Charlie Kaufhold von der Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung sprach mit zwei Mitgliedern der Forschungsgruppe „Recht – Raum – NSU“ über das anstehende NSU-Tribunal, das Ende des NSU-Prozesses und Rassismus im Gerichtssaal.
Ihr habt in zwei Forschungsprojekten zum NSU-Prozess mitgearbeitet und seid aktuell aktiv bei der Vorbereitung zum „Tribunal NSU-Komplex auflösen“, das vom 17. bis 21. Mai diesen Jahres in Köln stattfinden wird. Worum geht es dabei?
Fiona: Bei der bisherigen Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex im Prozess und den Untersuchungsausschüssen haben die Opferangehörigen und die Betroffenen nur wenig bis gar keinen Raum bekommen. Auch sind bestimmte Themen wie institutioneller Rassismus und die rassistisch geführten Ermittlungen ausgespart worden. Hier setzt das Tribunal an: Es will die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum stellen und eine gesellschaftliche Anklage gegen Rassismus formulieren.
Bella: Es soll auch thematisiert werden, worum es sich beim NSU-Komplex überhaupt handelt. Dass es sich beim NSU nicht nur um drei Personen, sondern um ein viel größeres Netzwerk handelt, das auch heute noch existiert, ist klar. Doch wer genau war wie involviert? Eine andere Frage ist, wie der NSU in den Medien verhandelt wurde. Und was innerhalb antifaschistischer und antirassistischer Politik wahrgenommen wurde, was nicht. Das Tribunal soll ebenfalls Ort des Austauschs sein, wo auch mögliche Widerstände diskutiert werden sollen.
Der Prozess geht ja aktuell auf sein Ende zu. Inwieweit wurde denn dort auf die Interessen und Anliegen der Opferangehörigen und Betroffenen eingegangen?
Bella: Der Umgang des Sicherheitssenats und des vorsitzenden Richters Götzl mit den Geschädigten und Hinterbliebenen lässt viele Rückschlüsse zu.
Sehr eindrücklich war, als im Januar 2015 die ersten Geschädigten des Anschlags auf die Keupstraße vor Gericht ausgesagt haben. Viele Betroffene waren speziell für diesen Tag angereist. Die Initiative „Keupstraße ist überall“ hatte damals dazu aufgerufen, für diesen „Tag X“ nach München zu fahren. Die Geschädigten sollten nun in zehn- bis 15-Minuten-Takt hintereinander weg verhandelt werden. Es gab keinen Raum, die eigene Geschichte zu erzählen, keinen Raum über die so genannte „Bombe nach der Bombe“, d.h. die Ermittlungen nach dem Anschlag, zu berichten.
Ayşe Güleç hat beispielsweise das Verhalten des Gerichts gegenüber İsmail Yozgat als Silencing bezeichnet. Der Vater von dem am 6.4.2006 in Kassel ermordeten Halit Yozgat hatte zu seiner Zeugenaussage ein Bild von seinem Sohn mitgebracht. Auf dem Bild stand auch die Forderung, dass die Holländische Straße in Halit-Straße umbenannt werden solle. Das war eine Widerstandsstrategie, um mit der Logik des Gerichts zu brechen.
Auch die Witwe von Habil Kılıç wurde von Götzl aufgefordert „zur Sache zu sprechen“, nicht „ausufernd“ zu werden. Der Tenor vonseiten des Gerichts war, dass sich die Zeug_innen zu benehmen hätten. Auch wurden die Anwält_innen an ihrer Stelle ermahnt, als würden die Opferangehörigen nicht verstehen, worum es geht.
In eurem ersten Forschungsprojekt, das ihr auf dem Blog nsuprozessentgrenzen dokumentiert habt, seid ihr auch der Frage nachgegangen, welche Wirkung die Architektur des Gerichtssaals und speziell die Sicherheitsvorkehrungen haben. Was habt ihr herausgefunden?
Fiona: Wir waren überrascht, dass es bei dem Umbau des Gerichtssaals A101 im Münchner Oberlandesgericht nicht um Sicherheitsvorkehrungen ging.
Bella: Der Umbau hatte zum Ziel – so wurde uns schriftlich mitgeteilt – den „störungsfreien Ablauf der Hauptverhandlung zu gewährleisten“.
Fiona: Das heißt es ging vor allem darum, dass alle Prozessbeteiligten in dem Raum untergebracht werden können. Die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen zeigen, dass die Angeklagten im Gerichtssaal nicht als Bedrohung wahrgenommen werden. Sie sitzen direkt neben ihren Anwält_innen, verstecken sich hinter ihren Laptops und lutschen Bonbons. Wenn Zeug_innen – und damit auch die Betroffenen und Opferangehörigen – aussagen, sitzen diese nur wenige Meter entfernt von den Angeklagten.
In anderen Prozessen ist das anders: In Berlin gab es 2015 beispielsweise einen Prozess gegen zehn Mitglieder der „Hells Angels“. Die Angeklagten wurden in Fußfesseln vorgeführt, saßen in Glaskabinen und konnten nur durch Schlitze mit ihren Anwält_innen kommunizieren.
Wie erklärt ihr euch die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen im NSU-Prozess?
Fiona: Die sind dadurch zu erklären, dass sich die weiße Dominanzgesellschaft vom NSU nicht bedroht fühlen muss. Die Gefährlichkeit des NSU wird bis heute nicht wahrgenommen.
Bella: Die Frage, wer von wem überhaupt als Bedrohung wahrgenommen wird, stellt sich auch hinsichtlich der Zuschauertribüne. Es gab beispielsweise einen Besucher, der ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kein Mensch ist illegal“ trug. Er wurde von einem Beamten aufgefordert, das T-Shirt entweder auszuziehen oder eine Jacke drüber zu ziehen. Es handele sich um eine politische Aussage und man befinde sich in einem unpolitischen Raum.
