Die Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul beim Protestmarsch in Erinnerung an die Gezi-Proteste, bei denen auch Fußballfans maßgeblich beteiligt waren.
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"Istanbul united"? Eine Nachlese

35 Mitglieder der Fangruppe Çarşı, Anhänger*innen des Istanbuler Profifußballclubs Beşiktaş, droht aktuell wegen Beteiligung an den regierungskritischen Gezi-Demonstrationen 2013 in der Türkei lebenslange Haft. Über die Beteiligung der Istanbuler Fußballfans an den Protesten und ihre vereinsübergreifende Kooperation mit anderen Fangruppen auf dem umkämpften Taksim-Platz berichtet ein neuer Dokumentarfilm „Istanbul United“ von Olli Waldhauer, Farid Eslam und Tina Schöpkewitz, der seit dem 26. September in den deutschen Kinos zu sehen ist. Eine Nachlese.  

Von Laura Piotrowski

"Schieß doch, schieß doch, schieß doch dein Tränengas. Wirf den Knüppel weg, zieh den Helm aus. Dann sehen wir wer der Boss ist”, schallt dem Kinopublikum immer wieder von der Leinwand entgegen. Der Sprechchor stammt ursprünglich aus der Auseinandersetzung zwischen Fußballfans und Polizei, wurde durch die Beteiligung vor allem der Beşiktaş Fans der Gruppe Çarşı zu den Gezi-Protesten getragen und prägt die Stimmung des Films nachhaltig. Mit emotionsgeladenen Bildern begleitet die Dokumentation Fußballfans der drei großen Istanbuler Vereine Fenerbahce, Galatasary und eben Beşiktaş erst im Fußballumfeld, erzählt die Fanbiografien der Protagonisten und aus diesen heraus die Feindschaft der drei Profivereine. Interviewt wurden aktive Fans jedes Vereins, die bis auf den Fußballaktivisten Güner, einer der zwei führenden Köpfe der Gruppe Çarşı (der einzigen und berühmtesten Ultragruppe beim Verein Beşiktaş), eher nicht zur Führungsriege ihrer Vereine gehören. Als Fenerbahce Fan konnte zwar ein Führungsmitglied der Gruppe Vamos Bien gewonnen werden. Die Gruppe ist im antirassistischen Alerta Network verschiedener Ultra-Gruppen aktiv, spielt jedoch in der Fenerbahce-Fankurve keine dominierende Rolle. Insgesamt vermittelt der Film den Eindruck, besonders Galatasary und Fenerbahce Fans seien bei den Gezi-Protesten aktiv gewesen, was der Darstellung auf Fußballfan-Plattformen wie Faszination Fankurve oder auch in der Tageszeitung taz deutlich widerspricht und in einem Mangel an geeigneten Gesprächspartner*innen begründet liegen könnte. Der interviewte Fan vom Verein Beşiktaş war laut den Filmemacher*innen nur eingeschränkt zu erreichen. Und es ist angesichts der staatlichen Verfolgung der Protestierenden, besonders aus den Reihen der Beşiktaş Fans, verständlich, wenn diese nicht mit ihrem Gesicht und vor laufender Kamera über die Art ihrer Beteiligung bei den Protesten berichten – wäre aber wenigstens als Kommentar der Filmemacher*innen aus dem Off und um die teils unkommentierten Bildern zu begleiten, angebracht gewesen, da die Beşiktaş Fans die größte Gruppe der protestierenden Fußballfans und damit einen bedeutenden Teil der Gezi-Bewegung ausmachten. Wie sich in den aktuellen Anklagen gegen 35 Beşiktaş Fans zeigt.

Film dokumentiert einprägsam die Feindschaft zwischen den Vereinen – betreibt aber keine Ursachensuche

Eindrücklich stellt der Film zu Beginn mit Szenen von Lokalderbys und Gesprächen mit Fußballfans, die den Gegnern sogar den Tod wünschen, dar, wie stark der Hass unter der diversen Anhängerschaft ist. Gleichzeitig taucht hier die erste Lücke der Erzählung auf und der Film lässt offen, warum die Fans teils erzählen, dass der Hass auch medial gewollt und geschürt ist. Schnell wird klar, ohne Hintergrundinformationen zur Thematik Gezi-Protest, zur Entwicklung der Istanbuler Fußballfanszene und besonders den Hintergründen der Gruppe Çarşı gleicht der Film einer Aneinanderreihung von Demo- und Fußballmob-Bildern, bietet aber inhaltlich wenige Brücken, um die Geschehnisse einzuordnen. „Istanbul United“ fing eigentlich schon 1993 an, wie ein Führungsmitglied von Çarşı im Fußballfanzine Blickfang Ultrá (BFU) 2013 erzählte: „Nach dem Militärputsch 1980 wurden die Jugendlichen durch den Staat zum Fußball kanalisiert. Anstatt sich mit der politischen Lage auseinanderzusetzen, sollten sie sich lieber mit Fußball beschäftigen.“ Bis 1993 kam es besonders in Istanbul, zwischen den drei Clubs, die auch die gesamte türkische Fußballlandschaft dominieren, zu schweren Ausschreitungen der Hooligans. Auch aus der Einsicht heraus, dass dieser Hooliganismus staatlich forciert wird, schlossen die verfeindeten Fans laut Aussagen des Çarşı-Mitglieds im BFU schon 1993 einen ersten Frieden, seitdem seien die Ausschreitungen weniger gewaltvoll. Gleichzeitig versucht der Dokumentarfilm zu verstehen, an welchem Punkt und wie sich die Ultra-Gruppen der drei Clubs während der Gezi-Proteste zusammen gefunden haben. Das Filmteam drehte während und kurz nach den Protestwochen und suchte nach Antworten. Aber auch diese Lücke schließt der Film nicht. Nachdem er einprägsam die Fanauseinandersetzungen dokumentiert hat, berichtet er schon über die gemeinsamen Proteste der Fans auf dem Taksim-Platz und ihrem wichtigen Beitrag im Kampf.

