Kanzler Strache?

30 Prozent haben die rechtspopulistischen Parteien bei den Wahlen in Österreich eingeheimst. Doch solange sie zerstritten sind, bleiben die Rechtsextremen ohnmächtige Dritte.

Von Joachim Riedl

Dragica Radulovic meint es ernst. "Ich will von ganzem Herzen, dass dieser Mann Bundeskanzler wird", bekennt die Pensionistin mit serbischen Wurzeln. "Und später auch Bundespräsident." Seit 1972 lebt sie in Österreich. Früher hat sie immer die Sozialdemokraten gewählt, am vergangenen Wahlsonntag zum ersten Mal ihr neues Idol Heinz-Christian Strache. Kaum eine Wahlversammlung mit dem FPÖ-Parteiführer in Wien hat sie ausgelassen, weder das Traditionstreffen am Viktor-Adler-Markt in Favoriten noch die Versammlung im proletarischen Einkaufsparadies Lugner City. Jetzt wartet sie geduldig am Wahlabend im Festzelt der triumphierenden Populisten nahe des Parlaments darauf, dass der Hoffnungsträger für sie ein Leibchen mit seinem Konterfei signiert.

Es ist der Abend des "blauen Wunders" (Strache), und für viele ist es nur ein Vorgeschmack auf viel größere Mirakel, die sich noch erfüllen sollen. "Strache als Kanzler, das halte ich für realistisch. Die Frage ist nur, wann", meint der knorrige Europa-Abgeordnete Andreas Mölzer. Vielleicht werde es schon in drei Jahren so weit sein, nachdem sich die Koalition der Wahlverlierer in einem allerletzten rot-schwarzen Anlauf endgültig verbraucht habe. Ähnlich sieht dies auch John Gudenus, der noch immer gerne den alten Gesinnungsaußenseiter gibt. "Es ist sein gutes Recht, Kanzler zu werden", sinniert der radikale Aristo: "Diesmal wird es wahrscheinlich nicht klappen, aber bei der nächsten Wahl."

Der kleine Schönheitsfehler, noch nicht am Ziel angelangt zu sein, kann an diesem Abend aber nicht die Stimmung trüben. Allenfalls, dass die rechtspopulistische Konkurrenz vom BZÖ und deren Abgott Jörg Haider kometenhaft zurückgekehrt sind. "Das hätte ich ihm nicht zugetraut", zollt Mölzer, sein ehemaliger Intimus, dem altgedienten Streiter der österreichischen Rechten Respekt.

Die Stimmung im FPÖ-Zelt wird im Lauf des Abends zunehmend ausgelassen. Die Leute sitzen dicht gedrängt an Bierzelttischen. Alkohol fließt reichlich. Blauer Dunst und der Dampf des deftigen Buffets liegen schwer in der Luft. Hier darf man sogar noch Zigarren paffen. Es ist eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Altersgruppen und sozialen Schichten, die sich eingefunden hat. Junge Schickeria von der Wirtschaftsuniversität und aus dem Juridicum ist gekommen. Eine beachtliche Schar von Burschenschaftern stellt stolz ihre Gesichtsnarben zur Schau. Zahlreiche Anzugträger und mancher Trachtenfreund sind erschienen. Der Mann der blauen Schutzmantelmadonna Barbara Rosenkranz, ein volksbewusster Schriftleiter, hat sich gar so verkleidet, dass er dem Klischeebild eines alpenländischen Heimatdichters täuschend ähnlich sieht. Sie alle sitzen behaglich inmitten der vielen Anhänger aus dem proletarischen Milieu, die Kappen und viel zu enge Leibchen aus dem blauen Fanshop tragen und oft gleich mit einem Dutzend blinkender Strache-Buttons geschmückt sind. Die meisten aus diesem Fußvolk haben in den vergangenen fünf Wochen die Hauptlast des Wahlkampfs getragen.

Auch viele aus der großen Gruppe der Wiener Serben, die sich Strache systematisch erschlossen hat, sind erschienen. Beispielsweise Michael Stefanovic. Als der 80-jährige Rentner noch in Frankreich lebte, ging er für die Front National von Jean-Marie Le Pen auf die Barrikaden, nun ist ihm Strache ans Herz gewachsen. "Er ist wirklich ein Stern, ein Phoenix", schwärmt der elegante, alte Mann. "Jetzt ist der letzte Moment, diese Nation zu retten." Warum? Wegen der vielen Ausländer, die, im Gegenteil zu ihm, nicht Deutsch gelernt hätten.

