Wenn ein Mann einen anderen aus rassistischen Gründen durch die Straße jagt, ist das eine Hetzjagd? Die einen diskutieren, der oberste Verfassungsschützer verneint komplett.
Screenshot Twitter, 07.09.2018

Übergriffe in Chemnitz: Dokumentation für und gegen Hans-Georg Maaßen

Was für eine Verschwörung: Um rechtspopulistische Demonstrant*innen zu diskreditieren, inszenieren Journalist*innen Übergriffe und filmen sie, und erfinden sogar später Interviews mit gar nicht echten Opfern, nur um „die Öffentlichkeit von dem mutmaßlichen Mord in Chemnitz“ abzulenken.  Das sagt der Mann, der als Verfassungsschutzpräsident unsere Verfassung schützen soll. Wir haben auch noch ein Video-Interview mit Übergriffs-Opfern aus Chemnitz – und eine Auflistung bisheriger Dokumente.

 

Von Simone Rafael

 

Vor zwei Wochen hatte das Buch „Inside AfD“ von AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber ans Licht gebracht, dass Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen 2015 Frauke Petry beraten habe, was zu tun sei, damit ihre Partei nicht unter Beobachtung des Verfassungsschutzes gerate (vgl. SpiegelWelt). Dieser Vorgang schien, gelinde gesagt, unkonventionell, aber möglicherweise sachdienlich, um Rechtsextremismus Einfluss zu nehmen. Nun aber scheint Maaßens inhaltliche Nähe zum Rechtspopulismus der AfD doch größer als geahnt: Zu den Ereignissen in Chemnitz äußert der Verfassungsschutzpräsident nicht nur, ihm lägen keine „belastbaren Informationen“ vor, sondern auch, dass es keine Belege dafür gäbe, dass Video-Dokumentationen von Übergriffen durch Journalist*innen und Beobachter*innen „authentisch“ wären. Stattdessen, so Maaßen, sprächen „gute Gründe“ dafür, dass es sich um „gezielte Falschinformationen“ handele, „um die Öffentlichkeit vom mutmaßlichen Mord in Chemnitz abzulenken.“ (vgl. Tagesspiegel). Wobei noch gar nicht klar ist, ob es sich bei der Tat um einen Mord oder einen Totschlag handelt, so dass Maaßen hier auch noch den Ermittlungen und einer möglichen Anklage vorgreift (vgl. Faktenfinder).

Damit meint Maaßen also: Die Videos rührten aus anderen Zusammenhänge und seien bewusst mit falschen Angaben veröffentlicht worden. Seiner Dienstherrin, der Bundeskanzlerin, hat Maaßen diese Einschätzung allerdings nicht mitgeteilt. Laut sächsischer Polizei sei die Auswertung des übermittelten Videomaterials auch noch gar nicht abgeschlossen (Welt). Es ist zu hoffen, dass nun auch geprüft wird, inwieweit Hans-Georg Maaßen für seine Aufgabe, die Verfassung und unsere Demokratie zu schützen, noch geeignet ist.

 

Es geht Maaßen um dieses Video einer anonymen Quelle auf Twitter:

 

 

Um Echtheit zu prüfen, kann man Ort, Zeit, Wetterverhältnisse prüfen und mit anderen Videos aus Chemnitz abgleichen (was hier passte). Man kann schauen, ob das Video schon zuvor im Internet kursierte (nein).

Eine ausführliche Verifikationen dieses Videos macht der Journalist Lars Wiegand auf Twitter:

Es gibt sie auch als Artikel bei T-Online, wo Wiegand arbeitet:

 

Übrigens hat auch ze.tt bereits vor Tagen das Opfer interviewt, dass mit Video attackiert wird:

Nach viralem Video: Das ist die Geschichte des Menschen, der in Chemnitz von einem Neonazi gejagt wurde Wir haben Aziz getroffen, der in Chemnitz vor einem wütenden Mob fliehen musste – und jetzt Anzeige erstattet.

https://ze.tt/nach-viralem-video-das-ist-die-geschichte-des-menschen-der-in-chemnitz-von-einem-neonazi-gejagt-wurde/amp/?__twitter_impression=true

 

Allerdings zeigt dieses Video auch bei weitem nicht den einzigen Übergriff im Umfeld der Demonstrationen.

Unsere Belltower.News-Kollegin Zamira Alshater, die von dem Demonstrationen in Chemnitz berichtet hat und gerade wieder auf dem Weg dorthin ist, hat selbst einen Übergriff am Montag, den  27.08.2018 beobachtet und die Begleiter*innen der Opfer hinterher interviewt. Hier das Video:

 

 

Heute berichtet in der Berliner Zeitung eine SPD-Gruppe, die gegen die Rechtsextremen am Samstag demonstriert hatte, von einem Übergriff am 25.08.2018:

