Wie wirken Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus? Was sind die Ursachen - und wie lassen sich diese Menschenfeindlichkeiten bekämpfen? Bei den "Weinheimer Gesprächen" erläutern Wissenschaft und Praxis den aktuellen Stand der Arbeit.
Von Simone Rafael
Wie äußert sich Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft, und wie kann Projektarbeit für Demokratie und Vielfalt Akzente setzen? Damit Menschen aus Wissenschaft und Praxis Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig inspirieren können, laden die Freudenberg Stiftung und das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld einmal im Jahr zu den „Weinheimer Gesprächen“. In diesem Jahr lautete das Thema „Gleichwertigkeit in Zeiten der Krise. Menschenfeindlichkeiten und ihre Gegenkräfte im lokalen Raum“.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bielefeld, die seit 2002 Jahren mit der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ zu Entwicklung, Ursachen und Zusammenhängen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit forschen, eröffneten die Tagung mit Einblicken zum Thema: Wie beeinflusst die Finanzkrise die Entwicklung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit? Zunächst einmal, so die Erkenntnis, nicht merkbar – der Prozess entwickelt sich offenbar langfristig. Messbar war für die Forscher ein Bedrohungspotenzial, dass Menschen in der Zukunft sehen – 92 % etwa befürchten in Zukunft mehr soziale Abstiege, 94 % mehr. Dies, so fürchteten die Befragten, habe auch Einfluss auf grundlegende demokratische Werte wie Gerechtigkeit, Fairness und Solidarität.
Wann werden demokratische Grundwerte aufgekündigt?
Entsprechend, so Professor Andreas Zick, lässt sich aus empirischer Sicht die These nicht halten, dass Leute individuell frustriert sind von der Krise und deshalb auf Minderheiten losgehen. Vielmehr ist es eine kollektive Krisenbedrohung – mir UND der Gruppe Menschen, die sind wie ich, geht es schlecht – die zu einem Prozess der Entsolidarisierung führt, der Menschenfeindlichkeiten wie Rassismus, Antisemitismus oder Obdachlosenfeindlichkeit begünstigt. Der führt auch zur Aufkündigung demokratischer Grundwerte: Plötzlich werden nicht mehr allen Menschen in der Krise gleiche Rechte zugesprochen (31 %) oder die These unterstützt, in Deutschland würden zu viele schwache Gruppen unterstützt (das finden 61 % der Befragten).
Zum Zusammenhang von Ohnmachtsgefühlen und Abwertung
Einen weiteren Aspekt beleuchtete Wissenschaftlerin Anna Klein: rund 75 % der Menschen der „unteren Soziallagen“ haben den Eindruck, sie könnten keinen Einfluss auf die Politik nehmen („Die da oben machen ja eh, was sie wollen“.) Und wer dies denke und seine Wut und Benachteiligungsgefühle nicht mehr politisch äußern könne, neige dazu andere Menschen abzuwerten und sich auf diese Art und Weise zu „entladen“. Hier müssten Strategien entwickelt werden, um diese Menschen zu erreichen – und zu erforschen, warum Menschen in der Beschneidung fundamentaler Menschenrechte anderer die Lösung für ihre Probleme zu sehen meinen.
Am bedrohlichsten scheint die Krisen in den Randgebieten der Städte
Wissenschaftlerin Rebecca Loritz führte aus, dass manche wissenschaftlichen Annahmen sich empirisch nicht bestätigten: So würde die Krise etwa in aufwärts strebenden, gleich bleibenden und abwärts driftenden Regionen gleichermaßen als bedrohlich wahrgenommen – nicht aber stärker in den abwärts driftenden Gebieten, wie zuvor vermutet. Dort allerdings war Fremdenfeindlichkeit als Reaktion auf die Bedrohung durch die Krise stärker ausgeprägt. Eine weitere Untersuchung zeigte, dass die Krise inzwischen in der Stadt und auf dem Land gleichermaßen wahrgenommen wurde - am bedrohlichsten allerdings in Randgebieten der Städte.
Julia Marth und Andreas Grau führten am Beispiel der Sozialraumanalysen der Universität Bielefeld aus, wie sinnvoll eine genaue Betrachtung der lokalen Ebene bei der Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sei – weil sich hier Gefühle politischer Machtlosigkeit besser konkret bearbeiten und Ursachen herausfinden ließen.
