhaftes aus, Abenteuerlust und grundsätzliche Protesthaltung mag ein Grund sein, mitzumachen. Aber auch hier gilt: Ohne rechtsextreme Grundhaltungen wird man kaum ein Neonazi werden.

Thilo Schmidt ist Journalist und hat zur Zeit einen Lehrauftrag an der Universität der Künste Berlin. Für seine journalistische Tätigkeit hat er in diesem Jahr den Preis „Rechtsextremismus im Spiegel der Medien“ verliehen bekommen.

| Alle Ursachen-Analysen

drucken