Teilnehmerin der Demonstration am Al-Quds-Tag in Berlin 2015.
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Menschenfeindlichkeit Juli 2015: Antisemitismus

Monatsüberblick aus dem Juli 2015 zum Thema Antisemtismus: Von Parolen beim Al-Quds-Marsch bis zu antisemtischen Bedrohungen im Internet anlässlich der ansonsten bisher friedlich und fröhlich verlaufenden European Maccabi Games in Berlin. Der Zentralrat der Juden feiert 65. Geburtagstag. Eine Online-Meldestelle für antisemitische Vorfälle will für eine bessere Faktenlage sorgen. Auf der Konferenz des neu gegründeten Netzwerkes zur Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus (NEBA) werden Problemlagen und Gegenstrategien diskutiert.

Von Johanna Voß

In Berlin finden vom 27. Juli – 05. August  die European Maccabi Games statt – die größte jüdische Sportveranstaltung Europas. Genau 80 Jahre, nachdem alle jüdischen Sportler von den Olympischen Spielen in Berlin ausgeschlossen wurden. Mehr als 2.300 Athleten aus 35 Ländern sind dazu angereist. Sorge bereiten den Veranstaltern jetzt zahlreiche Drohungen aus der rechtsextremen Szene, berichtet der Störungsmelder. Szenekenner befürchten, dass es in den nächsten Tagen zu antisemitischen Kundgebungen und auch Übergriffen in der Stadt auf die Sportler kommen könnte. Auf einschlägigen Webseiten hetzen Neonazis bereits gegen die Maccabi Games. „Deutschland erwache - Juda verrecke!“, schreiben gleich mehrere Rechtsextreme. „Schade, dass es keine Aschenbahnen mehr gibt“, witzelt ein anderer. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird als "Marionette der judaeo-amerikanischen Besatzer" beschimpft. Was denn die Disziplinen bei den Spielen seien, fragt ein User und antwortet sich selbst mit antisemitischen Stereotypen. „Lügen, stehlen und sich als Opfer beklagen. Und natürlich das Geld-Zählen nicht vergessen. Hier sind die Juden in ihrer Paradedisziplin unschlagbar.“

Um solche Bedrohungen oder auch Übergriffe zu melden, hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus rechtszeitig zur Maccabiade eine Online-Meldestelle eingerichtet. Bereits seit einer Woche können rund um die Uhr mit wenigen Klicks antisemitische Bedrohungen, Beschimpfungen und Angriffe über eine spezielle Webseite gemeldet werden. Hinter dem Projekt steckt die vom Senat geförderte Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). „Wir wollen alltäglichen Antisemitismus erfassen und sichtbar machen“, sagt RIAS-Leiter Benjamin Steinitz. „Anders als die Polizei dokumentieren wir nicht nur strafrechtlich relevante Taten“, betont er.

Zu antisemitischen Vorfällen kam es auch Anfang Juli, beim Al-Quds-Marsch in Berlin. Wie die Berliner Zeitung berichtete, rief ein Sprecher aus Jemen vom Lautsprecherwagen über das Mikrofon in arabischer Sprache „Tod Amerika, Tod Israel, verflucht seien die Juden und Sieg dem Islam“. Die Versammlungsbehörde hatte solche Sprüche, sowie Abwandlungen davon, untersagt. Ein entsprechender Auflagenbescheid war zuvor an die Demonstrationsveranstalter ergangen. Der Veranstalter der Demonstration bezeichnete Zionisten mehrmals als „Krebsgeschwür der Menschheit“. Israel sei der „Schuldige an allem Übel in dieser Welt“, die Zionisten seien Ungläubige, die „nur Tod und Verzweiflung über die Welt“ brächten. Nun hat Lala Süsskind, die Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus Strafanzeige wegen Volksverhetzung erstattet.
Wogegen eigentlich an diesem Tag demonstriert wird und warum Neonazis, linke Antiimperialisten, Muslime und ultraorthodoxe Juden gemeinsam demonstrieren, hat die Taz in ihrem Artikel zum diesjährigen Al-Quds-Tag gut zusammengefasst.

Im Juli 2015 feierte der Zentralrat der Juden seinen 65sten Geburtstag, berichtete die Deutsche Welle. Damals wurde er als Interessengemeinschaft jüdischer Menschen gegründet, die sich vorübergehend in Deutschland niedergelassen hatten. Die meisten hatten gar nicht vor, auf Dauer eine jüdische Gemeinschaft zu gründen oder in Deutschland zu bleiben, doch Mitte der 1970er Jahre hat sich dann ein Wandel breit gemacht und man traute sich zu sagen, dass man bewusst wieder in Deutschland leben will, denn das war alles andere als selbstverständlich. Jedoch sieht Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrates der Juden heute ein neues Bedrohungspotenzial: „ Es fällt doch auf, dass wir heute auch einen Antisemitismus finden, der nicht nur bei politischen Extremisten beheimatet ist, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft. Hier kommt er oft eher im Gewand des Antizionismus daher.“

Wachsende antijüdische Ressentiments aus gebildeten Schichten, die oft in Form von Israelkritik und Antizionismus artikuliert werden, stoßen oft kaum auf Kritik, prangert auch Monika Schwarz-Friesel in der Jüdischen Allgemeinen an und belegt diese Tendenzen anhand aktueller und historischer Beispiele. Sehr lesenswert!

