Todesopfer rechtsextremer Gewalt - eine furchtbare Bilanz

Fünf Tote in den vergangenen neun Jahren - folgt man der offiziellen Statistik, dann ist die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt stark zurückgegangen. Aber stimmt das? ZEIT, ZEIT ONLINE und der Berliner »Tagesspiegel« haben eine Vielzahl von Fällen nachgeprüft - und kommen zu einem anderen Ergebnis.

Autoren: Frank Jansen, Heike Kleffner, Johannes Radke & Toralf Staud

Zwanzig Jahre deutsche Einheit werden in diesem Herbst gefeiert, ein heiteres Datum der jüngeren deutschen Geschichte. Dabei droht eine unschöne Seite des Jubiläums unterzugehen. Denn 1990, im Wendejahr, begann auch ein ganz anderes, wenig rühmliches Kapitel: Mit der Wiedervereinigung ging eine drastische Zunahme rechter Kriminalität einher. 47 Menschen sind nach Auskunft der Bundesregierung in Deutschland seit 1990 durch politisch rechts motivierte Gewalttaten ums Leben gekommen ­ die meisten von ihnen in den ersten zehn Jahren nach der Wende. Und tatsächlich liegen die Fälle, die Schlagzeilen machten, scheinbar weit zurück: der Brandanschlag auf die Häuser zweier türkischer Familien in Mölln im November 1992, bei dem drei Menschen starben; der Mordanschlag von Solingen im Mai 1993, dem fünf Menschen zum Opfer fielen; die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen 1991 und 1992. Doch die rechte Gewalt ist seither nicht verschwunden, nur weil viele Medien Übergriffe kaum noch vermelden. Und auch die Zahl der Todesfälle ist längst nicht so stark zurückgegangen, wie es die offizielle Statistik vermuten lässt.

137 Todesopfer seit 1990

Nach Recherchen der ZEIT und des Berliner Tagesspiegels starben zwischen 1990 und 2009 insgesamt mindestens 137 Menschen durch rechte Gewalt - etwa dreimal so viele, wie staatliche Stellen ausweisen. Die Behörden verzeichnen ab dem Jahr 2001 nur noch fünf Fälle, allesamt aus Ostdeutschland; zwischen 2003 und 2007 starb nach staatlichen Angaben hierzulande überhaupt kein Mensch an politisch rechts motivierter Gewalt. Genauere Recherchen jedoch ergeben für die Zeit von 2001 an mindestens 31 Tote, allein 14 davon in Westdeutschland; kein einziges Jahr endete ohne einen derartigen Todesfall.

Eine Landkarte auf ZEIT Online gibt einen Überblick über die schreckliche Bilanz; eine vollständige Liste steht auf netz-gegen-nazis.de, mit freundlicher Genehmigung von ZEIT ONLINE. Um die Hintergründe der Taten klären zu können, wurden Hunderte Lokalzeitungsartikel und Gerichtsurteile gesichtet; zu jedem einzelnen Fall wurden Opferberater, Hinterbliebene, Anwälte und Strafverfolger interviewt. Aufgenommen wurden am Ende nur jene Fälle, die sich eindeutig als politisch rechts motivierte Straftaten einordnen lassen. Bei 14 weiteren Toten liegt der Verdacht einer rechten Gewalttat zwar nahe, letzte Zweifel konnten aber nicht ausgeräumt werden (Liste).


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Woher kommen die Lücken?

In den staatlichen Statistiken klaffen also riesige Lücken. Wie kann das sein? Schon einmal, im Jahr 2000, hatten der Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau auf krasse Diskrepanzen hingewiesen. Die Innenminister von Bund und Ländern reformierten daraufhin das Erfassungssystem. Bis dahin waren nur rechtsextremistische Delikte gezählt worden, also solche, die sich ­ dem offiziellen Extremismusbegriff folgend ­ unmittelbar gegen den Staat richten. Viele Skinhead-Überfälle, etwa auf nicht rechte Jugendliche, fielen hingegen durchs Raster.

