Politik in Anklam: Der Dicke und die Demokraten

Ein Unternehmer aus dem Westen, der in der ostdeutschen Stadt Anklam Bürgermeister wurde, benimmt sich wie ein Alleinherrscher. Er verschenkt Einkaufsgutscheine, beschimpft die Politik und nennt sich einen Verfechter der "Demokratur". Die Wähler lieben ihn. Neben ihm gelingt es nur noch dem NPD-Vertreter, mit eigenen Positionen punkten.

Von Anita und Marian Blasberg

Es ist der Moment, auf den Michael Galander lange gewartet hat. Er trägt ein goldschimmerndes Sommersakko, als er feierlich die breite Holztreppe des Anklamer Rathauses hinunterschreitet. Um den Hals liegt seine schwere Amtskette. Auf halber Treppe hält Galander inne und blickt hinunter ins Foyer, wo die Stadtvertreter auf ihn warten. »Meine Demokraten« nennt er sie. Sie nennen ihn »den Dicken«, nicht nur, weil sein Körper so viel Raum einnimmt.

Genugtuung liegt in Galanders Blick.

Gerade erst haben sie ihn wieder im Hauptausschuss genervt, als sie verhindern wollten, dass er als Dienstwagen einen teuren Audi bekommt. Sie haben genörgelt, dass ein Bürgermeister nicht dasselbe Auto fahren müsse wie ein Minister, vor allem dann nicht, wenn in der Stadtkasse nur noch 300 Euro liegen. Diese Politiker sind ihm lästig mit ihren Diskussionen, mit ihrer Rechtsaufsicht, den Staatsanwälten, die sie ihm ins Rathaus geschickt haben, aber jetzt ist Ende Juli, und er ist wieder da.

Es ist der Tag, an dem Galander zum zweiten Mal ins Amt des Bürgermeisters eingeführt wird. Nun wird er Anklam in Ostvorpommern acht weitere Jahre regieren.

Galander lächelt ausgeruht, während er in der ersten Reihe zuhört, wie ein Knabenchor das Volkslied Es war ein König in Thule vorträgt. Zwei Jahre lang war Galander suspendiert, weil er verdächtigt wurde, Gelder aus der Stadtkasse veruntreut zu haben. Die Rede war von Schummeleien bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge, von Korruption. Noch wird gegen ihn ermittelt wegen des Verdachts auf Subventionsbetrug, Fälschung von Wahlunterlagen, Verleumdung. Sein Vorbild, sagte Galander einmal in einem Interview, sei Wladimir Putin. An den Fingern seiner rechten Hand stecken zwei goldene Ringe.

Als Galander vorn den Eid auf die Verfassung ablegt, geht ein leises Raunen durch den Saal. Dann stellt sich sein Amtskollege aus der holsteinischen Partnerstadt Heide ans Pult und sagt: »Lieber Michael, ich gratuliere. Der Bürger hat ein Machtwort gesprochen!«

65 Prozent gaben Galander ihre Stimme. Zwei von drei Wählern.

Die Unternehmer aus seiner Partei klopfen Galander auf die Schulter. Karl-Dieter Lehrkamp, der Fraktionsvorsitzende der CDU, überreicht ihm eine Ausgabe von Macchiavellis Der Fürst. »Damit Sie lernen, wie man sich als Herrscher zu verhalten hat«, sagt Lehrkamp und versucht ein Lächeln. Monika Zeretzke von den Linken drückt ihm ein Bund roter Nelken in die Hand. Uwe Schultz, der Sozialdemokrat, ist gar nicht erst gekommen. »Was hat das noch mit Demokratie zu tun?«, hatte Schultz gesagt, bevor er zu seinem Ferienhaus in Mecklenburg aufbrach.

Die Vertreter der etablierten Parteien vergleichen die Verhältnisse in Anklam gern mit denen in Italien. Die Partei des Bürgermeisters ist eine Vereinigung lokaler Unternehmer und stellt die stärkste Fraktion im Rat. Bei der Kommunalwahl holte die NPD acht Stimmen mehr als die SPD. Nicht einmal jeder Dritte wählte eine der alten Volksparteien. Jetzt hat man einen Bürgermeister im Amt bestätigt, der die Gesetze dehnt. Und für das Wochenende haben sich Neonazis angekündigt, um zu demonstrieren.

Das ist in Anklam von der Demokratie übrig geblieben, zwanzig Jahre nach der Wende. Und vielleicht muss man auf diese Kleinstadt schauen, um zu begreifen, wohin die Demokratie zu steuern droht, fernab von Berlin, draußen im Lande, wo die Unzufriedenheit wächst und das Volk misstrauisch auf seine Vertreter blickt. In Anklam, am Rande der Republik, wird die Politik abgewählt.

Wie konnte das passieren?

Am Sonntag vor der Bürgermeisterwahl steht Michael Galander auf einem Ausflugsdampfer und blickt zufrieden über das Deck. Rentner in beigefarbenen Anzügen und sorgfältig frisierte Damen schlürfen ihre Gulaschsuppe. Ruhig gleitet das Schiff über die Peene. Am Ufer wiegt sich das Schilf, und die Stadt verschwindet langsam aus dem Blick. Der Wahlkampf geht in seine letzte Runde.

»Läuft doch«, sagt Galander. »Davon erzählen meine Gäste die ganze Woche, dass sie der Bürgermeister eingeladen hat.« Der Sozialverband ist an Bord, der Diabetesverein und die Johanniter-Unfall-Hilfe, alles Multiplikatoren. Drei Touren macht er an diesem Tag, jeweils 120 Rentner, Kosten: 3000 Euro. »Gut investiertes Geld«, sagt Galander.

