Attentate von Norwegen: Das rechte Gewalttäter-Spektrum wird erweitert

Die Attentate von Oslo und Utoya erschüttern Norwegen und die Welt. Die Motive zur Tat hat Täter Anders Behring Breivik weit gestreut verbreitet: Doch trotz des expliziten 1516-Seiten-Manifests des Täters samt Video-Zusammenfassung ist es für viele schwer zu fassen, dass es kein NS-bezogener Neonazi, sondern ein nationalistischer Islamfeind mit christlich-konservativem Background mit Hang ins Verschwörungstheoretische ist, der zu den Waffen gegriffen hat. Dabei findet sich die Nahrung für seine Weltanschauung überall im Internet und in der realen Welt. Nur seine mörderische Konsequenz möchten rechtskonservative und rechtspopulistische Kreise nicht tragen.

Von Simone Rafael und Johannes Baldauf

Könnte es Attentate eines menschenverachtenden Einzeltäters wie jetzt in Norwegen auch in Deutschland geben?

Die Antwort ist leider: Ja, natürlich. Denn ein Zuwanderer- und besonders islamfeindliches Klima herrscht auch in Deutschland schon lange. Allerdings ist die Gesellschaft hierzulande mehr daran gewöhnt, dass Gefahr von Neonazis ausgeht, die sich offen auf die mörderische Ideologie des Nationalsozialismus beziehen. Wenn Neonazis Menschen aus rassistischen oder politischen Gründen das Leben nehmen, ist dies erschütternd, aber auf zynische Weise folgerichtig. Seit 1990 haben in Deutschland 150 Menschen durch Rechtsextreme und Rassisten ihr Leben verloren. Es ist nicht so, dass dies jedes Mal öffentlich beklagt und angeprangert würde. Oft genug tut sich die deutsche Gesellschaft schwer, die ideologisch bedingte Menschenverachtung zu erkennen, wenn ein Neonazi einen Obdachlosen erschlägt, oder einen rassistischen Mord nicht als „Streit unter Jugendlichen“ zu klassifizieren. Die Richter des Landgerichts Leipzig im Prozess um den im Oktober 2010 in Leipzig ermordeten Kamal Kilade waren eine rühmliche Ausnahme, als sie im Rechtsextremismus der Täter auch die Tatmotivation erkannten.

Eine neue Gewalttäter-Persönlichkeit

In Norwegen aber war es noch nicht einmal ein Neonazi, der 93 Menschen das Leben nahm. Das Spektrum der mörderischen Menschenfeinde auf der extrem rechten Seite wird größer. Der Täter stellt sich als nationalistischer, völkisch argumentierender Islamfeind dar. Über das Internet erlas und erdachte sich Anders Behring Breivik eine Welt, in der ihm Gewalt als einzig verbleibendes Mittel erschien, um die „Multi-Kulti-Gesellschaft“ zu verhindern, von der er sich umzingelt sah. Rechtskonservative und rechtspopulistische Kreise diskutieren diese Thesen schon lange: Die Angst vor den Zuwanderern, besonders denen muslimischen Glaubens. Das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, in der man sich von politischen Feinden umzingelt wähnt und sich deshalb fühlt, als würde man politisch nicht genug gehört. Befeuert werden solche Ängste gesellschaftlich, wenn selbst prominente Politiker sie schüren. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte noch im Oktober 2010, die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert. Thilo Sarrazins' Thesen über das allzu lammfromme und sich damit abschaffende Deutschland liegen im Buchhandel zwar nicht mehr in der ersten Reihe - aber immer noch prominent in jeder Auslage. Nur was ist die Konsequenz solcher völkisch-nationalistischen Reden, die der Einfachheit halber Sündenböcke suchen und sie in Menschen anderer Kulturen, Religionen und Länder finden? Attentäter Anders Behring Breivik zog eine. Sie war für 93 Menschen tödlich.

Reaktionen aus dem rechtspopulistischen Spektrum

Die Attentate von Oslo und Utoya könnten Anlass für einen Moment der Reflexion über politisches Handeln sein. Das möchte man selbst Rechtspopulisten zutrauen, die sonst nicht müde werden, islamfeindliche, nationalistische und völkische Thesen zu schüren. Wenn "Pro Deutschland" sich am heutigen Montagmorgen vor die norwegische Botschaft stellen, um ihr Mitgefühl für die Opfer des Anschlags pressewirksam zu präsentieren, ist es bei allem Gefühl der Instrumentalisierung, das sich einstellt, eine menschliche und verständliche Reaktion.