Fans von Beşiktaş seit Jahren politisch aktiv

Dabei ist Çarşı die einzige Fangruppe, die schon seit den 1980er Jahren im und rund um das Fußballstadion politisch aktiv ist, auf Spruchbändern kommentieren sie beispielsweise das politische Geschehen beim wöchentlichen Fußballspiel. In ihrem Namenszug sind das Anarchie-A und die Sichel vom Symbol des „Hammer & Sichel“ vereint. Nicht alle in der Gruppe seien Anarchist*innen oder Linksradikale, so das Çarşı Mitglied im BFU, aber Antirassismus und Umweltschutzthemen sowie linke staatskritische Positionen verbinden die Gruppenmitglieder. Auch deshalb sind zunächst Fans von Beşiktaş bei den Gezi-Protesten aktiv gewesen, haben sich gegen die Abholzung des Parks und die weitere Gentrifizierung der Istanbuler Innenstadt eingesetzt. Der Stadtteil Beşiktaş, aus dem der gleichnamige Verein und viele seiner Fans stammen, grenzt direkt an das Taksim-Viertel. Von Beşiktaş aus demonstrierten laut BFU 150.000 Menschen unter Führung von Çarşı zum Taksim-Platz, um die dortigen Proteste zu unterstützen.

Auf einmal: Istanbul United

„Drei, vier Tage haben die Beşiktaş-Fans dann nicht mehr geschlafen und haben sich mit der Polizei angelegt. Sie sind ja trainiert und wissen, wie das geht. Dass sie dann in den nächtlichen Auseinandersetzungen eine Planierraupe gekapert haben, um damit gegen die Wasserwerfer vorzugehen, war schon legendär. Die linken Fans von Galatasary und Fenerbahce sind dann auch gekommen, um uns zu unterstützen. Dann gab es auf einmal Istanbul United“, so das Narrativ des Çarşı Mitglieds im BFU, der während der Proteste interviewt wurde und noch bevor sich Fanvertreter zu Gesprächen treffen konnten, um die Vereinigung der Fans zu besprechen. Auch auf den Bildern des Dokumentarfilms sieht man besonders viele Fans von Beşiktaş bei den Protesten – unkommentiert durch die Filmemacher*innen. Die dominierende Gruppe bei Galatasary, „UltrArslan“, hat die Proteste nicht aktiv unterstützt – anders als eben Çarşı.

Frauen spielten auf dem Taksim-Platz eine starke Rolle – auch in den Reihen der Fußballfans

Ebenso geht im Film die starke Rolle von Frauen bei den Protesten unter, interviewt wurde nur eine Aktivistin der Taksim-Bewegung. Zwar spielen die Frauen in der Istanbuler Fanszene im Fußballstadion nur eine marginale Rolle, aber bei den Demonstrationen rund um Gezi und auch im Umfeld der Fußballfans waren besonders viele Frauen aktiv, wie sowohl im BFU als auch in der taz zu lesen ist: „Als wir rund um den Gezi-Park die ersten Barrikaden bauten, haben militante Linke uns gezeigt, wie man das macht. Da waren etliche junge Frauen dabei“, berichtet ein Çarşı Mitglied in einer Reportage des taz Kolumnisten Deniz Yücel. Auch bei den Demonstrationen seien viele Frauen beteiligt gewesen und hätten in der zweiten Reihe die demonstrierenden Fußballfans gestärkt.

Vereintes Istanbul?

Was nicht zu bleiben scheint, ist das vereinte Istanbul der Fußballfans. Am Ende des Dokumentarfilms entsteht zwar der Eindruck, die rivalisierenden Anhänger*innen hätten sich nun zusammengeschlossen, um gemeinsam gegen das Erdogan Regime zu opponieren – aber sowohl im Deutschlandfunk als auch im Blickfang Ultrá wird berichtet, dass die Vereinigung aus den wilden Wochen des Gezi-Protests sich schon wieder aufgelöst hat. Da sind die Gräben zwischen den Vereinen, die gleichzeitig auch eine starke lokalpatriotische Färbung der rivalisierenden Istanbuler Bezirke tragen, zu tief. Und diese hat der Film jedenfalls eindrücklich dokumentiert.

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