Die Fakten sind brutal und einzigartig: Um vier Uhr erschießt in der Nacht zum 1. Mai in Riverside, Kalifornien, ein Zehnjähriger absichtlich seinen Vater, der auf dem Sofa schläft. Wie kommt ein Kind zu einer solchen Tat? Der 32-jährige Vater ist ein hemmungsloser Rechtsextremer. Im Verfahren wird es auch um die Frage gehen: Was macht es mit einem Kind, in einer rechtsextremen Familie aufzuwachsen? Eine Fotografin hat zufällig genau diese Familie ein Jahr lang begleitet - spektakuläre Bilder.
Von Simone Rafael
Rechtsextremismus in den USA ist noch ein anderes Thema als hierzulande, alle diesbezüglichen Äußerungen und Lebensentwürfe fallen unter die Meinungsfreiheit, das ist bekannt. Doch selbst wenn einem bewusst ist, dass US-Nazis öfter in NS-Uniformen auftreten und offen zur Schau getragener Rassenhass kein Tabu ist, sind die Bilder der Fotografin Julie Platner schockierend. Ein Jahr begleitete sie eine wachsende rechtsextreme Bewegung, das "National Socialist Movement" (NSM), von der Parteiveranstaltung bis zur "Babyshower" unter der Hakenkreuzfahne. Ihr Kontakt: Der 32-jährige Jeff Hall, Klempner, Vater von fünf Kindern, glühender Rassist und Antisemit, aufstrebender Funktionär der NSM und enger Freund von NSM-"Führer" Jeff Schoep. Nun ist Jeff Hall tot. Erschossen nicht von einem politischen Gegner, sondern von seinem ältesten Sohn.
Die Kinder waren Teil der Bewegung
Was zu dieser Tragödie führte, wird nun vor Gericht eine Rolle spielen - die Fakten des Mordes sind ohnehin klar. Der 10-Jährige hat die Tötung gestanden, die gefundenen Waffen - ein Gewehr, eine Pistole - gehören zum Haushalt. Der Vater selbst hatte sich vor kurzem vor einem Reporter der "New York Times" gebrüstet, seinem Sohn den Umgang mit Waffen und Nachtsichtgeräten beigebracht zu haben.
Denn Jeff Hall hat aus einer rechtsextremen Gesinnung gegenüber seinen Kindern nicht nur kein Hehl gemacht. Er hat sie aktiv einbezogen. Sein Familienhaus war das regionale Versammlungszentrum des NSM. Plattners Fotos zeigen, wie Frau Krista im Garten NSM-Mitglieder fotografiert, die den Hitlergruß machen, daneben spielt eine kleine Tochter des Paares. Tattoos mit SS-Totenköpfen und Hakenkreuzfahnen gehören zum Alltag der fünf Kinder, die in der Familie leben. Der Reporter der New York Times berichtet aber auch, dass die Kinder auch dabei sind, wenn Hassreden gegen Migranten und Schwule geschwungen werden und sich gut in rassistischem Liedgut auskennen.
"National Socialist Movement" und "Viking Youth Corps"
Das "National Socialist Movement" ist eine der größten Neonazi-Bewegungen in den USA, hat rund 400 Mitglieder in 32 Bundesstaaten. Und das NSM kümmert sich auch gezielt um die Kinder ihrer Mitglieder. Die Jugendorganisation heißt "Viking Youth Corps" und nimmt nur Jungen und Mädchen auf, die Kinder von NSM-Mitlgiedern oder Mitgliedern anderer "pro-weißer" Organisationen sind. Außerdem müssen sie "purer europäischer Abstammung" sein. Auf der Website wird ausgeführt: "Keine Blutlinien jüdischer oder nicht-weißer Rassen." Auch ein "grundlegendes Verständnis von Rassen-Loyalität und Nationalsozialismus" wird verlangt.
Offen preist der "Viking Youth Corps", was die Kinder hier lernen sollen: Physische Fitness, militärische Fähigkeiten, Kameradschaft ohne "Gang Style" und Selbstvertrauen. Sie werden unterrichtet in "nationalsozialistischer Theorie und Praxis, Propaganda-Methoden, militärischen Taktiken, Rhethoriktraining, Öffentlichkeitsarbeit und sollen die Theorien des Kommunismus, Zionismus und Kapitalismus kennen, "damit sie besonders effektive Krieger gegen die Feinde unserer Rasse werden."
Gewalt ist Alltag
Das "National Socialist Movement" geriert euphemistisch sich als "weiße Bürgerrechtsbewegung", propagiert Rassentrennung und die Ausweisung aller Nicht-Weißen aus Amerika, verbreitet antisemitische Verschwörungstheorien. Jeff Hall gehört in diesem Kosmos zu denen, die die Verteidigung ihrer Heimat im Alltag praktizieren: Er organisiert Straßenschlachten und Demonstrationen, zuletzt organisierte er Trupps von Anhängern, die bewaffnet an der mexikanischen Grenze patrouillieren sollten: "Jungs, schnappt euch eure Glock-Pistolen und macht euch bereit loszuschlagen!" An anderer Stelle sagte er zu einem Reporter: "Ich will eine weiße Gesellschaft. Ich würde mein Leben für die Rassentrennung geben." Den Hass und die Gewaltaufrufe bekommen auch die Kinder mit. Hall schenkt seinem Sohn einen Gürtel mit SS-Symbolen, lässt ihn einen Tag vor der Tat an einer Versammlung teilhaben, in er über die Leichen der Immigranten spricht, die an der Grenze verrotten sollen, und über die Gefahren diskutiert, mit "AIDS-infiziertem Blut" attackiert zu werden, wenn die Gruppe eine Kundgebung in San Francisco abhalte.