Größere Teile der neurechten und rechtspopulistischen Szene in Deutschland haben allerdings nur um eins Angst: Um sich selbst. So veröffentlichte etwa die neurechte Zeitung "Junge Freiheit" einen Kommentar, der exemplarisch ist: Autor Fabian Schmidt-Ahmad kommt in seinem Kommentar anlässlich des Attentats in Norwegen als erste Idee der Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 1933. Das bringt ihn zu seiner Kernthese: Nun würde das Attentat genutzt, um einen "christlich-konservativer Terroristen" zu konstruieren (als hätte der nicht sehr real 93 Menschen das Leben genommen). Schmidt-Ahmad stellt über das Facebook-Profil des Attentäters fest: "Mit anderen Worten: es hätte auch mein Steckbrief sein können." Das bringt ihn allerdings nicht zum Nachdenken über die Inhalte seiner Überzeugungen, sondern zum Klagen: "Die kolportierte Lüge vom "Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft", jetzt ist sie endlich wahr geworden." Ähnlich argumentieren auch Rechtsextreme in einschlägigen Foren, die sich selbst nun als - natürlich zu Unrecht - "verfolgt" ansehen, weil einer von ihnen 93 Menschen ermordet. Dementsprechend klingt Schmidt-Ahmads Schlussatz "Der Schrecken dieser furchtbaren Tragödie dürfte nur der Auftakt gewesen sein" wie eine Drohung.

Islamfeinde wähnen sich schon lange im Krieg

Denn Islamfeinde wähnen sich in ihren Gedanken und Internetforen schon lang in einem Krieg. Den beschreibt ein Leser des rechtsextremen Blogs Altermedia in seinem Kommentar so: "Die Vorgänge in Norwegen sind doch nur ein erstes Wetterleuchten dessen, was da noch auf Europa zukommen wird. Der Krieg um Überleben oder Untergang der europäischen Völker hat schon vor Jahrzehnten begonnen. Er wird bislang nur nicht offen mit Waffen, sondern im Stillen, mittels Geburtenraten und allmählicher Überfremdung geführt – und diesen schleichenden Krieg der gefüllten Wiegen, den haben wir heute bereits verloren!"

Der "Mossad" war's

Wem das irrational erscheint, kann sich in Rechtsaußen-Medien belehren lassen, dass es in dieser Szene noch viel wirrere Gedankenkonstrukte über Ursachen und Wirkungen gibt. Die Reaktionen der Rechten im Netz reichen von antisemitischen Verschwörungsphantasien über Schuldzuweisungen an die Gesellschaft bis hin zur Ankündigung, dass die Taten in Norwegen der Auftakt zu einem Bürgerkrieg in Europa seien.

So vermuten etwa die rechtsextremen „Kompakt Nachrichten“ eine „Internationale Politverflechtung“: Die Attentate mögen im Kontext des Nahostkonflikts gesehen werden. Norwegen beabsichtige, die palästinensische Forderung nach einem eigenen Staat zu unterstützen. „Nach dieser Auffassung waren die Terrorakte ein „Schuß vor den Bug“ des Abweichlers Norwegen“. Das bedeutet also, dass die "Kompakt Nachrichten" in bester antisemitischer Manier Israel und/oder den "Mossad" als Drahtzieher der Geschehnisse in Oslo sehen.

Auch in eine verschwörungtheoretische Kerbe haut das Facebook-Profil von NPD-Funktionär Frank Franz, das sich wie viele rechtsextreme Kommentatoren vom Täter abzusetzen versucht, indem sie darauf konzentriert, ihn als "Freimaurer" darzustellen: "Nach den Vorfällen in Norwegen kommen mir jetzt aber schon Zweifel, ob die großen Weltbürger und Freimaurer so friedfertig sind? Nur der Vorsicht wegen, sollten sich die Strafverfolgungsbehörden etwas näher mit diesen Freimaurern befassen. Ach, was schreibe ich. Wer in Politik und Wirtschaft etwas zu melden hat, kennt sich bei denen ja bestens aus."

Die Linke nutzt's

Begleitend dazu veröffentlicht die „Kompakt Nachrichten“ eine Kolumne, in der Michael Winkler feststellt: „Der einzige Zweck solcher Inszenierungen und der Meldungen darüber ist der Versuch der Volksverhetzung.“ Denn in einem ist man sich einig: „die Linke hat eine mächtige Propagandawaffe gegen ihre Gegner in die Hand bekommen, die sie schamlos ausnützen wird.“ Passend dazu empört ein Nutzer in der Gruppe „Konservative Stimme!!!“ auf Facebook: „schau grad >Berlin direkt< Unglaublich, mit welcher Offensichtlichkeit hier der Anschlag von Oslo für politische Zwecke missbraucht wird!!!

Schuldumkehr: Der "arme Täter" als Opfer

Schuld an den Anschlägen ist natürlich nicht etwa der Täter, sondern die Gesellschaft. Breivik, so wird argumentiert, habe gar nicht anders handeln können. Zwar wird er meist als Psychopath abgestempelt, aber der Umstand, dass er überhaupt zum Psychopathen wurde, wird der Gesellschaft angelastet, wie etwa in einem Text von Martin Lichtmesz auf den neurechten Blog "Sezession": „Das gehäufte Auftauchen von amoklaufenden Psychotikern in bald allen europäischen Ländern ist dennoch ein ernstzunehmendes, zutiefst beunruhigendes Symptom für den inneren Zerfall unserer Zivilisation.“ Dieser angebliche Zivilisationsverfall sei dann auch der Nährboden, „der Bestien wie den norwegischen Attentäter hervorbringt. Wer weiß, wieviele seiner Art bereits gleich scharfen Bomben darauf warten, bis ein Erdbeben sie zum Explodieren bringt. Wer weiß, an wievielen Stellen und in wievielen Menschen in den liberalsten und aufgeklärtesten und wohlständigsten und „demokratischen“ Ländern der Welt die Schicht zwischen Zivilisation und Barbarei schon morsch ist – und es sind beleibe nicht „die Rechten“, die dafür die Verantwortung tragen.“

Breivik wird so zum Opfer der Gesellschaft umgedeutet und sein Handeln entschuldigt, wenn nicht sogar verstecktes Verständnis geäußert.