Ältere Damen werden zu seligen Groupis

Als der blaue Wundermann von den Fernsehinterviews aus dem Parlament in sein Bierzelt zurückkehrt, dröhnt seine Hymne Viva HC aus den Lautsprechern. Wie viele der anwesenden Senioren klettert auch der rüstige Serbe jubelnd auf eine klapprige Holzbank. Man fürchtet, seine Knochen könnten den Abend nicht heil überstehen. Vor allem ältere Damen verwandeln sich in selige Groupies, die ihre Hüften zum Rhythmus des Wahlschlagers wiegen, fast so, als würden sie hier nicht einen erfolgreichen Politiker anhimmeln, sondern als verkörpere diese ganz auf jugendlichen Elan getrimmte Erscheinung den Mann oder Sohn, den sie nie hatten.

Diese Atmosphäre gleicht frappant jener Stimmung, die einst Jörg Haider in den Jahren seines Aufstieges begleitete. Nun hat das freiheitliche Original zwar einen Großteil seines früheren Messiasfaktors abgestreift und gefällt sich eher in der Pose des abgeklärten Volkstribunen und fürsorglichen Landesvaters, doch seine Rückkehr in das Zentrum der österreichischen Bundespolitik ist zumindest ebenso verblüffend wie das Revival blauer Wundergläubigkeit.

Die rechtspopulistische Wählerschaft besitzt jedenfalls wie nie zuvor Grund zum Jubel. Ihre beiden Parteiführer sitzen mit stolzgeschwellter Brust in den Fernsehstudios, und auch die Mäkelei der Wahlverlierer vermag ihren Triumph nicht zu schmälern. Es stimmt schlichtweg, wenn sie selbstbewusst behauptet, erst das Versagen der beiden Streithähne in der Koalition habe ihnen scharenweise die Wähler in die Arme getrieben. Und die Diskussion, warum die Enttäuschten ausgerechnet bei rechtsextremen Protestparteien Zuflucht suchen, ist weitgehend müßig. Es ist ihr Tag, ihr Stimmanteil ist auf ein knappes Drittel angewachsen – sie stehen kurz davor, die stärkste Wählergruppe im Land zu repräsentieren.

Dennoch werden sie sich über ihren nur in seinem Ausmaß überraschenden Sieg vorläufig nicht so richtig freuen können. Denn was sollen sie mit diesem Sieg im politischen Alltag anfangen, wie die errungene Stärke in konkrete Teilhabe an Regierung und Staat umsetzen? Noch sind sie zerstritten. Noch sind sie nicht stark genug, um tatsächlich den Anspruch auf höchste Ämter erheben zu können. Die Vorstellung eines Kanzlers Strache ist vorerst nur ein Wunschtraum, der lediglich im Siegesrausch die Fantasie zu beflügeln vermag. Realistisch ist er nicht.

Wenn zwei sich streiten...

Nüchtern gesehen, taugt die extreme Rechte derzeit nur dazu, der einen oder der anderen der beiden alten Regierungsparteien, die so gründlich wie kaum je ein politisches System zuvor abgewählt wurden, als Steigbügelhalter zu dienen. Oder sich als Mehrheitsbeschaffer missbrauchen zu lassen, wie das viele Funktionäre sehen, die beim blauen Fest davor warnen, leichtfertig ein Regierungsbündnis einzugehen und dadurch das "historische Ergebnis" zu verspielen.

Die Zeit hingegen arbeitet für sie. Sozialdemokraten und Konservative sind ohnehin fast ausschließlich damit beschäftigt, einander gegenseitig zu zerfleischen. In ihrer Vorstellungswelt dienen die beiden rechtspolpulistischen Parteien lediglich als Spielmaterial ihrer Intrigen, so als wären Strachen und Haider zwei Buhmänner, mit denen man den jeweils anderen zu erschrecken vermag.

Eine Zusammenballung widersprüchlicher Vorurteile

Allein diese faktische Ohnmacht müsste ausreichen, um der Wiedervereinigungsdebatte neuen Schwung zu verleihen. Anstatt den taktischen Fehler von 1999/2000 zu wiederholen, könnten sie nun die Zeit in der Opposition nutzen, ihr eigenes Haus zu bestellen und die rivalisierenden Fraktionen wieder zusammenzuführen. Das sieht auch ein Teil der Basis so. "Noch sind die Wunden zu frisch", meint etwa Arnold Schiefer, ein freundlicher, rundlicher Mittdreißiger und seit 15 Jahren Parteimitglied, "aber in der Opposition wächst man zusammen." Die Verräter-Töne klingen in dieser Wahlnacht bereits deutlich leiser.

Beide Gruppen, die Wiener Truppe um Strache und die auf Kärnten zentrierte Allianz um den alten Haudegen Haider, unterscheiden sich voneinander am ehesten so, wie das Fundis (Strache) und Realos (Haider) bei den Grünen tun. Sie können sich lediglich nicht auf den rechten Weg einigen, auf dem sie am ehesten glauben, ihrem Amalgam an dumpfen Ressentiments, das sie beide gleichermaßen vertreten, zur Durchsetzung verhelfen zu können.