„Nur 20 bis 30 Sekunden habe der Angriff gedauert, sagt Roland D. – aber der Schock sitze ihm noch in den Knochen. Immer wieder kämen ihm die Tränen. Der 69-Jährige ist SPD-Mitglied aus der Nähe von Marburg. Mit einer 35-köpfigen Gruppe seiner Partei hat er am Samstagabend an der Gegendemonstration „Herz statt Hetze“ in Chemnitz teilgenommen. Gegen 20 Uhr habe sich die Versammlung aufgelöst, gemeinsam sei man die wenigen Hundert Meter auf dem Bürgersteig zum Bus gelaufen, der sie nach Hause bringen wollte. „Ahnungslos“, wie D. sagt. Da seien sie attackiert worden, von einer Gruppe mit circa 15 Mann, unauffällig gekleidet, „nicht klar erkennbar als Rechtsextreme“. Einer habe einen Baseball-Schläger getragen. „Deutschlandverräter“ hätten sie gebrüllt, den SPD-Leuten mehrere Fahnen aus den Händen gerissen, deren Stöcke zerbrochen und seien „mit Fäusten und Tritten“ auf einige losgegangen. Nach nicht einmal einer Minute seien die Täter getürmt. Die Polizei sei sofort zur Stelle gewesen, hätte sich sorgfältig gekümmert und Anzeigen aufgenommen. „Wir waren gelähmt und geschockt“, sagt D., „einige haben geweint.““

Hier wird außerdem auf einen Übergriff auf Geflüchtete und auf jüdisches Restaurant in Chemnitz berichtet – hier müssen die Täter aber erst noch ermittelt werden.

Die Opferberatung Chemnitz hat bisher insgesamt 39 Angriffe dokumentiert, davon 27 Körperverletzungen und 12 Nötigungen. Am Sonntag, den 26. August, hätten sich die Attacken ausschließlich gegen Migranten gerichtet. Auf Demonstrationen in den Tagen darauf verstärkt gegen Journalisten und Gegendemonstranten.

 

Auch dieses Video zeigt einen Übergriff aus der Demonstration am 26.08.2018 auf eine Gegendemonstrantin. Am Ende ist Polizist zu hören, der sie vor dem "Mob" warnt.

 

 

 

Weitere Dokumente von Übergriffen im Internet

Die Übergriffe auf Journalist*innen am 01.09.2018 sind ebenfalls im Internet dokumentiert. Allerdings handelt es sich nicht nur um Videos, sondern auch um Beschreibungen – die findet der Verfassungsschutz wohlmöglich noch suspekter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Angriffe auf Video:

 

Video vom 27.08.2018 von Spiegel TV: “Bepöbelt und bedroht”

 

Der Streit der letzten Tage, wie langfristig Menschen gewalttätig durch eine Stadt gejagt werden müssten, um den Begriff “Hetzjagd” zu rechtfertigen, und ob es sich beim Jagen von Menschen aus einer Demonstration heraus nicht eher um „Jagdszenen“ handele, ist zynisch, aber legitim. Wenn allerdings der Verfassungsschutzpräsident nicht einmal mehr per Video dokumentierte rechtsextreme Gewalt als real anerkennen möchte, wird es mit dem Schutz der Verfassung sehr schwierig in Deutschland.

 

Mehr zu Chemnitz auf Belltower.News

 

Update, 11.09.2018

Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen soll Medienberichten zufolge seine Aussagen zur Echtheit eines Videos zu den Ereignissen in Chemnitz relativiert haben. Nach Informationen der "Süddeutschen Zeitung" erklärte er in einem Schreiben an Bundesinnenminister Horst Seehofer, das Video sei nicht gefälscht, er sei falsch verstanden worden. Zweifel, so Maaßen dem Bericht zufolge, seien angebracht, ob das Video "authentisch" eine Menschenjagd zeige. Dies habe er mit seiner Kritik gemeint. Auch nach "Spiegel"-Informationen bestreitet Maaßen nicht, dass das Video echt ist. Unter Berufung auf das Umfeld des Verfassungsschutzpräsidenten heißt es, Maaßen kritisiere "nur noch", dass die schnelle Veröffentlichung des Videos in großen Medien unseriös gewesen sei, weil niemand die Quelle und die Echtheit der Aufnahme zu dem Zeitpunkt hätte einschätzen können.

http://faktenfinder.tagesschau.de/inland/faktencheck-maassen-101.html

https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextreme-ausschreitungen-maassen-relativiert-aussage-zu-vorfaellen-in-chemnitz-1.4123374

Am Montag wurden nun neue brisante Vorwürfe publik. Das Handelsblatt berichtet mit Blick auf die AfD in einigen Ländern von „undichten Stellen“ in den Sicherheitsbehörden, insbesondere beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). In manchen Verfassungsschutzämtern der Länder bestehe danach die Sorge, dass dort gesammelte Informationen  und etwaige Einschätzungen über die AfD „ihren Weg in die Öffentlichkeit oder direkt in die Hände der AfD finden.“ Die Sprecherin des Innenministeriums wies diese Vorwürfe entschieden zurück. Übers Wochenende sickerten Einschätzungen aus Geheimdienst- und Ministeriumskreisen, was Maaßen gemeint und was ihn getrieben habe. So erwägen BfV-Mitarbeiter laut Focus Online, dass das auf Twitter veröffentlichte Video nicht aus der vergangenen Woche stammt. Vielmehr könnten Linke versucht haben, die Stimmung anzuheizen und Medien zu täuschen, spekulieren sie.

https://www.berliner-zeitung.de/politik/hetzjagden-auf-auslaender-maassen-legt-bundesregierung-bericht-vor-31241844

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