Er wird jetzt 41, kurz nach der Wende war er aus dem Emsland nach Ostvorpommern gekommen. Mit 24 gründete er in Anklam ein Tiefbauunternehmen. Mit 32 wurde er zum ersten Mal zum Bürgermeister gewählt. Galander ist Mitglied einer Wählergruppe, die sich Initiativen für Anklam (IfA) nennt. Sie sind Bauunternehmer und Planungsingenieure, Leute, die Gaststätten führen, Pflegedienste, Gartenbaubetriebe. Sie sagen: »Was für die Unternehmer gut ist, ist gut für Anklam.« Im Kommunalwahlkampf charterten sie einen Segelflieger und kreisten mit einem IfA-Banner über der Stadt. Jetzt verlosen sie Einkaufsgutscheine vor dem Baumarkt eines Mitglieds. Am Gebäude einer Fahrschule, die ebenfalls einem IfA-Mann gehört, prangt Galander überlebensgroß. Allein in der langen Pasewalker Straße, beschwerte sich die Konkurrenz beim Ordnungsamt, hingen 33 seiner Wahlplakate.

Als das Schiff nach zwei Stunden wieder auf die Stadt zuhält, nimmt Galander sich das Mikro. »Ich will hier keine Grundsatzrede halten«, sagt er. »Ich würde mich nur freuen, wenn sie mir am Sonntag das Vertrauen aussprechen.« Die Rentner nicken satt und glücklich. Als sie von Bord gehen, drückt Galander ihnen einen Flyer in die Hand – mit Fotos, die daran erinnern sollen, was er für die Stadt getan hat. Man sieht die Baugerüste an der Nikolaikirche und den neuen Bahnhofsvorplatz. Man sieht den Neuen Markt mit seinem Elefantenbrunnen, eines dieser Bauprojekte, deretwegen die Staatsanwälte vor dem Rathaus standen. Es hieß, vor allem IfA-Leute hätten davon profitiert.

»Was am Sonntag auf dem Spiel steht, ist mehr als eine Stelle bei der Stadt«, sagt Monika Zeretzke von den Linken.

Während Galander eine neue Rentnergruppe auf das Schiff schleust, kettet Zeretzke in der Südstadt ihr Fahrrad an. Gemeinsam mit ihrem Kandidaten Daniel Staufenbiel will sie dessen Broschüre verteilen, die Südstadt ist ihr wichtigstes Gebiet. Die Sechsgeschosser werfen schon lange Schatten, aus geöffneten Fenstern dringen Fernsehgeräusche. Hier wohnen ihre Wähler. Monika Zeretzke ist eine kleine, zähe Frau Mitte 50, sie trägt einen roten Anorak und auf dem Rücken einen schwarzen Rucksack.

»Du das Haus, ich das Haus«, sagt sie zu Staufenbiel. Staufenbiel nickt. Weil die Linken in Anklam niemand fanden, haben sie ihn aufgestellt: einen Politikstudenten aus dem 30 Kilometer entfernten Wolgast. »War ja klar«, sagt Zeretzke. Sie ist mit 56 die Jüngste in ihrer Ortsgruppe; in der letzten Legislatur ist eins ihrer Ratsmitglieder gestorben, ein anderes, das an Alzheimer litt, überredeten sie zum Aufgeben.

Zeretzke arbeitet sich von Eingang zu Eingang, doch in vielen Briefkästen steckt bereits der Flyer von Galander. Es ist vertrackt. Während ihre Partei am Abend mit der Landeszentrale für politische Bildung eine Diskussion zum Thema »Was ist meine Stimme wert?« veranstaltet, lädt Galander zum Bowlen ein. »Der ködert die Leute mit Brot und Spielen«, sagt Zeretzke. Galander hat ein Wahlkampfbudget von 12.000 Euro. Die Linken haben 1000. Galander hat einen Zustelldienst mit dem Verteilen seiner Flyer beauftragt. Staufenbiel wird in der Nacht noch einmal losziehen.

Mit seinem langen, wehenden Mantel und seiner feinen Brille wirkt er zwischen den Plattenbauten wie ein Fremder. Niemand spricht ihn an. Doch immer wieder stoppen Anwohner vor Zeretzke.

»Wat machen Sie denn hier?«

»Ich bring euch Post!«

»Wat macht dat Leben?«

»Sonntag wählen gehen!«, ruft Zeretzke.

Sie ist bekannt in Anklam, die »Rote Moni« wurde sie genannt, das war, bevor sie grau wurde. Monika Zeretzke, gelernte Wasserbauingenieurin, ist Mitglied im Arbeitslosenverband, im Präventionsrat gegen rechts, beim Demokratischen Frauenstammtisch. Seit 20 Jahren ist sie im Stadtrat. Ehrenamtlich, für 160 Euro Aufwandspauschale im Monat. Oft sitzt sie bis nachts mit ihrer Lesebrille am Schreibtisch ihres Sohnes und beugt sich über die Haushaltspläne, die inzwischen 400 Seiten umfassen, und wenn sie etwas nicht versteht, schlägt sie in ihrer wuchtigen, kommentierten Kommunalverfassung nach. In ihrem Regal stehen das Buch 365 freche Sprüche für beherzte Frauen und ein 20-bändiges Lexikon über untergegangene Kulturen.