Die österreichische extreme Rechte eint keine kompakte, gefestigte Weltsicht. Sie sind in ihrer Masse weder Neonazis noch deutschnationale Romantiker (die gibt es zwar auch am marginalen Rand und teilweise im alten Funktionärskader). Sie sind im herkömmlichen Sinn gar keine politische Partei, sondern eine Zusammenballung unterschiedlicher, teilweise sogar widersprüchlicher Vorurteile. Sie sind sowohl proletarisch als auch bürgerlich. Beide Vertreter bedienen sich eines mehr oder minder charismatischen Aushängeschildes, das sich jeweils in der Pose des Racheengels der sozial Benachteiligten gefällt. Beide geben sich ein dynamisches und junges Erscheinungsbild, obwohl die meisten Positionen, die sie vertreten, rückschrittlich sind. Sie mobilisieren erfolgreich gegen die EU, gegen Ausländer (obwohl sie in diesem Punkt neuerdings zwischen erwünschten und unerwünschten Gruppen zu differenzieren trachten), seit einiger Zeit auch gegen das Phantom einer islamischen Bedrohung, gegen alle Phänomene, die fremd und bedrohlich erscheinen, und gegen angeblich abgehobene Eliten. Sie geben der sozialen Frustration der österreichischen Gelegenheitsrebellen Gesicht und Stimme. Dabei bedienen sie sich keiner klaren Argumente, sondern ihr Agitationsinstrument ist die Erregung, die sie mit einer wilden Mischung aus Halbwahrheiten und Ressentiments befeuern und als den vermeintlichen Volkswillen ausgeben. Deshalb sind sie auch für ihre politischen Mitbewerber so schwer fassbar. Man mag darin klassische Nazi-Muster entdecken wollen. Doch fehlt ihnen sowohl die nötige radikale Entschlossenheit als auch der ideologische Fanatismus. Sie sind politische Opportunisten, wie es Populisten zumeist sind. Am ehesten verkörpern sie eine soziale Formation, die Elias Canetti "Hetzmasse" genannt hat und von der er in Masse und Macht behauptete: "Es ist die Erregung von Blinden, die am blindesten sind, wenn sie plötzlich zu sehen glauben."

Das macht die österreichischen Rechtsextremen auch zu einer tatsächlichen Bedrohung für das etablierte politische System, da sie nicht konstruktiv eingebunden werden kann, ohne ihre Dynamik zu verlieren. Ihr Ziel sind nicht Reformen in Staat und Gesellschaft, sondern sie sind gezwungen, ihren populistischen Forderungskatalog fortwährend zu verschärfen.

Schon allein um dies auch in Zukunft tatsächlich aufrecht erhalten zu können, wird der Druck zur Wiedervereinigung – etwa nach einem CDU/CSU-Modell – in den nächsten Monaten zunehmen. Der geeignete Zeitpunkt sollte spätestens 2010 gekommen sein, wenn in Kärnten regionale Wahlen anstehen, für die sich Jörg Haider einen Triumphzug vorgenommen hat; schon jetzt vereinigte er in dieser Ausnahmeregion der Republik knapp 40 Prozent der Stimmen auf seine Person.

Zu diesem Zeitpunkt wird auch der Wiener Bürgermeister Michael Häupl einen Wahlkampf zu schlagen haben. Auf ein Viertel der Wählerschaft sind die RechtsPopulisten in seiner Stadt wieder angewachsen. Ganz unvermutet ruft Häupl am Wahlabend in den Räumen der Wiener Landesorganisation der SPÖ plötzlich zum Aufbruch und begibt sich mit seiner Entourage noch einmal in das rote Wahlzelt neben dem Burgtheater. Die Übertragung der TV-Diskussion der Parteichefs, die dort gerade läuft, wird abgeschaltet. Dann klettert Häupl auf die Bühne und hält vor den verblüfften Anhängern, die gerade einen vermeintlichen Sieg feiern, eine lodernde Kampfrede: "Manche werden mich fragen: Wie kannst du die Rechtspopulisten mit den Nazis vergleichen? Ich vergleiche sie, weil ihre Methoden dieselben sind." Und mit lauter Stimme bringt er das dicht gefüllte Zelt dazu, "Nie mehr wieder"-Sprechchöre zu skandieren. Derweil mühen sich der rote und der schwarze Parteiführer im Fernsehen damit ab, das siegreiche Duo kleinzureden.
Mitarbeit: Solmaz Khorsand

Dieser Artikel erschien am 01. Oktober 2008 in der Zeit. Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung.

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