"Jetzt gibt's richtig aufs Maul": Schleppende Ermittlungen nach Neonazi-Angriff

Die T-Shirts sind blau-weiß, der Schriftzug lautet "Endstation Pölchow" - 14 Euro kosten sie in einem rechtsextremen Szene-Versand. Der "Witz" daran ist nur für Eingeweihte zu entschlüsseln: Vor einem Jahr, am 30. Juni 2007, wurde eine Gruppe alternativer Festivalbesucher in der S-Bahn zwischen Güstrow und Rostock von etwa hundert Rechtsextremisten zusammengeschlagen.

Von Heike Kleffner

Ein Jahr danach hat die Staatsanwaltschaft Rostock noch keine Anklage gegen mutmaßlich tatbeteiligte NPD-Kader fertiggestellt. "Kein Wunder“, kommentieren die Opfer und deren Anwälte lapidar. Sei doch die Staatsanwaltschaft vor allem mit der Verfolgung vermeintlicher linker Schläger beschäftigt gewesen. Doch die endete jetzt mit elf Einstellungen mangels Tatverdacht.

Als Beamte der Bundespolizei am frühen Nachmittag des 30. Juni 2007 am Bahnhof der mecklenburgischen Kleinstadt Pölchow eintrafen, fanden sie überall Spuren von Gewalt. In der S-Bahn Nr. 9016 waren Scheiben und Zwischentüren eingeschlagen worden, auf dem Boden mischten sich ausgerissene Haarbüschel und getrocknetes Blut. Auf dem Bahnsteig: Rund 100 Neonazis und kleinere Grüppchen sichtlich unter Schock stehender, teilweise verletzter alternativer Jugendlicher und junger Erwachsener sowie verängstigte "neutrale“ Reisende.

Das große Wort führte an diesem Tag auf dem Bahnhof von Pölchow vor allem einer: Udo Pastörs, Vorsitzender der NPD-Fraktion im Schweriner Landtag. Man sei von "Linkschaoten“ angegriffen worden, behauptete Pastörs nach Aussagen von Augenzeugen gegenüber den Beamten. Zum Beweis für diesen Vorwurf gebe es auch Videoaufnahmen erklärte Pastörs den Beamten. Dann drängte der Fraktionsvorsitzende zur Weiterfahrt: Denn in Rostock wollte die NPD an diesem Tag "gegen linke Gewalt“ demonstrieren und "die Kameraden“ warteten schon. Tatsächlich konnten Pastörs & Co schon nach einer kurzen Personalienfeststellung mit der S-Bahn Nr. 9016 nach Rostock weiterreisen. Mit im Zug: Einige ihrer Opfer, die nach eigenen Angaben von Polizeibeamten gezwungen wurden, wieder mit den Neonazis in die S-Bahn zu steigen.

"Sieg auf allen Ebenen“

Zu den Ereignissen in der S-Bahn Nr. 9016 existieren sehr unterschiedliche Darstellungen: Da sind zum einen NPD und Neonazis, die sich wahlweise als Opfer und als "Sieger“ einer Auseinandersetzung mit "Linksfaschisten“ präsentieren – meist aber als letzteres. So wie beispielsweise die "Kameradschaft Malchin“, die sich auf ihrer Website brüstet: "Ob im RE-Zug in Pölchow oder dem linken Studentenviertel, die Nationale Opposition hat (...) auf allen Ebenen einen klaren Sieg davon getragen.“

Ebenfalls beteiligt: Bundespolizei und Landespolizei, die – je nach Einsatzort – zwei entgegengesetzte Versionen des Geschehens verfolgten. Eine Gruppe von Beamten geht sehr bald von einem Angriff einer zahlen- und kräftemäßig überlegenen Gruppe von Neonazischlägern aus dem gesamten Bundesgebiet auf unbewaffnete alternative Jugendliche und junge Erwachsene aus. Andere Beamte übernehmen sofort die Version des NPD-Fraktionsvorsitzenden. Mit Rucksäcken voller Steine bewaffnete Linke seien mittags am S-Bahnhof Schwaan in die S-Bahn Nr. 9016 – in der sich zu diesem Zeitpunkt schon rund 150 Rechte auf dem Weg nach Rostock befanden – eingestiegen, hätten dann "national gesinnte“ junge Menschen angegriffen und unbeteiligte Passagiere durch Steinwürfe gefährdet. Schließlich sei es den Rechten aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit gelungen, den Angriff zu beenden.