Bis vor Kurzem hat Zeretzke ABM-Stellen vermittelt, seit einem halben Jahr ist sie selbst arbeitslos. »Prekarier«, sagt sie und schickt ihr raues Lachen hinterher. Auch deshalb wollte sie nicht als Bürgermeisterin kandidieren. »Dann heißt es, die macht das doch eh nur wegen dem Geld.«

Wenn sie davon erzählt, wie alles anfing, 89, dann redet sie noch schneller als sonst. Jede freie Minute hat Zeretzke am Fernseher den Runden Tisch verfolgt, beim Bügeln und beim Kochen, »das war die schönste Zeit meines Lebens«. Sie war Mitte 30 und hatte drei kleine Kinder, aber als plötzlich Stadtvertreter gesucht wurden, sagte ihr Mann: Wenn du das nicht machst, wer dann? Kurz darauf war Zeretzke die Fraktionschefin der PDS, der Nachfolgepartei der SED.

Zeretzke hat noch ein Foto der Stadtvertretung aus dieser Zeit, da sind sie alle drauf: der SPD-Schultz in seiner Lederjacke, der CDU-Lehrkamp noch mit schwarzem Vollbart, die Rote Moni mit Zuversicht im Gesicht. 1991 brachen sie gemeinsam nach Heide auf, ihre Partnerstadt im Westen. Sie wollten das neue politische System ertasten, und die Heider staunten, wie viele Anklamer auf eigene Faust mitgekommen waren, aus Neugier, einfach so.

Als sie eine Woche später mit ihrem Wartburg Tourist heimklapperte, wusste Zeretzke, wie man einen Haushalt aufstellt, wie man Anträge formuliert und Ausschüsse bildet. Die Heider schickten Computer nach Anklam, »der Rest war Learning by Doing«, sagt Zeretzke. Die neu gewählten Demokraten tauften Straßen um, die nach dem Staatsratsvorsitzenden Ulbricht oder dem Ministerpräsidenten Grotewohl benannt waren. Sie sanierten alte Wohnkomplexe und debattierten über neue Anschlusstrassen. Bis in die Nacht diskutierten sie in ihrem zum Ratssaal umfunktionierten Theater, und nach den Sitzungen zogen sie weiter in die Kneipe. 40 Jahre lang hatte die Partei bestimmt, jetzt nahmen sie die Dinge endlich selbst in die Hand.

20.000 Menschen lebten damals in Anklam, und sie dachten, dass noch mehr kämen. Aber dann kämpften sie plötzlich um ihre Möbelfabrik, um die Zuckerfabrik, um all die Betriebe, die früher die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR belieferten. Knapp 14.000 Menschen sind heute noch übrig, und in den Häusern der Südstadt stehen die obersten Etagen längst leer. Nur jeder Vierte kann dort noch von Arbeit leben.

Am Abend sitzen Zeretzke und Staufenbiel nebenan in einer Gaststätte. Zwei Studenten von der Landeszentrale für politische Bildung wollen Grundlagen der Demokratie vermitteln. Sie referieren, was ein Bürgermeister überhaupt ist. Außer drei Leuten von den Linken sind nur ein Betrunkener und zwei Rentner gekommen.

»Ick bin HartzIV«, lallt der Betrunkene in den Vortrag. »Wenn ick hier nach Arbeit frach, sacht man mir, jehen Se nach Holland oder Schweden.«

»Das ist interessant, ja«, sagt der Student, dann fährt er fort, aber der Betrunkene insistiert.

»Überall Scherben, die Jugendlichen ham nix zu tun. Warum bringen Se die nicht in Arbeit?« Einer der Rentner rückt seine Brille zurecht. »Wann gibt’s denn mal Termine?«, beschwert er sich. »Wann laden die Politiker uns denn mal ein?«

Zeretzke, die bislang ruhig zuhörte, kann sich kaum beherrschen. Ihre Fraktion tage seit 20 Jahren öffentlich, die Bürgerfragestunde werde in der Zeitung angekündigt, und trotzdem blieben die Stühle meistens leer. »Warum kommen Sie nicht mal vorbei?«, fragt Zeretzke.

Sie wirkt erschöpft, als sie später auf der Straße steht. »Aber wenigstens ein Streit«, sagt sie. »Alles harmonisch, das hatten wir schon schon mal!« Zeretzke hat sich angewöhnt, die Dinge hinzubiegen. Ihr Lieblingsspruch ist: »Demokratie ist teuer, dauert lange, bringt nicht viel und ist trotzdem besser als alles, was wir je hatten.«

Zeretzke arbeitet sich ab, wie all die anderen Lokalpolitiker der großen Parteien. In Anklam kämpfen sie nicht mehr nur darum, Wahlen zu gewinnen. Sie kämpfen jetzt darum, dass überhaupt noch jemand mitmacht. Als Zeretzke 1990 für den ersten Stadtrat kandidierte, war am Wahlsonntag die ganze Stadt auf den Beinen. Bei der Kommunalwahl letzten Herbst ging nicht mal mehr die Hälfte vor die Tür. Helmut Kohl hatte ihnen blühende Landschaften versprochen, Gerhard Schröder die Halbierung der Arbeitslosigkeit und Angela Merkel Konjunkturpakete. Es klang, als sei alles ganz einfach. Als sei der Staat eine Art Restaurant, als seien die Politiker Kellner. Was sie nicht sagten, war, dass Demokratie mühsam ist, dass sie keine Ergebnisse erzeugt, auf die man einen Anspruch hat.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass man heute in Anklam beobachten kann, wie den Parteien das Leben ausgeht: Erst verschwinden ihre Wähler, dann ihre Mitglieder. Die SPD in Anklam hat gerade noch fünf Aktive, der Ortsverband der Linken ein Durchschnittsalter von über 60. Die FDP besteht aus einer Frau, die Grünen existieren gar nicht. Aber man irrt, wenn man glaubt, die Menschen in Anklam seien teilnahmslos: Es gibt den Ruderclub und den Tischtennisverein, die Blaskapelle, den Behindertenverband, den Ring der Handwerker. 58 Vereine und Verbände, mehr als anderswo. Der Naturschutzbund hat hier inzwischen 50 Mitglieder, und es würden immer mehr, sagt die stellvertretende Vorsitzende. Nur eine grüne Partei wolle sie lieber nicht gründen. »Eine Partei verschreckt die Leute.«