Auch Abe Foxman, der scheidende Vorsitzende der Anti Defamation League, einer US-amerikanischen Organisation, die gegen die Diskriminierung und Diffamierung von Juden arbeitet, nimmt den wachsenden Antisemitismus in Europa mit Besorgnis wahr. Im Vergleich zwischen Europa und den USA, führt er Europa als Negativ-Beispiel für wachsenden Antisemitismus innerhalb der Bevölkerung an: In Europa sehe ich, wie viel schlimmer es sein kann, selbst mit Gesetzen. Seit dem Zweiten Weltkrieg war es noch nie so schlimm in Europa. Es ist nicht wie im Zweiten Weltkrieg, weil sich die Regierungen von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden dem öffentlich entgegenstellen. Aber wenn wir von den Einstellungen der Menschen sprechen, dann ist es seit dem Zweiten Weltkrieg schlimmer geworden", sagt er im Interview mit Tuvia Tenebom in der Zeit.

Um diesem aufflammenden Antisemitismus entgegenzuwirken, da sind sich Experten einig, braucht es Bildung. Doch wird mit dem Thema Antisemitismus an Schulen oft falsch umgegangen, berichtet die Jüdische Allgemeine.   Das Wort „Du Jude“ wird von erschreckend vielen Kindern auf dem Schulhof als Schimpfwort verwendet, obgleich die meisten Schüler noch nie einen Juden zu Gesicht bekommen haben. „Richtig problematisch kann es aber werden, wenn sich die Übergriffe ganz konkret gegen jüdische Mitschüler richten“, so Anne Goldenbogen, von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. „Oftmals werden die Betroffenen und ihre Eltern dann mit ihren Beschwerden allein gelassen“. Sie erfahren wenig konkrete Unterstützung. „Oder es wird ihnen sogar angeraten, die Schule zu wechseln“, betont die Expertin. „Man möchte sich mit dem Thema ungern auseinandersetzen, und der Aufwand, für den Schutz jüdischer Schüler zu sorgen, erscheint vielen einfach als zu groß“. Dies bezeichnet Goldberg als Vermeidungsstrategie, die auf die Unfähigkeit der Lehrer zurückgeht, das Problem offen anzusprechen. Außerdem betont Sie, dass der Antisemitismus nicht nur ein Problem in der arabisch/muslimisch-stämmigen Comunity ist, sondern auch in der „deutschen Mehrheitsgesellschaft zahlreiche Ressentiments weiterhin tief verwurzelt sind“. Das Wort „Jude“ ist immer noch stigmatisiert, was daran zu erkennen ist, dass viele Deutsche Schwierigkeiten haben, es überhaupt über die Lippen zu bringen. Auch im Schulunterricht wird nicht ideal mit dem Problem umgegangen, zumal Antisemitismus nur im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus besprochen wird und nicht als umfassenderes Problem adressiert wird, kritisieren Experten.

„Taten statt Worte“ fordert der promovierte Historiker Günther Jikeli. Er kritisiert im Tagesspiegel , dass der wachsende Antisemitismus in Deutschland nicht ernst genug genommen wird und wünscht sich ein kompromissloses Vorgehen der deutschen Politik, ähnlich wie in Frankreich. Auch dort ist die Zahl antisemitischer Übergriffe in den ersten Monaten dieses Jahres dramatisch angestiegen, obwohl die Bevölkerung weniger antisemitische Ressentiments hegt als noch vor einem Jahr, titelt der Spiegel. Zur Bekämpfung des Antisemitismus wurde dort ein Fördertopf geschaffen, der Bildungsprogramme in Schulen, Sportvereinen und Gedenkstätten ermöglicht und Opfer unterstützt. Außerdem werden antisemitische Vorfälle stärker sanktioniert. In Deutschland ist man von solchen Maßnahmen weit entfernt, kritisiert Günther Jikeli. „Schon bei der Erfassung von Antisemitismus gibt es erhebliche Defizite“, denn  „oft werden antisemitische Vorfälle von der Polizei als solche gar nicht erkannt und tauchen daher auch nicht in der Kriminalstatistik auf“, weiß auch Benjamin Steinitz von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Dieses Defizit in der Erfassung des Antisemitismus wurde auch auf der Konferenz des Netzwerkes zur Erforschung und Bekämpfung des Antisemitismus (NEBA) angeprangert, die aus aktuellem Anlass am 2. Juli in der Topographie des Terrors stattfand. 

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