Ein Dutzend Verdächtige von Links

Tatsächlich leitete die Staatsanwaltschaft Rostock fast unmittelbar nach dem Angriff Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs gegen zwölf Männer und Frauen ein, die Polizeibeamte aufgrund ihres Äußeren der linken Szene zugeordnet hatten. Die zwölf waren gemeinsam mit rund 30 anderen, zum Teil erheblich verletzten alternativen Jugendlichen und unbeteiligten Reisenden von Polizisten in der Nähe einer Kleingartensiedlung bei Pölchow festgestellt worden. Die Kleingärtner hatten einigen Blutenden erste Hilfe geleistet, dann nahmen die Beamten die Personalien aller auf und filmten sie. Bei den Neonazis verzichteten die Polizisten an diesem Tag weitgehend auf Video- und Bildaufnahmen.

Fragt man Oberstaatsanwalt Peter Lückemann, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Rostock, was die Strafverfolgungsbehörden im vergangenen Jahr an Beweisen gegen die zwölf Linken gesammelt haben, wird es still am Telefon. Dann sagt Lückemann, mangels dringenden Tatverdachts habe man die Ermittlungen gegen elf der zwölf Linken gerade eingestellt.

"Das ist hier wie im Krieg“

Fragt man Klaus K. (Name geändert) und andere Augenzeugen nach ihrer Erinnerung an die Fahrt mit der S-Bahn Nr. 9016, ist die erste Reaktion ebenfalls Stille - aber eine angespannte. Dann sprudeln die Erinnerungen: Von dem gemeinsamen Besuch des alternativen Musik-Festivals "Fusion“ an der Müritz und dem spontanen Entschluss, von dort aus zu einer Anti-NPD-Kundgebung nach Rostock zu fahren. Die rund 60 Festivalbesucher stiegen in Schwaan in ein fast leeres S-Bahnabteil des Zugs Nr. 9016 ein. Irgendjemand habe dabei im Abteil ein halbes Dutzend Rechte entdeckt, erinnert sich Klaus K. Die sechs jungen Männer seien dann in Pölchow aus dem Zug gedrängt worden, ohne Gewaltanwendung. Klaus K. sagt, er sei völlig überrascht und geschockt gewesen, als plötzlich mehrere Dutzend überwiegend in Thor-Steinar-Shirts und in Schwarz gekleideten Neonazis, die teilweise mit Sonnenbrillen und Tüchern vermummt waren, von draußen Gleisbettsteine in den S-Bahnzug warfen und in die Abteile drängten.

Panik kam auf, als diese Männer mit äußerster Brutalität auf alle im Zug Nr. 9016 losgegangen seien, die anhand von Dreadlocks, Aufnähern oder Basecaps irgendwie als "Linke“ oder "Alternative“ identifizierbar waren. Dabei seien Sprüche gefallen wie "Ihr kommt hier heute nicht mehr raus“, "Jetzt gibt’s richtig aufs Maul“ und "das ist hier wie im Krieg“. Und an scheinbar neutrale Reisenden gerichtet: "Keine Sorge, wer hier nicht zur Antifa gehört, braucht auch keine Angst zu haben.“ Viele erinnern sich an den unvermummten Anführer der Rechten, der durch seine gegelten, halblangen Haare, sein Alter und seine autoritären Kommandos auffiel und den einige noch vor Ort als Michael Grewe (40), Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion in Schwerin identifizierten. Von Zaunlatten und mit Quarzsand gefüllten Handschuhen, von Fußtritten und Glasflaschen, mit denen Gruppen von Rechten sich über einzelne Opfer hermachten, ist die Rede. Von Neonazis, die währenddessen mit Handys und Digitalkameras filmten. Immer wieder fallen die Begriffe Panik, Hilflosigkeit und Angst.

Klaus K. erinnert sich an ein schreiendes Kleinkind, das von Glassplittern getroffen wurde, als Neonazis eine Scheibe einschlugen. Gemeinsam mit anderen Reisenden konnte er das Kind und dessen Mutter vor weiteren Verletzungen schützen. Nichts tun dagegen konnte Klaus K., als zwei Neonazis immer weiter auf Gesicht, Bauch und Kopf eines schon am Boden liegenden, blutenden jungen Mannes eintraten und ihn schwer verletzten.

"Intensive körperliche Einwirkung“

In dem polizeilichen Abschlussbericht schließlich findet sich eine Version der Ereignisse, die den Erinnerungen von Klaus K. sehr nahe kommt: Bereits in Güstrow seien in den Zug 150 Sympathisanten des rechten Spektrums eingestiegen. Am Bahnhof in Schwan seien dann 60 Linke dazu gestiegen. Im weiteren Verlauf, so das Ergebnis der Ermittlungen, seien dann sechs Personen aus dem rechten Spektrum „aus dem Zug gedrängt worden.“ Daraufhin sei es zu "intensiver körperlicher Einwirkung mit Fäusten, Füßen und Zaunlatten“ durch Rechte gegen die Gruppe der Linken gekommen. Einige von ihnen seien massiv verletzt worden.

