"Gute Laune und Bier" sollten die Wurzener Wutbürger mitbringen - letzteres gelang teilweise im Übermaß, ersteres nicht: Die versammelten Menschen waren größtenteils betrunken und aggressiv - und für die Geflüchteten in Wurzen sehr beängstigend.
Screenshot Facebook, 13.06.2017

Nach Facebook-Aufruf: 60 “besorgte“ Wurzener wollen Flüchtlinge angreifen

Wie es aussieht, wenn Hetze aus dem Internet auf die Straße tritt, ließ sich am Wochenende in der sächsischen Kleinstadt Wurzen betrachten: Rund 60 Menschen versammelten sich dort am Freitag, den 09.06.2017, auf dem Marktplatz, nachdem im Internet dazu aufgerufen wurde, Geflüchteten zu zeige, wem "die Straßen der Stadt" und "die ganze Stadt" gehören. Ihr Ziel: Ein Wohnhaus, in dem Geflüchtete wohnen. Die Polizei war vor Ort und verhinderte Schlimmeres, sprach aber von "pogromartigen Szenen".

 

Von Simone Rafael

 

Eine Demonstration hatten die "besorgten Bürger_innen" nicht angemeldet. Es gab allerdings einen Aufruf über Facebook-Messenger-Gruppen, zur "Protestaktion" zu kommen und "gute Laune und Bier" mitzubringen. Weil die Zivilgesellschaft, die Stadt und die Polizei dies mitbekommen hatten, waren sie zumindest darauf vorbereitet, dass am Freitagabend eine rassistische Aktion gegen Geflüchtete in Wurzen geplant war. So waren auch rund 60 Polizist_innen vor Ort, um die vielfältig aggressiven und alkoholisierten Männer und wenige Frauen daran zu hindern, Übergriffe auf das Wohnhaus in der Wenceslaigasse und dessen Bewohner_innen zu begehen.  Im Haus leben syrische und afghanische Familien mit Kindern, die verängstigt in ihren mit heruntergelassenen Rollläden verrammelten Wohnungen saßen, betreut von ehrenamtlichen Helfer_innen, wie Ingo Stange vom Netzwerk Demokratische Kultur Wurzen (NDK) berichtet. Bei den Rassist_innen handelte es sich größtenteils nicht um - in Wurzen ebenfalls ansässige - bekannte Rechtsextreme, sondern eher um Menschen aus dem Umfeld der flüchtlingsfeindlichen Facebook-Seite "Wurzen wehrt sich gegen Asylmissbrauch" (inzwischen offline).

Auf der Straße filmten sich die "Demonstrierenden" selbst und stellten den Film ins Internet - empört darüber, dass die Polizei sie nicht in Reichweite derjenigen ließ, denen ihr Rassismus galt. Im Video ist gut zu sehen, wie aggressiv die Männer bereits die Polizisten angehen und beschimpfen (auch die Kommentare auf Facebook dazu sind bezeichnend - beispielhaft schreibt etwas "Sabrina": "Ne diese Polizisten sind die Verbrecher deute Staatsbürger anzugreifen nur weil sie sich berechtigt gegen die Asylanten aussprechen ist assozial. Soviel zu: Polizei dein Freund und Helfer." - Rechtschreibung wie im Original-Post).

Die Polizei berichtet auch von "Deutschland den Deutschen"- und "Ausländer raus"-Sprechchören, als eine größere Gruppe gegen 21:30 Uhr versuchte, die rund 300 Meter vom Marktplatz zum Wohnhaus zurückzulegen. Augenzeugen sprachen laut "Leipziger Volkszeitung" im Nachgang von einer beängstigenden Lage, die jederzeit hätte eskalieren können. Die Polizei richtete eine Platzverweiszone in der Altstadt von Wurzen ein. Um diese durchzusetzen, kam es zu zwei Gewahrsamnahmen, mehreren Identitätsfeststellungen und Anzeigen wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (vgl. LVZ, Polizei Sachsen).

Hintergrund der Aktion ist ein Vorfall in der Nacht zum Pfingstmontag, als zwei Männer mit fünf Geflüchteten in Streit gerieten, weil diese Musik hörend durch die nächtliche Straßen liefen. Während es im Polizeibericht so klingt, als hätten die jungen Geflüchteten aus Eritrea aggressiv auf eine "sachliche" Bitte nach Ruhe reagiert (vgl. LVZ), berichtet Ingo Stange, dass die Geflüchteten, die gerade ausgeliehene Stühle zurückbringen wollten, nach einer aggressiven Ansprache von den zwei Männern durch die Stadt gejagt worden wären und in ihrer Angst versucht hätten, sich zu wehren - wobei die Männer verletzt wurden. Die Polizei habe allerdings nur die deutschen Männer nach einer Schilderung des Vorfalls befragt, die Eritreer dagegen nicht. Denen sei nur gesagt worden, dass sie jetzt eine Vorladung bekämen. Die einseitig formulierte Pressemitteilung der Polizei heizte das Klima in Wurzen an.  

Es war nicht die erste Erfahrung der Geflüchteten mit rassistischer Bedrohung. Erst im Januar hatte es einen Übergriff auf eine Wohnung gegeben, in der junge Eritreer untergebracht wurden. Als dort ein Verkehrsschild und Knaller durch das Fenster der Erdgeschosswohnung geworfen wurden, war dies das Ende einer langen, zermürbenden Hass-Aktion. "Immer wieder wurde nachts ans Fenster geklopft oder nachts geklingelt", berichtet Stange von der Zermürbungstaktik. Als die Fensterscheibe zu Bruch ging und es im Zimmer brannte, riefen die Geflüchteten die Polizei - die allerdings erst kam, als deutsche Unterstützer_innen sie erneut anriefen. Diese Folge von Rassismus und Bedrohung hinterlässt bei den Geflüchteten in Wurzen tiefe Spuren, berichtet Stange: "Die letzten Nächte war es ruhig, aber die Angst bleibt da. Alle wissen, dass jederzeit wieder etwas passieren kann."

Hier das Video der Demonstration über die Facebook-Seite "Wurzen wehrt sich gegen Dummheit", die sich als Reaktion auf die flüchtlingsfeindliche Facebook-Seite "Wurzen wehrt sich gegen Asylmissbrauch" (derzeit offline) gegründet hatte. Ursprünglich wurde das Video von den Demonstrierenden und Sympathisanten veröffentlicht.

 

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