Zum 1. Januar 2001 wurde deshalb eine neue Systematik eingeführt, seither sprechen die Sicherheitsbehörden von »politisch rechts motivierter Kriminalität«, kurz: »PMK rechts«. Unter diesem Begriff sollen Delikte erfasst werden, bei denen ­ so die sperrige Formulierung ­ »die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet«. Fünf Jahre später, im Jahr 2006, hieß es in einem gemeinsamen Bericht von Innen- und Justizministerium, die Umstellung der Zählweise werde »in der Polizei ... insgesamt als erfolgreich bewertet«, Straftaten würden nun »in der Regel ... besser zugeordnet«. Auch heute heißt es in der zuständigen Fachabteilung des Bundesinnenministeriums, die neue Zählweise sei ein »positives Beispiel« für Kriminalstatistiken.

Doch ganz offensichtlich sind die Mängel des offiziellen Erfassungssystems bis heute nicht behoben. Im Gegenteil: Die offizielle Liste der Todesopfer von rechter Gewalt ist eher noch lückenhafter geworden. Drei Fälle, die die offizielle Statistik nicht erfasst, werden in Texten auf ZEIT Online geschildert. Ein Teil der Probleme liegt in der Natur der Sache: Motive von Straftaten sind häufig schwer zu ermitteln, oft schweigen Gewalttäter oder leugnen politische Hintergründe, die strafverschärfend wirken können.

Als rechtsextrem zählt nur, was Polizisten vor Ort so benennen

Zudem ist die Grundlage der Statistik jeweils die Einstufung des Verbrechens durch einzelne Polizisten oder Richter vor Ort. Bundeskriminalamt und das Innenministerium verarbeiten deren Meldung lediglich weiter. Offenbar gibt es aber immer noch zahlreiche Beamte, die einschlägige Taten nicht erkennen oder sich nicht mit den Motiven befassen mögen. Im bayerischen Memmingen etwa verhandelte das Landgericht im Dezember 2008 den Fall eines polizeibekannten Rechtsextremisten, der einen Nachbarn mit dem Bajonett erstochen hatte, nachdem dieser sich mehrfach über das Abspielen rechtsextremer Musik beschwert hatte. Obwohl der Täter in den Polizeivernehmungen zugab, dass er sehr wohl ein politisches Motiv verfolgte, spielte dieses in der eintägigen Verhandlung keine Rolle. Deshalb taucht die Tat in der bayerischen PMK-Statistik nicht auf. Dem Vizepräsidenten des Landgerichts, Manfred Mürbe, ist dies im Rückblick peinlich. Die Strafkammer habe es halt dabei belassen, den »äußeren Sachverhalt« zu klären, sagt er auf Nachfrage.

Nazis hassen nicht nur Migranten: Mehr Motive als Rassismus möglich

Mancherorts scheint, trotz jahrelanger Debatten um Rechtsextremismus, auch die Polizeiführung zu versagen. Die Zustände in der Polizeidirektion Dessau etwa beschäftigen seit Längerem einen Untersuchungsausschuss des sachsen-anhaltischen Landtags: Drei engagierte Staatsschützer waren dort nach eigenen Angaben von ihrem Chef belehrt worden, sie müssten ja »nicht alles sehen«. Zu viele registrierte rechte Straftaten könnten nämlich »das Ansehen unseres Landes« schädigen. Zufall oder nicht: Unter den in der PMK-Statistik nicht erfassten Toten ist auch Hans-Joachim Sbrzesny. Der geistig Behinderte war im Sommer 2008 in einem Park in Dessau von zwei betrunkenen Rechtsextremen erschlagen worden. Taten wie diese werden von Polizei und Justiz (und wohl auch von der Öffentlichkeit) selten als politisch motiviert erkannt, ihr Bild rechter Gewalt wird nach wie vor von Angriffen auf Migranten bestimmt. Dies legt jedenfalls ein Vergleich der staatlicherseits erfassten und nicht erfassten Todesopfer nahe: Von den ausländerfeindlichen Taten, die ZEIT und Tagesspiegel ermittelten, fehlen »nur« etwa 50 Prozent in den offiziellen Statistiken; Tote aus sozialen Randgruppen, etwa Obdachlose oder Behinderte, wurden hingegen zu mehr als 70 Prozent nicht erfasst.