Ursachenforschung in Pirmasens und Dortmund
Wie unterschiedlich das konkret aussehen kann, zeigten die Praxisberichte der Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Pirmasens und Dortmund: Während in Pirmasens als schrumpfender Stadt mit schwieriger Sozialstruktur aktuell Grundlagenarbeit mit Symbolsetzungen, Begegnungsprojekten und Beteiligungsangeboten für Bürger auf der Tagesordnung steht, kämpft Dortmund schon sehr viel konkreter mit einer ausgeprägten und aggressiven Szene „Autonomer Nationalisten“, die von Stadträten und Bürgern trotzdem erst zögerlich zur Kenntnis genommen würden. Insofern hatte eine Präsentation der lokalen Ergebnisse der Universität Bielefeld zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Dortmund nicht nur Effekte durch die neuen Fakten, sondern auch durch die massive Anwesenheit „Autonomer Nationalisten“, was auch vielen für das Thema Sensibilisierten eine erste „echte“ Begegnung mit Neonazis brachte.
Was tun, nachdem der Skandal da war?
Am zweiten Tag der „Weinheimer Gespräche“ zeigten Projektvorstellungen, wie vielfältig die Ansätze und Herausforderungen der Arbeit gegen Menschenfeindlichkeiten sind. Mitarbeiter der ZDK Gesellschaft für demokratische Kultur (ZDK) in Berlin berichteten von ihrer nun dreijährigen Vor-Ort-Arbeit im sachsen-anhaltinischen Pretzien – bekannt geworden durch die Verbrennung des „Tagebuchs der Anne Frank“ auf einem Dorffest, dass als „Sonnwendfeier“ gestaltet war. „Nach diesem Vorfall galt der Ort als ‚braunes Nest‘“, so Bernd Wagner vom ZDK. Aufgabe der Projektarbeit war in diesem stigmatisierten Ort, die demokratischen Kräfte so weit zu stärken und fit zu machen, dass sie die wirklichen Probleme vor Ort auch bearbeiten können. Über Analysen stellte sich hier die Ortsgeschichte als bindendes Element zwischen jungen und alten Menschen in Pretzien heraus. Über die Arbeit an der Dorfchronik – die übrigens zuvor von Rechtsextremen geprägt war, ein gescheiterter Versuch des Bürgermeisters, das weitere „Abdriften“ einiger Vertreter der Dorfjungend in den Rechtsextremismus zu mindern – gelingt den Pretzienern eine wichtige Akzentverschiebung in der Innen- und Außenwahrnehmung. „Die Rechtsextremen sind noch präsent“, so Wagner, „aber sie haben die Mitte der Gesellschaft verlassen müssen: Dort ist jetzt wieder die demokratische Kultur.“
Was tun, wenn vorbildliche Prävention nicht fruchtet?
Hartmut Gutsche vom "Regionalzentrum für Demokratische Kultur Nordvorpommern - Rügen - Stralsund" berichtete von der Arbeit in einer Region in Nordvorpommern, die eines Tages feststellte, dass sie ein engagierte Jugendarbeit hat, ausgeprägte kommunale Präventionsstrukturen, eine fitte Verwaltung – und trotzdem eine ausgeprägte rechtsextreme Szene mit hoher Zustimmung für die NPD, rechtsextrem motivierten Übergriffen und nicht zuletzt einer überregional bekannten Nazi-Band, deren Proberaum beliebter Anlaufpunkt für die Szene ist. „Es fehlte die Bereitschaft, zu erkennen, dass es im Ort nicht nur ein paar ‚fehlgeleitete‘ Jugendliche, sondern ein ernsthaftes, menschenverachtendes Konkurrenzmodell zur Demokratie gibt, dem etliche Jugendliche und Erwachsene zustreben“, so Gutsche. Die Berater helfen nun bei der Strategiensuche, wie die Arbeit gegen Rechtsextremismus als Querschnittsaufgabe auf allen Ebenen installiert werden kann – auch in der Hoffnung, dies bei Erfolg modellhaft auf andere Orte übertragen zu können.
Was tun, wenn die Arbeitsfelder immer komplexer werden?