Es ist in Anklam wie überall im Land. Wie in Stuttgart, wo die Bürger gegen den Bahnhof Stuttgart 21 auf die Straße gehen, wie in Hamburg, wo sie mit einem Volksbegehren die Schulreform kippten. Galanders IfA wird inzwischen auch von Ärzten, Ingenieuren und Lehrern unterstützt. Die Menschen haben sich nicht von der Politik abgewandt, sondern von den Politikern.

»Ich bin kein Politiker«, sagt Michael Galander, der Bürgermeister. »Politiker sind Leute, die Dinge versprechen, die sie nicht halten.«

Es ist ein sonniger Morgen in der Woche vor der Wahl, als Galander über das Pflaster vor dem Famila-Markt tänzelt. »Gewinne, Gewinne, Gewinne!«, ruft er. Famila ist der bestbesuchte Supermarkt der Stadt. Kunden strömen vom Parkplatz auf ihn zu, Ehepaare mit Hund, Männer in Jogginghosen. Galander streckt ihnen seinen großen Lostopf entgegen. Der Hauptgewinn ist ein 50-Euro-Gutschein für Famila.

»Gibt’s was umsonst?«, fragt eine ältere Dame, und Galander erklärt ihr das Prinzip: Einkaufsgutschein oder als Trostpreis eine Tüte Gummibärchen, auf deren Verpackung sein Gesicht klebt. »Kann ich noch mal?«, fragt die Frau, nachdem sie eine Niete gezogen hat. Galander mischt die Lose wieder durch, dann fischt sie einen Gewinn raus.

»Siehste«, sagt er. »Wie Copperfield.«

Die Frau strahlt noch, als sich Galander schon der Nächsten zuwendet. Galander verteilt Aufmerksamkeit. Ein Gewinner, der ihnen das Gefühl des Gewinnens gibt.

Galander benötigt wenige Sekunden pro Bürger. Er sagt, er wolle einen »positiven Kurzkontakt«. Die Bürger sagen: »Der ist ein Geschäftsmann. Der bewegt wenigstens was.« Sie mögen die hemdsärmelige Art, mit der er auf sie zugeht. Dass er sie duzt, auch wenn sie ihm zum ersten Mal begegnen. Galander ist ein Bürgermeister, der gern Beamtenwitze erzählt. Er bewundert Gerhard Schröder. Wie der am Zaun vom Kanzleramt rüttelte und Jahre später drinnen saß.

Galander ist bei seinen Großeltern aufgewachsen, einer Putzfrau und einem Eisenbahner, er hat es über die Realschule und eine Ausbildung zum Industriekaufmann nach oben gebracht. Als Manager von Anklam sieht er sich, als Macher im Kleinen. Galander muss sich für nichts rechtfertigen, was in Berlin geschieht. Er kann Gutscheine versprechen und Gutscheine verschenken. Er kann Parkplätze versprechen, und seine Unternehmer bauen sie.

In den letzten beiden Jahren, während seiner Suspendierung, hat er viel nachgedacht. Er war mit seinem Hund spazieren, draußen in Bömitz, einem 80-Seelen-Dorf im Grünen, wo er mit seiner Lebensgefährtin wohnt, die er aus Jugendtagen kennt. Sie unternahmen Reisen nach Warstein, Pilsen oder Budweis, und zwischendurch stattete Galander seinen Garten mit Laternen von Bitburger aus, seinem Lieblingsbier. Seine Laube dekorierte er mit Fanschals von Borussia Dortmund. Auf eBay ersteigerte er zwei lebensechte Bullenplastiken, die er in seinem Vorgarten aufstellte.

An diesem Morgen hat er als Einziger eine großformatige Anzeige in der Lokalzeitung. Schröder, sein Wahlkampfmanager, schickte vorhin eine Rundmail mit der eingescannten Anzeige der Linken: Staufenbiels Foto versteckte sich im Anzeigenteil, neben einer Werbung für Zeckenmittel. Galander lacht. Den Namen dieses Studenten, der gegen ihn antreten will, kann er sich immer noch nicht merken.

Der einzige Konkurrent, der es gegen ihn in die Stichwahl schaffen könnte, ist der junge Marco Schulz von der CDU. Aber als Schulz vor ein paar Tagen unter dem Motto »Fit für Anklam« zum Joggen aufrief, machte außer ein paar Jungs von der Jungen Union niemand mit. »Die Volksparteien sind am Ende«, sagt Galander.

Die CDU war mal die stärkste Kraft in Anklam, doch inzwischen ist sogar ihr Schatzmeister zu Galanders IfA gewechselt. Galanders Bürgervorsteher saß früher für die CDU im Stadtrat, und der Bauunternehmer, der damals die CDU unterstützte, ist heute ebenfalls in ihrer Fraktion. »Wir sind ein Verein, keine Partei«, sagen sie alle. Es wisse doch ohnehin keiner mehr, wofür die CDU überhaupt stehe. Auch ein früherer Genosse, der einen Elektrobetrieb führt, ist zur IfA übergelaufen, und selbst Ilona Zerbe, ein Ratsmitglied der Linken, sagt, der Bürgermeister setze sich ein. Erst vor Kurzem hat er die von ihr geleitete Ortsgruppe des Sozialverbands Deutschland zu einer kostenlosen Stadtrundfahrt eingeladen, mit Kaffee und Kuchen.