Maik Eminger allerdings, wie sein im Prozess angeklagter Bruder André Eminger überzeugter Neonazi, saß mit einem T-Shirt auf der Zuschauertribüne, auf dem „Brüder schweigen“ stand – ein neonazistisches Motto. Dies wiederum wurde nicht als politische Aussage gewertet.
Durch diese Handhabung wird die Zuschauertribüne für Nazis sicher, für andere Zuschauer_innen nicht.
Bisher habt ihr beschrieben, wie auf verschiedenen Ebenen Rassismus im Gerichtssaal fortgeschrieben wurde. Wie wurde denn umgekehrt Rassismus thematisiert, immerhin geht es ja um rassistisch motivierte Verbrechen?
Fiona: In der Anklageschrift wird die rassistische und völkische Ideologie benannt. Allerdings scheint mit der Erwähnung das Thema abgehakt zu sein. Im weiteren Prozessverlauf waren es die Nebenkläger_innen und ihre Vertretungen, welchedie Ideologie thematisiert haben. Hätten sie es nicht getan, wäre sie nicht zur Sprache gekommen.
Gleichzeitig war aber auch ein Lernprozess des Gerichts zu beobachten: Die „Turner Diaries“, ein rassistischer Roman, in dem das Konzept des „führerlosen Widerstands“ propagiert wird, wurden zum Beispiel vom Senat eingeführt. Beweisanträge von der Nebenklage, andere rechte Texte und rechte Strukturen wie unter anderem „Combat 18“ zum Gegenstand des Prozesses zu machen, sind vielfach abgelehnt worden.
Bella: Ein anderer Aspekt ist, dass wenn die Nebenklage versuchte, die rassistischen Ermittlungen zu thematisieren, ihr vonseiten der Bundesanwaltschaft (BAW) vorgeworfen wurde, das Verfahren zu politisieren – ein absurder Vorwurf! Es ist ohnehin ein politisches Verfahren, ein Verfahren, das vor dem Staatsschutzsenat geführt wird, ein 129a-Verfahren.
Fragen nach institutionellem Rassismus wurden auch mit der Begründung abgeblockt, dass sie für die Tat- und Schuldfrage nicht relevant seien und mit dem Verweis auf die Untersuchungsausschüsse ausgelagert.
Fiona: Ein anderes Problem ist ein ganz grundsätzliches: Mit der künstlichen Trennung von Gericht und Gesellschaft werden die Taten individualisiert. Auf der Anklagebank sitzen ja nur fünf Personen. Dass der Naziterror in die Gesellschaft eingebettet war, wird nicht abgebildet.
Bella: Die Nicht-Auseinandersetzung mit Rassismus in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ist gleichzeitig Ursache und Symptom vom NSU. Alles spitzt sich auf die Frage zu: Wer fühlt sich angegriffen?
Wie schätzt ihr die Rolle der Bundesanwaltschaft ein?
Fiona: Im NSU-Prozess ist uns aufgefallen, wie einflussreich die Rolle der BAW für die Ermittlung und Strafverfolgung bei rechten und rassistischen Verbrechen ist. Schließlich formuliert die BAW nicht nur die Anklageschrift, sondern entscheidet auch, wie die Ermittlungen geleitet werden, und damit auch, welche Themen überhaupt als relevant erachtet werden.
In unserem letzten Forschungsprojekt sind wir dann ausgehend vom NSU-Prozess der Frage nachgegangen, wie sich die politische Ausrichtung, die Zuständigkeiten und die Aufgaben der BAW bei der Strafverfolgung von rechter und rassistischer Gewalt niederschlägt. Das Problem bei der Strafverfolgung ist, dass diese Delikte nur defizitär oder gar nicht verfolgt werden.
Welche Gründe gibt es dafür?
Bella: Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Ein Grund ist, dass die BAW sich an der Extremismustheorie orientiert, nach der die politische Rechte und Linke vergleichbar seien. Das wird an den verwendeten Begriffen deutlich. Ein anderer Grund ist die personelle Zusammensetzung. Es handelt sich um eine relativ homogene Gruppe der weißen, oberen Mittelschicht, die männlich dominiert ist. Drittens gibt es das Problem der Weisungsgebundenheit des Generalbundesanwalts. Er oder sie hat den Status einer politischen Beamt_in. Das heißt, dass er oder sie jederzeit ohne Begründung durch den Bundespräsidenten in den Ruhestand versetzt werden kann, wenn er oder sie nicht im Sinne der grundsätzlichen politischen Ansichten und Ziele der Regierung agiert.
Fiona: Die Staatsanwaltschaft erscheint als objektive Instanz, aber das ist sie nicht. Sie agiert selbstverständlich politisch und hat bestimmte politische Implikationen. Das wird sehr deutlich im NSU-Prozess. So ist beispielsweise die Entscheidung, das Unterstützungsnetzwerk nicht reinzunehmen eine politische Entscheidung.
Werdet ihr auch die Urteilsverkündung kritisch begleiten?
Bella: Ja. Es ist weiterhin wichtig, zum NSU-Prozess zu fahren und ihn sich anzugucken. Für die Schlussplädoyers und die Urteilsverkündung soll es einen zweiten „Tag X“ geben, an dem dazu aufgerufen wird, dass möglichst viele Menschen zum Prozess fahren. Es ist wichtig, dass die strafrechtliche Auseinandersetzung nicht sang- und klanglos endet. Das Ende des Prozesses darf nicht das Ende der strafrechtlichen Auseinandersetzung sein. Und auch nicht das Ende der Aufklärung. Denn da sind wir immer noch am Anfang.