Kein Teil der extremen Rechten ist so jung und so aggressiv wie die „Autonomen Nationalist*innen“. Gut möglich, dass hier die nächste Generation von Rechtsterrorist*innen heranwächst.
Von Johannes Radke und Toralf Staud
Die Staatsschutzbeamten staunten nicht schlecht, als sie im April dieses Jahres das Ergebnis einer Razzia im kleinen Örtchen Radevormwald in Nordrhein-Westfalen begutachteten. Auf ein ganzes Waffenarsenal waren sie gestoßen: eine scharfe Schusswaffe, diverse Messer, Schwerter, Schlagringe und -stöcke, dazu kistenweise Nazipropaganda. Ein Fund, der selbst erfahrene Beamte von einer zuvor „unbekannten Dimension“ sprechen ließ, wie es der Kölner Polizeipräsident formulierte.
Mehr als hundert Beamte inklusive eines schwer bewaffneten SEK-Teams, hatten an jenem Morgen 17 Wohnungen in dem 22.000-Einwohner-Städtchen östlich von Wuppertal durchsucht. Der Vorwurf: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Dabei waren die 15 Beschuldigten der Gruppierung namens „Freundeskreis Rade“ gerade einmal 15 bis 25 Jahre alt, der Großteil minderjährig. Trotzdem waren sie offenbar bereits gefährliche Rechtsextremisten.
Der Fall zeigt prototypisch, wie groß die Gefahr ist, die von der relativ neuen Neonazi-Strömung „Autonome Nationalisten“ (AN) ausgeht. Seit Mitte der 2000er Jahre ist sie entstanden, Schwerpunkte waren Berlin und das Ruhrgebiet, mittlerweile gibt es in Deutschland fast flächendeckend AN-Gruppen. Auf Jugendliche wirkt diese Szene besonders anziehend. Diese neuen Nazis tragen Turnschuhe statt Springerstiefel, Kapuzenpullover statt Bomberjacke, und sie sagen ganz offen, dass sie ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen wollen. Experten warnen, dass mit den AN eine neue Generation potentieller Rechtsterroristen heranwachsen könnte.
Die Sicherheitsbehörden haben die „Autonomen Nationalisten“ lange Zeit unterschätzt, jahrelang wurde die Polizei bei Nazi-Demonstrationen immer wieder von deren Aggressivität überrascht. Auch der Leiter des Kölner Staatsschutzes, Volker Joest, räumte nach der Razzia ein, man habe in Bezug auf die AN „Nachholbedarf“.
Vom Rechtspopulismus zum rechten Terror in nur einem Jahr
Am Beispiel Radevormwald lässt sich besichtigen, wie rasante die Radikalisierung einer kleinen Clique sogenannter „Autonomer Nationalisten“ ablaufen kann. Von der Gründung über erste Propaganda-Aktionen und kontinuierliche Gewalttaten bis zum vollen Waffendepot brauchten diese rechten Jugendlichen lediglich vierzehn Monate. Und sie sind kein Einzelfall. Im November 2011 stieß die Polizei in Wohnungen von Mitgliedern der „Autonomen Nationalisten Bückeburg“ (Niedersachsen) auf „große Mengen von gefährlichen Knallkörpern aus osteuropäischer Produktion“ deren Besitz gegen das Sprengstoffgesetz verstößt. Im März 2012 beschlagnahmten Kollegen in Sachsen-Anhalt bei Jungnazis aus der AN-Szene insgesamt 237 Sprengkörper, die meisten davon nicht in Deutschland zugelassen. „Bei der Menge fragt man sich schon, was die damit vorgehabt haben“, kommentierte ein Fahnder. Kurz darauf wurden die Ermittler erneut bei Autonomen Nationalisten in Niedersachsen fündig: Hakenkreuzfahnen, Baseballschläger, Schreckschusspistolen sowie selbst gebaute Sprengkörper und Tränengasgranaten wurden sichergestellt.
Der Freundeskreis Rade gründet sich im Frühjahr 2011. Viele Mitglieder sind zuvor bei der Jugendorganisation der relativ gemäßigten Rechtspopulisten von ProNRW – doch da wird es den Jugendlichen offenbar bald langweilig. Unter neuem Label beginnen sie, mit Gewalt gegen alternative Jugendliche und Migranten vorzugehen. In der ganzen Stadt verkleben sie ihre Propaganda. Im typisch poppigen Stil der AN zeigt ihr Logo einen Neonazi, der mit einer Heugabel auf ein am Boden liegendes Opfer einsticht. „Schluss mit Multi-Kulti-Wahn“, steht daneben. Auf einem anderen Aufkleber wird einer Figur mit Antifa-Logo eine Pistole an den Kopf gehalten. Bald hat der sogenannte Freundeskreis eine Internetseite und einen Twitter-Account, er wächst auf rund 25 feste Mitglieder.
Im Februar 2011 werden ein Kioskbesitzer und sein Sohn, der eine Gruppe ANler wegen Flaschenwürfen auf das Geschäft verfolgte, in einen Hinterhalt gelockt und von Vermummten mit Schlagstöcken und Eisenstangen angegriffen. Als im April Mitglieder des örtlichen Runden Tisches gegen rechts öffentlichkeitswirksam Naziaufkleber in der Stadt entfernen wollen, werden sie bedroht und fotografiert. Auf der Internetseite des Freundeskreises stehen die Porträts der Bürger hinterher unter mit der Überschrift „Demenzerkranktes Gutmenschenpack macht sich lächerlich“.
