Am 28. November 2017 wird zum zweiten Mal der Amadeu Antonio Preis verliehen. Mit ihm werden Projekte ausgezeichnet, die sich kreativ für Menschenrechte und gegen Rassismus und Diskriminierung engagieren. Der Preis, der von der Amadeu Antonio Stiftung und der Stadt Eberswalde vergeben wird, erinnert zugleich an den gewaltsamen Tod von Amadeu Antonio Kiowa vor 27 Jahren und an die vielen weiteren Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland.
Sechzig Projekte haben sich für den Preis beworben, sieben sind nun nominiert - die stellt Belltower.News vor. Heute: Lückenlos e.V. mit dem Tribunal “NSU-Komplex auflösen”
Die (Nicht-)Aufklärung der Machenschaften des “Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU)” sorgt bis heute für viel Kritik und Zweifel an Behörden und Politik. Das Tribunal “NSU-Komplex auflösen” entstand vor allem, um den Opfern bzw. ihren Angehörigen eine Stimme und Aufmerksamkeit für ihre Perspektive zu verleihen. Fiona Katharina Flieder sprach mit Massimo Perinelli, Mit-Initiator des Tribunals, über das Projekt und die aktuellen Entwicklungen im NSU-Prozess.
Wie ist das Projekt entstanden?
Das Tribunal ist aus der jahrelangen Arbeit in Köln im Rahmen der Initiative “Keupstraße ist überall” entstanden. Im Jahr 2013 haben wir begonnen, mit den Menschen aus der Straße, in der es 2004 den Nagelbombenanschlag gab, ins Gespräch zu kommen. Denn auch nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 herrschte hier großes Schweigen. Das war besonders schlimm für die Betroffenen, quasi die Bombe nach der Bombe. Die Menschen, die Opfer des Anschlags waren, galten zudem lange Zeit als die einzigen Verdächtigen. Wir haben mit ihnen gesprochen, haben sie unterstützt, sich selbst zu ermächtigen. Wir haben Veranstaltungen gemacht, Podien, Vorträge. 2015 den “Tag X” vor dem Gericht in München, als die Menschen aus der Keupstraße dort vorgeladen waren.
Auf dieser Grundlage haben wir dann 2014 ein bundesweites Aktionsbündnis gegründet. Damit wollten wir die verschiedenen Initiativen aus von NSU-Anschlägen betroffenen Städten zusammenbringen. Eine gemeinsame bundesweite Aktion war dann zum Beispiel die Straßenumbenennungen, bei der in allen Städten Straßen die Namen der Opfer erhielten.
In den Gesprächen mit den Betroffenen haben wir gemerkt, dass das ihnen nicht reichte. Sie forderten Aufklärung, die Benennung der Täter - also nicht nur die Nazis vom NSU, sondern auch die Verfassungsschützer, die Polizei, die Presse und Medien, die die Opfer jahrelang stigmatisierten. Zudem gab es noch keinen Ort, an dem Schmerz und Trauer der Betroffenen und Angehörigen ihren Ausdruck finden konnten. Die Orte der Aufklärung haben nur sehr begrenzt Räume zur Verfügung gestellt. Wir wollten einen eigenen Ort schaffen, an dem die Menschen ihre Geschichten teilen können und auch gehört werden würden.
Das Projekt hat viele verschiedene Komponenten - Wie sind diese gestaltet?
Inhaltlich wollten wir die drei Formen einer Klage transportieren. Die erste Klage ist die Wehklage um die Toten, in der wir dem Schmerz und der Trauer Ausdruck verleihen möchten. Die zweite Klage ist die Anklage - deswegen auch der Name “Tribunal” - denn es waren ja wie gesagt nicht nur die Mörder des NSU, sondern auch der Verfassungsschutz, der da mitgemischt hat, die Polizei, die es nicht ernst nehmen wollte und zunächst Opfer zu Tätern gemacht hat, Politiker, die immerzu von kriminellen Ausländern geredet haben, und die Medien, die das alles noch befeuert haben… Diesen institutionellen und strukturellen Rassismus wollten wir anklagen. Und als dritte Klage folgt dann die Einklage einer Gesellschaft, in der wir eigentlich schon längst leben. Eine postmigrantische Gesellschaft, die durch die Anschläge angegriffen wurde.