Eine ganz andere Ausgangslage skizzierte dagegen Carl Chung vom Mobilen Beratungsteam "Ostkreuz" der Stiftung SPI in Berlin. Er beschrieb eindringlich, dass in einer Großstadt wie Berlin sämtliche Aspekte gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit akut sind, weil ihre Täter und Opfer hier leben – von der Islamfeindschaft über Antisemitismus und Homophobie bis zu Rassismus und Ethnozentrismus: „Und das gibt es hier alles nicht nur deutsch-völkisch konnotiert!“ So stelle sich die Frage etwa noch „Fremdenfeindlichkeit“ völlig neu: Wer genau ist fremd, wo Afrodeutsche zusammengeschlagen werden, aber keine Dänen? Beschäftigung mit Begrifflichkeiten ist dabei kein Elfenbeinturmspiel. Chung berichtet von verwirrten Polizisten, die einen rassistischen Übergriff slowenischer Täter auf einen schwarzen Deutschen nicht zu kategorisieren wussten, weil sie als Ausdruck nur „Fremdenfeindlichkeit“ zur Verfügung hatten. 12-jährige Mädchen hängen nach einer antisemitischen Rund-E-Mail, „Lidl“ würde Erlöse aus dem Verkauf an Israel spenden, Plakate mit „Kauft nicht bei Lidl“ auf, die Assoziationen an den Antisemitismus des Dritten Reiches wecken. „Berlin bildet deutschlandweit existente Konflikte konzentriert ab - etwa bei Konflikten um Moscheebauten“, so Chung. Wo reale Konflikte vor Ort existieren, lassen sie sich aber auch bearbeiten: Diskussionen um Moschee-Bauten versachlichen etwa, Sicherstellen, dass alle Betroffenen gehört werden, Problemlagen pluralisieren und pauschal hetzenden Anti-Moschee-Gruppen die proklamierte Meinungshoheit nehmen. Im Endeffekt, so Chung, gehe es darum, dass in unseren Köpfen präsente Muster „Wir – Die“ zu bearbeiten, das Ziel sei schließlich ein gleicher Maßstab für alle und gleiche Rechte auf Identität, Teilhabe und Anerkennung. „Wir brauchen ein neues ‚Wir‘“, so Chung, das auch allen die Chance gäbe, sich als Teil zu begreifen: Es gäbe schon genug Kinder, die sich eigentlich als Deutsche begreifen möchten, aber von der Gesellschaft – auch „Wohlmeinenden“ – immer wieder vor Augen geführt bekommen, sie seien Vietnamesen, Türken oder Russen.
Medien: Druck machen, Druck fühlen
In einem Podium zu Rechtsextremismus und Medien diskutierten Fachjournalisten mit dem Publikum über Erfahrungen und Strategien. Einig waren sich die Medienvertreter darüber, dass die immer schlechtere personelle Besetzung von Lokalredaktionen dazu führt, dass intensive Recherchen von lokalen Zeitungen und Radios kaum mehr möglich wären. Hier könnten Initiativen mit Recherchen hilfreich zur Seite stehen. Andererseits kannte jede und jeder auch engagierte Lokaljournalisten, die Probleme hatten, Berichte über Rechtsextremismus in der Region ins lokale Medium zu bekommen. „Ich bekomme Anrufe von Lokalredakteuren, die mich bitten: Berichtet Ihr doch in einem überregionalen Medium darüber, dann darf ich vielleicht auch etwas schreiben“, berichtet etwa die freie Journalistin Andrea Röpke. Bastian Wierzioch vom MDR betonte die Chronistenpflicht des Journalisten, zu erfassen und abzubilden, was vor Ort passiert, mit der gegenüber Chefredakteuern argumentiert werden könne – und dass dies aber nicht damit zu verwechseln wäre, die NPD unkommentiert Hetze verbreiten zu lassen. Uneinig war das Podium bei der Frage, ob unter Journalistinnen und Journalistin eine besondere Sensibilisierung für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Meinungsbildner nötig sei. Journalisten, die ihr Handwerk beherrschen, sollten das nicht nötig haben, fand etwa der freie Journalist Olaf Sundermeyer. Angesichts zahlreicher Beispiele ungeschickten Umgangs mit Sprache und Berichterstattungspraxis, die etwa rassistische Ressentiments Vorschub leisten, blieben hier jedoch Zweifel.
Wie Kunst Demokratie praktiziert
Zum Schluss gab es noch einen kreativen Eindruck. Einen künstlerischen Ansatz bei der Arbeit gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wählt dagegen Theatermann Benno Plassmann mit seiner Gruppe „The Working Party“. Er arbeitet situationsbezogen und entwickelt mit den Anwohnern eines Ortes in einem partizipativen Prozess Theaterstücke, etwa zu Edwin Morgans Gedicht „Memories of Earth“, dass unter anderem den Holocaust thematisiert. Die Entstehung der Inszenierung im demokratischen, gleichwertigen Prozess aller Beteiligten ist dabei ebenso wichtig wie die schließlich Aufführung, die Anerkennung und Spannung vermittelt und zum Nach- oder Andersdenken anregen soll. Wichtig ist hierbei, dass die Arbeiten im öffentlichen Raum präsentiert werden – in Krankenhäusern, Flüchtlingslagern oder auf Straßenfesten.
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