Wie geht es den Kindern in einer solchen Familie?
Der ehemalige Jugendstaatsanwalt Larry Cunningham kommentiert den Fall: "Wenn man in einer Umgebung ist, deren moralische Werte verdreht sind, könnte das die Fähigkeit beeinflussen, Gut von Böse zu unterscheiden." Fakt ist, dass es im Leben der Hall-Kinder auch andere Unzulänglichkeiten gab, die nicht originär mit der politischen Einstellung des Vaters und der Stiefmutter zu tun haben müssen. So berichtet die "Washington Post", es sei seit 2004 in Jugendamtsberichten vermerkt wird, dass die Kinder Hämatome und andere Verletzungen hatten. Der zehnjährige Sohn habe mehrfach die Schule wechseln müssen, weil er als aggressiv aufgefallen sei, berichtet der Spiegel.
Der 10-jährige und eine Schwester stammen aus Jeff Halls erster Ehe. Nach der Trennung lieferten die Eltern sich eine heftigen Sorgerechtsstreit, bezichtigten sich gegenseitig der Kindesmisshandlung. Das Jugendamt holte die Kinder mehrfach aus der Obhut der leiblichen Mutter Leticia N. Die Wohnung sei verwahrlost gewesen, die Kinder unterernährt und durstig. Der Neonazi-Vater bekam das Sorgerecht, verlor es dann aber wieder wegen Trunkenheit am Steuer, 2004 erhielt er es zurück. Im Jahr 2010 wollte die Mutter diese Entscheidung wieder anfechten. Dabei gab sie an, sie sorge sich wegen Halls Neonazi-Aktivismus um die Kinder. Hall konterte, Leticia N. habe sich nie um ihre Kinder gekümmert, nicht einmal nach ihnen gefragt.
Am Tag vor der Tat besucht Jesse McKinley, Reporter der New York Times, die Familie. Am Rande der Neonazi-Versammlung fragte er den 10-jährigen Sohn, ob es ihm gut gehe? "Ja", sagt der. Seine vier jüngeren Schwestern würden ihn nerven, aber er sei ja der älteste und ein Junge, "und Jungen sind ja wichtiger als Mädchen". Am Abend geht Jeff Hall mit einigen NSM-Mitgliedern aus, kommt um Mitternacht zurück und legt sich aufs Sofa. Vier Stunden später wird die Polizei wegen der Schüsse aus dem Haus alarmiert.
| Fotos von Julie Platner im Fotoblog der New York Times
| Fotos von Julie Platner (andere) bei Spiegel online
Mehr im Internet:
| Neo-Nazi Father is killed; Son, 10, steeped in beliefs, is acussed (New York Times)
| Neo-Nazi's 10-year-old son charged with his murder (Guardian)
| Trauriges Ende einer Hassfigur (Spiegel online)
| Hakenkreuz und Sternenbanner
Bericht und mehr Bilder zu Neonazis in den USA auf Spiegel online
Update 7. November 2012:
Prozess gegen Zwölfjährigen: begonnen "Ich habe Dad erschossen"
Joseph Hall war zehn Jahre alt, als er seinen Vater erschoss - einen der führenden Neonazis Amerikas. Nun hat der Prozess gegen den Jungen begonnen. Der Richter muss vor allem entscheiden: Kann ein Kind in einem rechtsextremen, gewalttätigen Umfeld lernen, was richtig und was falsch ist? (Spiegel Online, Hamburger Abendblatt).
Update 20. Mai 2011:
10-jähriger, der seine Nazi-Vater erschoss, erklärt, warum
Am 19. Mai hat das mit dem Fall beauftragte Gericht Details über die Tat und das Motiv des 10-Jährigen veröffentlicht. Er habe in einem Interview erklärt, er sei es leid gewesen, von seinem Vater geschlagen zu werden. Und mitansehen zu müssen, wie er seine Stiefmutter quälte. Zudem glaubte er offenbar, dass Hall seine Stiefmutter betrüge. Der Junge habe das Gefühl gehabt, sich zwischen beiden Elternteilen entscheiden zu müssen. Und er entschied sich für das Leben mit seiner Stiefmutter. Deutlich wird der Einfluss rechtsextremer und gewalttätiger Erfahrungen des Jungen: Nicht nur, dass er wusste, wo sein Vater Waffen aufbewahrte und wie man sie benutzt - auch, dass er einen Mord als Problemlösung ansah, zeigt, welche Werte im Elternhaus vermittelt wurden. Für die Erfahrung zumindest mit Gewaltdarstellungen spricht die Tötungsart: Er habe seinem schlafenden Vater die geladene Waffe ans Ohr gehalten – und ihn erschossen (blick.ch, Berliner Kurier, ABS News, Los Angeles Times).