Die drei Klagen vereinigt haben bei vielen Kunstinstitutionen schnell ein offenes Ohr gefunden. Mit dem Schauspiel Köln hat die Initiative “Keupstraße ist überall” schon früher zusammengearbeitet. Dieses Mal haben sie uns dann ihr gesamtes Theater mit allen Technikern und so weiter zur Verfügung gestellt. Auch das Maxim-Gorki-Theater in Berlin hat uns unterstützt, die Kammerspiele in München sowie die Akademie der Künste der Welt in Köln und viele, viele weitere künstlerische Institutionen. Das hatte natürlich Auswirkungen auf das Format und die Inszenierung des Projekts, was uns durchaus gelegen kam, weil wir uns von den anderen Tribunalen, die es weltweit gibt, abgrenzen wollten. Wir haben dann gemeinsam mit den Künstlern über die Inszenierung und die Wirkung der Räume nachgedacht. Wir wollten keine klassischen Gerichtssituationen nachspielen. Wir wollten keine frontale Konfrontation zwischen Aktivisten und Zuschauern. So haben wir viel aus den Publikumsrängen heraus geredet, während die sonst unsichtbare Arbeit zum Beispiel der Dolmetscher sichtbar gemacht wurde. Experten kamen natürlich auch zu Wort, aber sie sollten nur ihr Wissen einbringen und dann wieder abtreten. Der Fokus sollte ganz klar auf den Hauptpersonen liegen: den Betroffenen und Angehörigen.
Wie ist das Projekt angekommen?
Was wir da gemacht haben, war etwas Neues. Es ging ganz klar um die Perspektive der Betroffenen. Sie wussten, was passiert ist. Sie wussten es von Anfang an und sie haben es auch gesagt. Es hat nur niemand zugehört. Und das ist das Grundproblem, dass ihnen nie zugehört oder geglaubt wurde. Daher wollten wir ihre Perspektive und ihr Wissen in dem Projekt zentral stellen.
Das Publikum war bunt gemischt, von normalem Theaterpublikum bis hin zu politischen Aktivisten aus antirassistischen Initiativen. Die Besucher fanden unser Programm sehr, sehr ergreifend, viele haben auch geweint. Aber es war nicht so beklemmend, wie das Erzählen von rassistischer Gewalt ja häufig ist, sondern immer auch bestärkend und empowernd. Wir hatten da ein sehr starkes offensives solidarisches Moment.
Und es sind viele Folgeprojekte daraus entstanden. Es gab Ausstellungen, Konferenzen, und vieles mehr. Und es geht weiter. Das Projekt war also ein großer Erfolg. Weil es so noch nie dagewesen war, war es ein sehr einschneidendes Erlebnis. Ich war von den Reaktionen wirklich überwältigt. Was daraus noch alles resultieren wird, ist aber noch nicht absehbar.
Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen im NSU-Prozess?
Der Prozess neigt sich ja nun dem Ende zu. Seit letzter Woche hören wir die Nebenklage-Plädoyers. Das ist unheimlich wichtig, da endlich die Opfer beziehungsweise ihre Angehörigen zu Wort kommen. Sie haben aber leider auch mit massiven Störungen durch die Anwälte der Nazis zu kämpfen. Es wird immer wieder interveniert, eine totale Respektlosigkeit! Am Dienstag hat Elif Kubaşık im Gericht gesprochen, die Witwe von Mehmet Kubaşık, der am 4. April 2006 ermordet wurde, am nächsten Tag sprach seine Tochter Gamze. Sie haben wahnsinnig bewegende und auch kämpferische Worte gefunden, um deutlich zu machen, dass Menschen wie sie hierher gehören und sich nicht vertreiben lassen.
Mit dem Ende des Prozesses hoffen viele, dass endlich ein Schlussstrich unter dieses Kapitel gezogen werden kann. Dagegen gibt es zum Glück schon eine massive Bewegung, denn so vieles ist noch ungeklärt. Wir müssen das Thema weiterhin wach halten und die Aufmerksamkeit weiter auf die Perspektive der Betroffenen lenken, für die der Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist.
Mehr zum Amadeu Antonio Preis:
Die Nominierten:
- "Schluchten - Neue Nachbarn"
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Schülergesprächskonzerte der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie Dresden
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Tribunal "NSU-Komplex auflösen"
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