Es ist merkwürdig. Von Anklam aus betrachtet, wirkt es, als seien die Parteien austauschbar. Und in den Berliner Parteizentralen fürchten sie, der Wähler da draußen sei unberechenbar. Erst verhalfen die Menschen der FDP bei der letzten Bundestagswahl zu einem Erdrutschsieg, dann entzogen sie ihr ebenso schnell ihre Gunst. Vor wenigen Jahren wählten sie die Grünen als Regierungspartei ab, nun erheben die Umfragen sie fast zur Volkspartei. Und vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen: Je unbestimmter die Politiker werden, desto unbestimmbarer wird der Wähler.

»Auf die Person kommt es an«, sagt Galander.

Es war bei seiner Unternehmer-Frühstücksrunde vor neun Jahren, als sie seine erste Bürgermeisterkandidatur beschlossen. Zwölf Jahre hatte die CDU regiert, es herrschte Stillstand in der Stadt. Immer wieder, sagt Galander, seien Investoren abgesprungen, weil die Stadtvertreter zu lange diskutierten. »Das muss mal einer von uns machen«, entschieden sie und zeigten auf Galander, den Tiefbauer. Galander trat als Parteiloser an, doch nachdem er schon in den ersten Wochen regelmäßig mit den Ratsmitgliedern aneinandergeraten war, gründete er mit seinen Unternehmern die IfA: Initiativen für Anklam, das klingt dynamisch, nicht nach Politik. Bei der Kommunalwahl 2004 wurden sie auf Anhieb zweitstärkste Fraktion.

»Die Unternehmer«, sagt Galander, »muss man hegen und pflegen.« Die IfA ist für ihn die sozialste Fraktion, »insgesamt 650 Arbeitsplätze«.

Er straffte die Verwaltung und löste zwei von fünf Fachbereichen auf. Er strich die Ausschüsse zusammen, weil die Geschäftsleute der IfA »nicht ewig Zeit haben zum Quasseln«. Um Firmen in die Stadt zu holen, begann er zu reisen, und die Souvenirs drapierte er in seinem Amtszimmer: den Eiffelturm, den schiefen Turm von Pisa, Big Ben. Er sagte jetzt »ich«, wenn er die Verwaltung meinte.

Immer wenn es Zuschüsse gab, ließ er ein Haus abreißen, eine Straße bauen oder einen Kreisverkehr. Und nach wenigen Jahren schien es, als habe Galander die Stadt einmal umgepflügt. Er verpflanzte das Denkmal für den Flugpionier Otto Lilienthal, den berühmtesten Sohn der Stadt, an einen neu gepflasterten Platz nahe der Altstadt. Er kurbelte den Tourismus an, er holte ein Callcenter nach Anklam. Keiner der Stadtvertreter bestreitet, dass Galander für Aufbruch gesorgt hat. Doch der Preis, sagen sie, ist seine Alleinherrschaft.

Wenn Galander von den Stadtvertretern spricht, dann klingt das so: Einige von ihnen dächten, der Strom komme aus der Steckdose und das Geld von der Sparkasse. Es sind Leute über 50, denen er sich überlegen fühlt, Bedenkenträger, sagt er. Immer wollten sie alles diskutieren. Galander will nicht diskutieren. »Ich tendiere zur Demokratur«, sagt Galander gern.

Die Bundesrepublik Deutschland, sagt das Grundgesetz, ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Abgeordnete ringen im Parlament um Mehrheiten und kontrollieren die Regierenden. Was das Grundgesetz nicht sagt, ist, dass Demokratie Geduld erfordert. Dass man reden muss und streiten, um verschiedene Interessen auszugleichen. Dass es Respekt erfordert, die Meinung anderer zu akzeptieren.

»Es geht darum, Kompromisse zu erarbeiten«, sagt Karl-Dieter Lehrkamp von der CDU, der am selben Morgen mit seiner Ortsgruppe klingelnd durch die Stadt radelt. Neben ihm rollt Marco Schulz, sein Bürgermeisterkandidat, vorweg ein Wagen, auf dem ein Banner der Partei spannt. Sie überqueren die Bahnschienen, die irgendwo im Nichts der Sumpfgebiete enden, es geht durch Wiesen, auf denen Kühe weiden, durch Gebiete, wo jeder Dritte NPD wählt, und vielleicht muss man in dieser Gegend so verwurzelt sein wie Lehrkamp, um zu sagen: »Das ist die Toskana Deutschlands.«

Lehrkamp ist ein kleiner stämmiger Mann mit grauem Bürstenschnitt, der aus einer alten pommerschen Bauernfamilie stammt. Seit vielen Jahren führt er die Fraktion der CDU. Er war Bürgervorsteher und ist Kreistagspräsident, ein kühler Analytiker, der im Ratssaal mit Anzug und Krawatte auftritt. Er ist konservativer als viele in der CDU, er spricht oft von Gemeinsinn. Nach der Wende wurde Lehrkamp Chef der Wohnungsgenossenschaft. Als sie die Plattenbauten in der Südstadt sanierten, ließ er zuerst die Wohnungen mit den Kohleöfen renovieren. Er sagt: »Die mit den Gasheizungen, das waren die Bonzen.«

Als er mit Schulz am Famila-Markt ihren Infostand aufbaute, mussten sie das CDU-Logo abhängen. Der Geschäftsführer, einer von Galanders Bekannten, habe erklärt, dass er unparteiisch bleiben müsse. Anders als die IfA sei die CDU eine Partei.