Auf die Frage an Peter Lückemann, warum die Staatsanwaltschaft Rostock angesichts dieses polizeilichen Ermittlungsergebnisses so lange gegen die zwölf Linken ermittelt habe, wird der Oberstaatsanwalt nebulös. Es gebe dafür einen "neutralen Zeugen“, der eine "verlässliche Aussage“ abgegeben habe. Auch auf die nächsten Fragen antwortet der Oberstaatsanwalt nur spärlich: Was ist eigentlich aus den Videoaufnahmen geworden, die Udo Pastörs bereitwillig der Polizei angeboten hatte? Zumal viele Zeugen davon berichteten, wie Neonazis das Geschehen mit Handykameras aufnahmen. Oberstaatsanwalt Lückemann sagt, es gebe keine Videoaufnahmen: Nein, die Neonazis seien trotz entsprechender Hinweise durch Zeugen nicht an Ort und Stelle durchsucht worden – "das wäre unverhältnismäßig gewesen“, so Lückemann. Nachträgliche Hausdurchsuchungsbefehle habe es auch nicht gegeben.

Internet-Fahndung nach polizeibekannten Neonazi

Und warum hat der polizeiliche Staatsschutz in Rostock, der für die Bekämpfung von Straftaten von Links- und Rechtsextremisten zuständig ist, im Frühjahr 2008 im Internet mit einem Foto die Öffentlichkeit um die Identifizierung von Michael Grewe gebeten? Der Staatsanwalt sagt, die Beamten hätten nicht gewusst, dass es sich bei der "unbekannten, männlichen Person“ auf dem Foto um den seit Ende der 1980-er Jahre in der norddeutschen Neonaziszene aktiven NPD-Landtagsmitarbeiter gehandelt habe. Grewe erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil Polizisten in den 1990er Jahren in seiner damaligen Wohnung eine Maschinenpistole und 1300 Schuss Munition fanden. Oberstaatsanwalt Lückemann sagt, die Internet-Fahndung sei "auf empörte Reaktionen gestoßen “. Zum Beispiel bei Rechtsanwalt Sven Adam, der einen Zeugen des Angriffs vertritt.

„Eine Ermutigung für weitere Angriffe“

Bereits Anfang August 2007 hatte der Göttinger Rechtsanwalt eine Zeugenaussage an die Rostocker Polizei gefaxt, in der Grewe erheblich belastet wurde. "Nach viermonatigem Schweigen teilte die Staatsanwaltschaft dann mit, dass gegen zwölf Linke ermittelt werde,“ erinnert sich der Anwalt. Erkennbare Ermittlungen gegen Grewe seien erst im Februar 2008 aufgenommen worden. Dann habe es noch mehrere Monate gedauert, bis die Polizei in der Lage gewesen sei, eine rechtlich einwandfreie Wahllichtbildvorlage durchzuführen. Der Rechtsanwalt vermutet, die Internetfahndung könnte im Zusammenhang mit der erneuten NPD-Verbotsdebatte im Frühjahr dieses Jahres stehen. Denn Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU) gehört zu den wenigen vehementen Verbotsbefürwortern in seiner Partei. Der Innenminister hatte nach den Ereignissen von Pölchow vor einem Jahr "schnelle Aufklärung“ versprochen.

Darauf müssen Klaus K. und andere Opfer wohl noch eine Weile warten. Neben Grewe ermittelt die Staatsanwaltschaft Rostock noch gegen zwei weitere Neonazis aus Norddeutschland wegen gefährlicher Körperverletzung. In drei Monaten soll eine Anklage stehen, sagt Staatsanwalt Lückemann. "Das bisherige Vorgehen der Ermittlungsbehörden hat die Neonazis zu weiteren Angriffen auf Linke in Regionalbahnen geradezu ermutigt,“ sagt Tim Beiss von der Landesweiten Beratung für Opfer rechter Gewalt (LOBBI) in Mecklenburg-Vorpommern. Die jüngsten Beispiele: Am Abend des 1.Mai 2008 stürmten vermummte Neonazis am Bahnhof von Bad Kleinen einen Zug, in dem sich Linke auf der Rückreise von Hamburg befanden. Die Angreifer schlugen gezielt auf einzelne von ihnen ein. Und im schleswig-holsteinischen Pinneberg besetzten Neonazis am 1. Mai eine S-Bahn und gröhlten durch die Lautsprecheranlage im Zug: "Ab heute transportiert die Deutsche Bahn Ausländer und Deutsche getrennt. Für Ausländer werden extra Güterwagen zur Verfügung gestellt.“ Klaus K. sagt: "Jedes Mal, wenn ich in einen Zug steige, erinnere ich mich an die prügelnden Neonazis.“

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