Thilo Sarrazin behauptet gern, selbst seine schärfsten Kritiker zögen sein Zahlenmaterial nicht in Zweifel. Berliner Forscherinnen und Forscher machen die Gegenrechnung auf.
Von Hellmuth Vensky
Thilo Sarrazin will kein Polemiker sein, er gibt sich seriös. Sein Bestseller Deutschland schafft sich ab strotzt vor Zahlen und Tabellen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb er jüngst: "Die von mir genannten Statistiken und Fakten hat keiner bestritten."
Das ist schon mal falsch. Die Politologin Naika Foroutan, die an der Berliner Humboldt-Universität das Forschungsprojekt Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle (HEyMAT) leitet, stellte schon im September 2010 als eine der klügeren unter Sarrazins Debatten-Gegnern dessen angebliche Fakten in Frage. Jetzt hat sie eine 70-Seiten-Studie mit dem Titel "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" herausgegeben (hier als PDF zum Download).
Foroutans Forschungsteam hat sich besonders das siebte Kapitel von Sarrazins Buch vorgeknöpft: Zuwanderung und Integration. Die statistischen Daten ihrer Studie dürften über Zweifel erhaben sein: Sie stammen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und vom Statistischen Bundesamt. Außerdem stützen sie sich auf eine Reihe von Studien, die akademischen Regeln gehorchen, etwa vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR), der Universität Bielefeld oder der Bertelsmann- und der Friedrich-Ebert-Stiftung.
So munitioniert haken die Wissenschaftler These für These ab. "Kopftuchmädchen": Sarrazin glaubt, das Kopftuch werde immer beliebter – tatsächlich werde es in der zweiten Generation signifikant weniger getragen. 70 Prozent der muslimischen Frauen tragen kein Kopftuch. Schwimmunterricht: Sarrazin hält es für ein Indiz für Integrationsverweigerung, dass muslimische Kinder nicht am Schwimm- und Sportunterricht teilnähmen. Eine "Phantomdebatte", sagen die Forscher, sie betreffe lediglich 7 bis 10 Prozent der Kinder. Parallelgesellschaft: Sarrazin glaubt, dass die Abschottung zunimmt. Dabei geben in allen muslimisch geprägten Gruppen mehr als drei Viertel der Befragten an, häufig Freundschafts- oder Nachbarschaftskontakte zu Nichtmuslimen zu haben. Angebliche mangelnde Bereitschaft zum Spracherwerb: Das Allensbach-Institut ermittelte bei 70 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund gute bis sehr gute Deutschkenntnisse.
Sarrazins Behauptung, in Berlin würden "20 Prozent aller Gewalttaten" von türkischen und arabischen Jugendlichen begangen, ließ Foroutan vom Polizeipräsidenten überprüfen. Der kam für 2009 auf 8,7 Prozent der Gewaltkriminalität, die Verdächtigen türkischer Nationalität oder aus dem arabischen Raum zuzuordnen waren. Selbst wenn man alle Verdächtigen einschließt, deren Nationalität unbekannt war, sind es lediglich 13,3 Prozent. Immer noch zu viel, würde Sarrazin auf dem Talkshow-Sofa wohl kontern – aber seine angebliche Fakten-Angabe ist entlarvt.
Fouroustan und ihre Kollegen widersprechen vehement der zentralen Behauptung Sarrazins, dass die Nachkommen muslimischer Einwanderer keine Bildungserfolge erzielten. Sarrazin: "Besorgniserregend ist, dass die Probleme der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation auftreten, sich also quasi vererben." Tatsächlich verließen in sämtlichen Zuwanderungsgruppen mit muslimischem Hintergrund Angehörige der zweiten Generation deutlich häufiger als ihre Eltern die Schulen mit einem Abschluss.
So hatten laut Mikrozensus 2008 von den Personen mit türkischem Migrationshintergrund 22,4 Prozent der zweiten Generation Abitur oder Fachabitur, in der ersten Generation der Gastarbeiter waren es nur drei Prozent – das sei, so die Studie, ein Anstieg von rund 800 Prozent in einer Gruppe, die Sarrazin für besonders lernunfähig hält. Es zeigt allerdings auch, dass die Einwanderer der ersten Generation wenig gebildet waren.
Zwar bestritten 9,5 Prozent der Einwanderer türkischer Abstammung ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Hartz IV, deutlich mehr als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (3,5 Prozent) – aber auch deutlich weniger als die von Sarrazin suggerierten 40 Prozent. Denn, so die Forscher, es sei üblich, die Zahlen auf die Gesamtheit der Gruppe, nicht nur auf die Erwerbspersonen zu beziehen.
Die "FAZ" wirft Foroutans Studie umgehend vor, ähnlich selektiv mit Zahlen umzugehen wie Sarrazin. Anders als der Ex-Bundesbanker liefern die Berliner Wissenschaftler aber ihre Quellen mit; auf der Website des Forschungsprojekts ist eine ganze Sammlung von Studien zum Thema abrufbar.
Etwas zweifelhaft ist allerdings, dass Foroutans Studie Sarrazins unzureichenden Umgang mit Statistiken mit einem Zitat illustriert, das nur unzureichend belegt ist. Wenn man keine Zahl hat, erklärte Sarrazin demnach einem Reporter der Süddeutschen Zeitung, muss "man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch". In einer Fußnote verweist die Studie auf eine Polemik gegen Sarrazin aus dem SZ-Magazin, die diese Äußerung selbst nur indirekt zitiert. Einen primären Beleg, etwa ein gedrucktes Interview, nennt sie nicht.
Trotzdem: Der Kontrast zwischen Sarrazins angeblichen Fakten und den empirischen Befunden, lassen das Zitat mehr als glaubwürdig erscheinen.
Dieser Text erschien am 07.01.2011 auf ZEIT Online. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Mehr im Internet:
Die Website zum Forschungsprojekt:
| www.heymat.hu-berlin.de
Die Studie zum Download (PDF):
| www.heymat.hu-berlin.de/sarrazin2010
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