Nach einer Anti-Nazi-Veranstaltung an einer Schule wird das Gesicht des Schulleiters mit Fadenkreuz auf der Stirn an die Eingangstüren plakatiert – selbstbewusst setzen die Jungnazis die Adresse ihrer Website unter das Bild. Auch Polizisten werden angegriffen. Als Beamte im Dezember 2011 zwei Jugendliche aus der Gruppe beim Sprühen von NS-Parolen erwischen, wehren die sich mit Pfefferspray. Am Ende laufen bereits mehr als 20 Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Freundeskreises Rade. Dann greift die Polizei konsequent durch, die Gerichtsverfahren gegen die Mitglieder des Freundeskreis Rade stehen noch aus.
Ein Erfolgrezept der Autonomen Nationalisten für die Rekrutierung Jugendlicher ist, dass rigide Vorschriften für den Lebensalltag (wie etwa bei Nazi-Skinheads) oder die Verpflichtung auf Parteidisziplin (wie bei der NPD) weitgehend fehlen. Dieses für die AN typische „Anything goes“ zeigte sich auch in Radevormwald. Parallel besuchten die Freundeskreis-Mitglieder Pro NRW-Veranstaltungen wie auch Aufmärsche der militanten Naziszene – obwohl diese den gemäßigten und pro-israelischen Rechtspopulisten eigentlich feindselig gegenüber steht. Den als attraktiv empfundenen Stil der AN und deren betonte Gewaltbereitschaft übernahmen die Jungnazis – die alten Kontakte zu ProNRW aber gaben sie nicht auf. Bei der Razzia wurden zwei ProNRW-Mitgliedsausweise gefunden. Einer der Beschuldigten saß für die Partei sogar im Stadtrat von Radevormwald. Dies ist eigentlich ein direkter Widerspruch zur Straßenkämpfer-Attitüde und der angeblichen „Autonomie“ von ANlern – aber bezeichnend für die Patchwork-Identitäten, die heute auch bei rechtsextremen Jugendlichen üblich sind.
Was diese jungen, radikalen Aktivisten so besonders gefährlich macht, sind ihre fehlenden Skrupel gegenüber Gewalt. Die taktische Zurückhaltung, die viele Funktionäre rechtsextremer Parteien oder auch ältere Neonazi-Kader zeigen, ist ihnen fremd. Es geht ihnen um Action und um ein Kräftemessen mit dem Staat – Wählern zu gefallen oder einer breiteren Öffentlichkeit ihre NS-Ideen näher zubringen, haben sie gar nicht erst vor. Bei einer Strategiedebatte in einem Internetforum antwortete ein ANler auf die Frage, wie man Akzeptanz in der Gesellschaft erreichen könne, mit den Worten: „Bei welchem Bürger denn? Bei dem verblödeten, BRD-umerzogenen Mitvierziger?“
„Die fühlen sich wie im Krieg“
„Gruppen, die sich so radikalisieren, haben irgendwann kein Gewalttabu mehr“, sagt der Soziologe Rainer Erb vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung. Er warnt davor, dass sich aus dem AN-Milieu „Aktionskerne“ bilden, die sich immer weiter abschotten und radikalisieren – wie das läuft, hat man am Beispiel der NSU-Zelle gesehen. „Man stilisiert sich dann als politischer Soldat gegen das feindliche System. Die fühlen sich wie im Krieg“, so Erb, der die AN-Szene seit Jahren im Blick hat. „Und im Krieg sind alle Mittel erlaubt und moralisch gerechtfertigt.“
Die meist sehr jungen Aktivisten haben keine langfristige Strategie, der parlamentarische Weg, der für Mäßigung sorgen könnte, interessiert sie nicht – ihnen geht es um kurzfristige Erlebnisse. Diese aggressive „Hyperaktivität“ macht die AN unberechenbar. Und mit dem Jenaer Terrortrio gibt es nun auch Rollenvorbilder, denen man nacheifern kann.
Die Gefahr, die von den AN ausgeht, ist inzwischen auch den Sicherheitsbehörden bewusst, die vor dem NSU-Skandal jahrzehntelang behauptet hatten, dass es „keine Erkenntnisse zur Existenz rechtsterroristischer Strukturen“ gebe. In einer 20-seitigen, vertraulichen Lageeinschätzung „nur für den Dienstgebrauch“ des Bundeskriminalamts wird neuerdings explizit vor „selbstradikalisierten Einzeltätern“ und der „Bildung terroristischer Kleingruppen“ gewarnt. Das nüchterne Fazit der Beamten: „Mit Tötungsdelikten ist zu rechnen.“
Bearbeiteter Auszug aus dem Buch „Neue Nazis“, das am 16. August bei Kiepenheuer&Witsch erschienen ist; mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
Toralf Staud / Johannes Radke:
Neue Nazis. Jenseits der NPD: Populisten, Autonome Nationalisten und der Terror von rechts.
Kiepenheuer & Wisch, 2012
272 Seiten, 9,99 Euro
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