Oft unerfasste Opfergruppe: Obdachlose

Dabei sind gerade sie es, die in den vergangenen zehn Jahren zunehmend von rechten Tätern angegriffen worden sind. Obdachlose seien »leichte Opfer«, sagt Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Ihre Armut gelte rechts denkenden Tätern als »Beweis für die Minderwertigkeit« der Opfer. Die Schläger folgen einer Entwicklung, die auch in der Gesamtgesellschaft zu beobachten ist: Laut einer Langzeitstudie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konfliktund Gewaltforschung nehmen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eher ab, während die Wissenschaftler für die Abwertung von Obdachlosen seit Jahren anhaltend hohe und zuletzt steigende Werte ermittelten.

Keine Klassifizierung aus Angst vor Revisionsverfahren

Der pensionierte Jugendrichter Klaus Przybilla kennt die Schwierigkeiten mit der Erfassung rechter Gewalttaten aus eigener Praxis. Am Potsdamer Landgericht verhandelte er den Mord an dem Obdachlosen Dieter Manzke. Manzke war im August 2001 im brandenburgischen Dahlwitz brutal erschlagen worden ­ von fünf jungen Männern, die nicht der rechtsextremen Szene angehörten. Die Täter sagten aber hinterher aus, sie hätten sich von dem stadtbekannten »Penner« und »Suffi« »gestört gefühlt« und »Ordnung schaffen« wollen. Przybilla stufte den Mord deshalb als »politisch rechts motiviert« ein. Viele andere Richter halten sich mit solchen Wertungen zurück. Das liege möglicherweise an der Strenge des Bundesgerichtshofes, so Przybilla: Die obersten Richter verlangen eine äußerst sorgfältige Begründung für das Mordmerkmal »sonstige niedrige Beweggründe«, unter das eine rechte Motivation fällt. Bei Urteilen, die eine solche Begründung enthielten, steige die Gefahr, dass der Täter mit einem Revisionsantrag erfolgreich sei. »Es mag sein«, sagt Przybilla, »dass es Richter gibt, die in einer Überlastungssituation das Rechtsmittel der Revision scheuen wie der Teufel das Weihwasser.« Zudem deutet er an, dass ein Urteil ohne Erwähnung eines rechten Hintergrunds schlicht »weniger Arbeit« mache.

Wie also steht es heute um die rechtsextreme Gewalt in Deutschland?

Von insgesamt 19.468 rechten Straftaten,, darunter 959 Gewalttaten, sprach Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), als er im März die Bilanz für 2009 vorlegte. »Alles andere als erfreulich« sei dies, »der zweithöchste Wert seit 2001«. Doch wenn die Behörden reihenweise selbst schlimmste Taten wie Mord und Totschlag nicht richtig einordnen, wie verlässlich sind dann erst die Statistiken über weniger schwere Delikte?

Dieser Text erschien am 16.09.2010 auf ZEIT Online. Mit freundlicher Genehmigung.

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| Die Liste: Tödlicher Hass: 137 Todesopfer rechtsextremer Gewalt

| Erstochen, erschlagen, verbrannt – 14 Verdachtsfälle

| Lexikon: Todesopfer rechtsextremer Gewalt

| Lexikon: Opfer rechtsextremer Gewalt

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10 Jahre, nachdem zwei Neonazis einen Obdachlosen zu Tode quälten: Der eine studiert Theologie, der andere schlägt weiter zu.

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| Alberto Adriano - Tod eines Vaters (Reportage über die Folgen der Tat für die Familie)


| "Ich hoffe auf eine abschreckende Wirkung."
Klaus Przybilla, ehemaliger Vorsitzender Richter am Potsdamer Landgericht, über rechtsextreme Gewalttäter und harte Urteile.

| Video: Die Autoren und Autorinnen zum Projekt

Mehr im Internet:

Der Opferfonds Cura der Amadeu Antonio Stiftung hilft Opfern rechtsextremer Gewalt und dokumentiert ebenfalls die Todesopfer rechtsextremer Gewalt. Er kommt auf 149 Todesopfer seit 1990.

| www.opferfonds-cura.de

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