Noch deutlicher formuliert es Blogger Michael M. in seinen "politisch unkorrekten Gedanken" zum Attentat: „Die westlichen Verteidiger des Islam sind Kollaborateure der islamischen Hassideologie, haben Muslime millionenfach in ihre Länder geholt und das Gesicht Europas in einem historisch beispiellosen Ausmaß bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Sie haben damit den Willen der überwiegenden Mehrheit der indigenen Europäer vergewaltigt und sind daher die wahren Verantwortlichen für das Norwegen-Massaker.

Die Schuldumkehr von der eigenen menschenverachtenden Meinung auf die multikulturelle Gesellschaft ist der am häufigsten zu beobachtende Reflex rechter Akteure im Netz, wenn es in den letzten Tagen um Norwegen ging. Unverblümter äußern sich Nutzer in der Gruppe „Konservative Stimme!!!“ auf Facebook: „Norwegen wurde jahrelang durch brutale Gruppenvergewaltigungen von Norwegischen Frauen und Mädchen durch farbige, vor allem muslimische Sozialschmarotzer heimgesucht und damit die Statistik in ganz Europa angeführt. Die Presse hat überhaupt keine Ahnung von der tatsächlichen Lage in Europa...
Als Antwort ist darauf zu lesen: „Es ist halt ein Unterschied ob ein Norweger Norweger killed oder ob die Musel Norweger töten oder vergewaltigen - dass Zweite ist akzeptiert, regt Niemanden auf und ist ALLTÄGLICH in der Zeitung zu lesen.“ In solchen Gedankenwelten lebte also nicht nur Anders Behring Breivik - auch viele Deutsche wähnen sich in einer solchen "Realität", die den großen Vorteil hat, dass jeder, der dagegen etwa Fakten bringt, als Teil des "Systems" diskreditiert werden kann, das die "Wahrheit" unterbinden will.

Gewalt als einziger Ausweg - zumindest argumentativ verbreitet

Die Apologie der Attentate gipfelt in Feststellungen, dass Gewalt der einzige Ausweg sei, um die Gesellschaft vor „dem Islam“ und „dem Multikulturalismus“ zu retten. Ja, es wird sogar ein Bürgerkrieg angekündigt. „Der Bürgerkrieg gegen die Islamisierung Europas hat begonnen“ titelt ein Nutzer auf Facebbok und ein anderer Nutzer fügt noch hinzu: „nicht nur gegen islamisierung, sondern gegen überfremdung, kapitalismus und kommunismus. Also gegen unser volk läuft seit jahrzehnten ein viel größeres massacker man vernichtet unser volk“.

Der Blog "kybeline" wendet sich dann auch an „die Gesellschaft“: „Ihr habt all unsere Gesprächsversuche abgelehnt. Unter solchen Umständen bleibt nur Gewalt als der einzig offene Weg und noch mehr Gewalt wird darauf folgen. Wo und wann, das kann man nicht voraussagen, obwohl viele es versuchen. Man kann auch nicht voraussagen, wo und gegen wen. Vielleicht wird es den Journalismus des Verrats treffen, vielleicht diejenigen, die ihre Aufgabe versäumt und das Volk verraten haben, die unsere Kinder an den Migranten zur Hurerei preisgaben, die die neugekommenen Vergewaltiger nicht daran hinderten. Und es wird auch ein neues Nürnberger Gericht kommen. Das sagt auch schon jeder seit Jahren voraus.

Alle hier genannten Auszüge sind nur Beispiele für Argumentationen, die sich im Internet an zahlreichen Stellen millionenfach und in verschiedensten Sprachen wiederholen und für jede und jeden zugänglich sind. Dass es unter den Menschen, die sich jahrelang in einem derartigen ideologischen Umfeld bewegen, schließlich auch welche gegeben wird, die praktisch zur Gewalttat schreiten, ist eigentlich kein Wunder. So bleibt zu hoffen, dass Anders Behring Breivik lange ein Einzeltäter in dieser Konsequenz bleibt. Dass er es ideologisch nicht ist, zeigt auch die Tatsache, dass er sein "Manifest" über den "Kreuzzug gegen den Islam in Europa" aus den Beiträgen zahlreicher rechter Blogger zusammenkopiert und hauptsächlich komponiert hatte.

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Mehr im Internet:

Viele Detail-Informationen zu den Attentaten gibt es auch auf
| npd-blog.info

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