Es ist diese Art von Kumpanei, die Lehrkamp am meisten an Galanders Leuten ärgert. Dass da Unternehmer den Rat missbrauchen, um sich gegenseitig Aufträge zuzuschanzen. Er ärgert sich über ihre »Stimmenfänger«, den Chef des Karnevalsvereins oder die beliebte Kinderärztin, die bei der Kommunalwahl gewählt wurden, aber ihr Mandat später an andere abtraten, die kaum Stimmen bekommen hatten. Er ärgert sich, dass Galander die Bibliothek verkaufen wollte, den Wald, der seit Jahrhunderten der Stadt gehört. Um das zu verhindern, stimmte Lehrkamp sogar mit Zeretzke, der Linken.

Lehrkamp sagt: »Galander trat hier auf, als hätte er sich eine Stadt geschossen.«

Anfangs waren es nur Petitessen. Die Dienstreisen nach Island oder Schweden, wo er angeblich neue Partnerstädte finden wollte, die Übernachtungen im vornehmen Berliner Hotel Adlon. Die Arroganz, mit der er sich dem Rechnungsprüfungsausschuss widersetzte. Als die Christdemokratin Renate Jasinski, die dem Ausschuss vorsaß, ihn im Rat zur Rede stellte, nannte er sie eine »Schande für die Stadt«. Als sie beantragten, dass er einen Lehrgang absolviere, um die Verwaltungsabläufe zu lernen, kritzelte Galander auf ein Blatt: »Bürgermeister kann jeder«.

»Im Rathaus«, sagt Lehrkamp, »wurde jeder an die Wand gedrückt, der nicht seiner Meinung war.« Ein Jurist aus der Leitungsebene fand sich in der Friedhofsverwaltung wieder, und dem Chef des Bauamts wurde fristlos gekündigt. Er hatte darauf hingewiesen, dass Galanders Lebensgefährtin mit ihrer Recyclingfirma ein nicht genehmigtes Grundstück nutzte. Im September 2004 verfassten Angestellte der Verwaltung einen öffentlichen Hilferuf: Ein »korrupter und betrügerischer Bürgermeister«, schrieben sie, »verbreitet Angst und Misstrauen im Haus.« Lehrkamp war geschockt.

Galander machte, was er wollte, und wenn sie versuchten, ihn zur Rede zu stellen, war er oft verreist. Als sie im Stadtrat die Frage diskutierten, welche Baufirma den Neuen Markt gestalten sollte, ging der Auftrag an eine Gruppe Anklamer Unternehmen. Einer ihrer Chefs ist Mitglied der IfA. Galander erwähnte in dieser Sitzung nicht, dass das Planungsbüro der Stadt eine auswärtige Firma vorgeschlagen hatte, deren Angebot günstiger war. Die Stadtvertreter nickten seinen Vorschlag ab. Später stellte sich heraus, dass der Stadt durch die Vergabe Mehrkosten entstanden sind, 68.000 Euro. »Steuergelder«, sagt Lehrkamp. »Vermögen unserer Stadt.«

Um Galander zu stoppen, wandten sie sich nun immer öfter an die Kreisaufsicht. »Die Kreisaufsicht kommt erschwerend zur Demokratie hinzu«, sagt Galander. Im Oktober 2007 absolvierte er in Düsseldorf eine Fortbildung für Behördenleiter »im Fokus der Staatsanwaltschaften«.

Zwei Monate später fuhren vier Polizeiwagen vor das Rathaus. Die Ermittler nahmen Computer mit, Bauakten, und in einer turbulenten Sitzung wurde Galander von den Stadtvertretern suspendiert. Zwei Jahre lang recherchierten die Staatsanwälte, hörten hundert Zeugen, doch im Januar 2010 befand in Stralsund das Landgericht, der Bürgermeister habe vielleicht selbstherrlich gehandelt, nicht aber strafbar. Die Klage wurde abgewiesen, und Galander zog wieder ins Rathaus ein.

»Jetzt stehen wir wie die Deppen da«, sagt Lehrkamp. Jetzt sieht es so aus, als wäre alles eine einzige Schlammschlacht gewesen. Auch deshalb hat die CDU nun Marco Schulz als Kandidaten aufgestellt. Schulz sagt: »Ich will versöhnen, nicht spalten.«

Schulz ist 29, ein Polizeiverwaltungsangestellter, der in seiner Freizeit Trompete spielt und zwei kleine Töchter hat. Für den Wahlkampf hat er sich drei Wochen freigenommen. An einem Abend kurz vor der Wahl steht Schulz mit roten Wangen im Foyer der Anklamer Turnhalle unter einem Schirm mit CDU-Logo. Die Junge Union hat zur Sportnacht eingeladen. 18 Teams spielen Fußball gegeneinander, und Schulz verwickelt einen angetrunkenen Glatzkopf in ein Gespräch.

»Ich zum Beispiel bin ja konservativ«, sagt er. »Ich hab Familie, da sind mir Werte wichtig.«

»Ick hab ooch Familie«, meint der Glatzkopf, »aber da wähl ick lieber PDS.«

Eine halbe Stunde reden sie, über Werte, über Hartz IV, das große Ganze, während Galander entspannt am Zapfhahn steht. Es ist ein mieser Abend. Seit Tagen hat Schulz ein Schlafdefizit, und jetzt kann er nicht mal sicher sein, ob sich der Glatzkopf morgen früh an ihn erinnert. Unten in der Halle hat die IfA-Truppe die Junge Union mit 8:1 vom Platz gefegt, und zu vorgerückter Stunde hockt Galander grinsend unterm CDU-Schirm und verteilt den Flyer seines Gegners.

Es ist wie in der Fabel von dem Hasen und dem Igel. Wo Schulz oder Zeretzke auftauchen, war Galander schon. Wo sie nach Erklärungen ringen, behelligt er die Menschen nicht mit Inhalten. Wo sie umständlich nach Worten suchen, verschenkt er Lose. Ein Mann, der in der Öffentlichkeit im Trainingsanzug auftritt. Ein König aus der ostdeutschen Provinz, dem man zutraut, die Stadt aus einer Krise zu führen, weil er sich selbst aus einfachen Verhältnissen herausgekämpft hat.

»Vielleicht«, sagt Uwe Schultz, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, »haben wir auch etwas falsch gemacht. Vielleicht waren wir zu intellektuell.«

Am Morgen des Wahlsonntags navigiert Schultz in einem grauen Imkerkittel zwischen den Johannisbeersträuchern in seinem Garten. Mit prüfendem Blick nähert er sich einem Bienenstock, hebt den Deckel und setzt vorsichtig eine Königin zum Volk. »Prächtig gediehen«, murmelt er. In letzter Zeit spricht Schultz häufiger mit seinen Bienen als mit den Bürgern.

»Hat ja doch kein’ Zweck«, sagt er. Nicht mal Plakate hat die SPD drucken lassen. Ihre Kandidatin ist eine zugezogene Archäologin aus Bayreuth. »Das sagt doch alles«, sagt Schultz.

Vor seiner Pensionierung war er Mathematik- und Physiklehrer. Zu den Ratssitzungen fährt er mit dem Fahrrad, am Lenker seine braune Ledertasche. Nach der letzten Kommunalwahl hatte es Schultz im Giebelhaus nicht mehr auf seinem Platz gehalten. »Was ist nur aus dieser stolzen Sozialdemokratie geworden?«, rief er außer sich. 1998 hatte er als Landtagskandidat noch 40 Prozent geholt, jetzt waren es in Anklam sieben, und sie erweiterten den Hauptausschuss, damit er, Schultz, noch Platz darin hat. Ein Almosen.

Gleich nach der Wende trat er in die SPD ein, jedes Jahr fährt er mit ihr in Urlaub. Auf seinem vergilbten Mitgliedsausweis hat er alle Großen unterschreiben lassen, Brandt, Vogel, Engholm, Lafontaine. Nur Schröder fehlt. Schultz hatte da so ein Gefühl. »Hartz IV hat uns das Genick gebrochen«, sagt er.

Immer wieder musste er den Leuten erklären, warum sie in Qualifizierungsmaßnahmen sollten, obwohl es ja doch keine Arbeit gab, und irgendwann hat er aufgegeben. Als die SPD gestern in ihrem Bürgerbüro gebrauchte Bücher verschenken wollte, kam ein einziger Mann. Der Rentner Ulrich Wutzke setzte sich an einen Tisch und rechnete vor, dass er und seine Frau von 800 Euro leben müssten. Eigentlich stünden ihnen 1000 zu, doch seine Frau erhalte Hartz IV, und deshalb seien sie nun eine Bedarfsgemeinschaft. Wutzke kochte. Ein Leben lang hat er gearbeitet, und jetzt behandelt ihn dieser Staat, als sei er ein Bittsteller. Am Ende malte Wutzke sein Haus auf einen Zettel, zog einen Zaun darum und sagte: » Das sind die Grenzen, in denen ich inzwischen denke. Von der Politik erwarte ich nichts mehr!«

Schwer zu sagen, wer von wem zuerst enttäuscht war: Schultz vom Bürger, weil der sich abwandte, oder der Bürger von Schultz, weil er seinen gut gemeinten Worten nicht mehr traute.

»Bedarfsgemeinschaft!«, wiederholte Wutzke. Und es scheint, als müsste Schultz jetzt eine Sprache übersetzen, die er selbst nicht mehr ganz versteht. Auch für die Stadtvertreter in Anklam ist alles undurchschaubarer geworden. Seitdem die Politiker in Berlin die wichtigen Fragen in Expertenkommissionen auslagern, anstatt sie im Parlament zu diskutieren. Seitdem sie in den Fernsehrunden mehr mit Statistiken hantieren als mit Argumenten. Seit sie immer öfter von Sachzwängen sprechen als von politischem Willen.

In den Ratssitzungen stellt Schultz fast nur noch kritische Fragen. Anträge stellt er kaum noch. Selbst die Anklamer Haushaltspläne sind inzwischen so dick, dass sie kaum noch jemand versteht, und von 2012 an werden sie von Wirtschaftskanzleien erstellt, bundesweit. »Dann«, sagt Schultz, »blickt hier gar keiner mehr durch.« Dann werden sie noch weniger Kontrolle haben.

Sie alle sind erschöpft, Schultz, Zeretzke und Lehrkamp, und manchmal wirkt es, als seien sie inzwischen mehr damit beschäftigt, ihre Ideale vor der Wirklichkeit zu retten, als die Wirklichkeit nach ihren Idealen zu gestalten.

Als die NPD 2007 die ehemalige Kaufhalle in der Innenstadt ersteigerte, rangen sich die Stadtvertreter nach langer Diskussion zu einer Plakataktion durch. »Die NPD ist keine NORMALE Partei«, schrieben sie darauf, doch weil selbst einige Ratsmitglieder sich nicht trauten, das Plakat in ihrem Geschäft aufzuhängen, machten auch die Bürger nicht mit.

Michael Andrejewski, der Vorsitzende der NPD-Fraktion, setzt sich mittlerweile mit den anderen Stadtvertretern für die Restaurierung der alten Nikolaikirche ein, und im Rat wurde sein Antrag zum Erhalt des Kreisstadtstatus einstimmig verabschiedet. In sechs Jahren erhielt er nicht einen Ordnungsruf. In den Sitzungspausen sitzt er inzwischen oft bei der CDU mit am Tisch.

»Man hat es laufen lassen«, sagt Schultz, »und niemand wollte es merken.«

An einem Nachmittag im Spätsommer schließt Michael Andrejewski von der NPD die Tür des Giebelhauses scharf. Zweimal dreht er den Schlüssel im Schloss, dann läuft er mit eiligen Schritten in Richtung Innenstadt. Über der Schulter trägt er einen Jutebeutel, darin ist sein Anklamer Bote, die Gratiszeitung, die er von seinem Gehalt als Landtagsabgeordneter drucken lässt.

Der Bote erscheint auch auf Usedom, in Stralsund und in Greifswald, auf eine Auflage von 100.000 kommen sie inzwischen. »Es gibt keine Konkurrenz von den etablierten Parteien, die Lokalzeitung wird immer dünner«, sagt Andrejewski. »Unabhängiges Mitteilungsblatt« hat er seine Zeitung genannt, darin kommt die Partei nicht vor, dafür praktische Tipps zum Leben mit Hartz IV.

Andrejewski ist Rechtsanwalt. Vor sieben Jahren ist er von Hamburg nach Anklam gekommen, »weil hier das herrschende System am krassesten versagt hat«. Jeden Montag öffnet er sein Büro zur kostenlosen Hartz-IV-Beratung. Dann kommen Männer, denen der Strom abgestellt wurde, alleinerziehende Frauen, die aus ihrer Wohnung müssen. »Leute, die nicht unbedingt NPD wählen«, sagt Andrejewski. Er schreibt Widersprüche für sie, er klagt vor Gericht, wenn nötig. Das Thema Politik schneidet er nicht an. Auch er will niemanden behelligen.

Neben Galander ist Andrejewski der Einzige in Anklam, der von der Politik leben kann.

Um Nachwuchs muss Andrejewski sich nicht sorgen. Regelmäßig organisieren seine Kameradschaften in den Dörfern Konzerte, bald wollen sie in der alten Kaufhalle eine Nationale Bibliothek eröffnen, und für das Wochenende planen sie ein Kinderfest, auf einer Wiese mitten in der Stadt. Für den Fall, dass es verboten wird, hat Andrejewski eine Demonstration angemeldet. »Das Volk ist wütend«, sagt er. Dann huscht er durch die Tür seiner Parteizentrale.

Es ist vieles in Unordnung geraten in Anklam, zwanzig Jahre nach der Wende. Die Anklamer vertrauen jetzt einem Bürgermeister, der sagt, er sei kein Politiker, und einem Systemfeind, der das System, das ihn ernährt, abschaffen will. Beide schüren auf ihre Weise die Wut auf die alten Parteien. Der eine profitiert vom anderen.

Der Morgen ist noch friedlich, als Michael Galander seinen Wagen zum Bahnhof steuert. Es ist der Tag, an dem die NPD ihr Kinderfest abhalten wollte, aber weil Galander es verbot, hat Andrejewski Neonazis aus der ganzen Region zusammengetrommelt. Gleich werden sie am Bahnhof eintreffen, dann wollen sie marschieren.

Um kurz vor zwölf baut sich Galander mit verschränkten Armen auf dem Bahnhofsvorplatz auf. Wie ein Sheriff steht er da in seinem schwarzen Hemd und seiner schwarzen Jeans. Um ihn herum Polizisten mit Schlagstöcken und Helmen.

Züge aus Brandenburg treffen ein, aus Rostock, Greifswald, Stralsund. Glatzköpfe mit Fahnen versammeln sich auf dem Platz, Mädchen, die aussehen wie Pfadfinderinnen. Auf ihren T-Shirts steht »Wir ficken euer Scheißsystem«. Es werden immer mehr.

»256 sind es«, sagt der Polizeichef.

»Man bräuchte einen Colt«, sagt Galander und blickt hinüber zum NPD-Mann Andrejewski.

»Wir sind die wahren Demokraten«, brüllt Andrejewski durch ein Megafon, und seine Stimme hallt zwischen den Häusern, in deren Fenstern plötzlich Menschen auftauchen.

Kein Landtagsabgeordneter ist da. Kein Stadtvertreter, kein Politiker aus Berlin. Uwe Schultz ist in seinem Ferienhaus in Mecklenburg, Monika Zeretzke rupft neben ihrer Garage Unkraut, und Karl-Dieter Lehrkamp tauft einen ICE auf Usedom. Michael Galander ist der Einzige, der sich Andrejewski an diesem Morgen entgegenstellt. Jetzt machen sie die Sache unter sich aus.

Dieser Text erschien als Dossier am 04.10.2010 auf ZEIT online. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Mehr Informationen zu Rechtsextremismus in Mecklenburg-Vorpommern:

| netz-gegen-nazis.de
| NPD-Blog.info

Eine gute Reportage zur Situation in Anklam auch aktuell in der taz.

Kampagne:

Um die zivilgesellschaftlichen Kräfte in Mecklenburg-Vorpommern zu stärken und eine Wiedereinzug der NPD in den Landtag bei den Wahlen 2011 zu verhindern, hat die Amadeu Antonio Stiftung die Kampagne
| "Kein Ort für Neonazis in Mecklenburg-Vorpommern"
gestartet.

drucken