Deutsche Zustände 2010: Vereisung des sozialen Klimas nützt Rechtspopulisten

Wie geht es der Demokratie in Deutschland? Wie steht es um die Abwertung von Migranten, Obdachlosen, Frauen? Diesen Fragen widmet sich seit 2002 die Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Für 2010 stellen die Forscherinnen und Forscher fest: Gerade die Besserverdienenden und Einflussreicheren verlieren im Zuge der Krise ihre gesellschaftlichen Normen und reagieren reaktionär statt zivilisiert, tolerant und differenziert.

Von Simone Rafael

„Wir leben in einem Jahrzehnt sozialer und politischer Vergiftungen“, sagt Professor Wilhelm Heitmeyer auf der Pressekonferenz zur neunten Folge der Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ in Berlin. Seine Kollegin Beate Küpper ergänzt: „Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 konnte man glatt den Eindruck haben, die demokratischen Werte, die Freude an Pluralität und Liberalität seien auf dem Vormarsch. Doch angesichts der Krise verlieren die offenbar mühsam gelernten Normen an Bedeutung. Vorurteile und Abwertungen kommen wieder offen hervor.“

Abwertungen stabil auf hohem Niveau

Was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung umtreibt, die seit 2002 in den „Deutschen Zuständen“ die Entwicklungen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland erforschen, sind nicht die nackten Zahlen – denn die zeigen seit Studienbeginn 2002 zwar ab und an Sprünge, sind aber im großen und ganzen erschreckend stabil: Während Homophobie und Sexismus seit 2002 kontinuierlich abnehmen, verharren etwa Rassismus, Obdachlosen- und Behindertenfeindlichkeit auf gleichem Niveau. „Das zeigt auch, wie schwierig es ist, diese Einstellungen zu bearbeiten“, sagt Wilhelm Heitmeyer.

Die insgesamt am weitesten verbreiteten Abwertungen – die von Langzeitarbeitslosen und die Fremdenfeindlichkeit – zeigen Schwankungen auf hohem Niveau, die etwa durch Ereignisse wie die Wirtschaftskrise des vergangenen Jahres stark beeinflusst werden. Die Zustimmung der rund 2.000 Befragten zu klassisch antisemitischen Aussagen ging von 2002 bis 2008 zurück, um nun wieder anzusteigen; dagegen verzeichnen die Forscherinnen und Forscher seit 2008 einen starken Anstieg der Umwegkommunikation über israelbezogenen Antisemitismus. Zwei Syndromteile, die in den letzten Jahren und besonders von 2009 auf 2010 stark zunahmen, sind Islamfeindlichkeit – übrigens schon vor der Sarrazin-Debatte, denn die Daten der Forscher wurden im Mai und Juni 2010 erhoben – und das Pochen auf Etabliertenvorrechte.

Neu: Die Erosion demokratischer Werte in gesellschaftlich wichtigen Gruppen

Besonders beunruhigend ist dabei, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, wie sich Vorurteile und Abwertungen ihren Weg in die Politik und die so genannte Mitte der Gesellschaft bahnen. Schon im vergangenen Jahr konstatierten Heitmeyer und sein Team, dass das Empfinden einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise massive Auswirkungen auf Abwertungen und Ausgrenzungen hat. Wer sich bedroht fühlt, wertet andere ab, um sich besser zu fühlen. Dies bewahrheitet sich auch in der diesjährigen Untersuchung in Bezug auf Islamfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorreche, Antisemitismus, Sexismus und Homophobie.

Neu allerdings: Die Vorurteile sind auch dort auf dem Vormarsch, wo sie gemeinhin nicht oder weniger erwartet werden: So ist etwas Islamfeindschaft „traditionell“ am höchsten bei denen, die sich im politisch rechten Lager verorten – und das ist auch nach wie vor so. Am stärksten angestiegen ist die Islamfeindschaft allerdings von 2009 auf 2010 bei den Menschen, die sich politisch links oder in der Mitte einordnen.

Besserverdienende geben Normen preis

Eine weitere unangenehme Erkenntnis des Jahres 2010 ist, dass ein deutlicher Anstieg aller Ausprägungen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit besonders in den höheren Einkommensgruppen (ab 2.500 Euro pro Person) zu verzeichnen ist – besonders aber in Bezug auf Islamfeindlichkeit und dem Pochen auf Etabliertenvorrechte. In höheren Einkommensgruppen gibt es ebenfalls eine besonders hohe Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Obdachlosen und Fremden – eine Folge der fortschreitenden Ökonomisierung der Gesellschaft, die Menschen nur noch nach einem wirtschaftlichen Nützlichkeitsprinzip beurteilt. Nun machen die höheren Einkommensgruppen zwar nur rund 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland aus. Allerdings, so kann man vermuten, sind es die 20 Prozent, die durch höhere Bildung und gute Jobs einen besonders großen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung und Politik nehmen.

Wenn diese Gruppe also demokratische Normen wie Liberalität, Pluralität, Solidarität fallen lässt oder etwa Gerechtigkeit nach eigenen Gutdünken modifiziert, hat dies, so vermuten die Wissenschaftler aus Bielefeld, fatale Folgen auch für den Rest der Gesellschaft. Deutlich ist etwa aus dem Datenmaterial zu erkennen, dass es gehaltsübergreifend zu einer Entsolidarisierung mit denen kommt, die als „fremd“ empfunden werden – Migranten und besonders Muslime.

Von der Demokratieentleerung profitieren Rechtspopulisten

Wenn nun Vorurteile und Abwertungen gerade in der Bevölkerungsgruppe steigen, die bisher Normen etwa im Umgang mit Rassismus hoch gehalten hat, hat dies weitreichende Folgen für die Demokratie und das gesellschaftliche Klima in Deutschland, betont Wilhelm Heitmeyer. Er spricht von einer „rohen Bürgerlichkeit“, die ihre demokratische Kultur preisgibt, um die eigenen Pfründe zu sichern. Wenn die Menschen, die sich als angebliche Liberale empfinden, reaktionäre Einstellungen verfolgten und verbreiteten, führe dies zu einer „Vereisung des sozialen Klimas“, so Heitmeyer.

„Nicht nur, dass rechtspopulistische Parteien versuchen, diese Stimmungen zu nutzen“, ergänzt sein Kollege Andreas Zick, „viel problematischer ist doch, dass sich die Volksparteien an solche Argumentationen hängen, um das dort offenbar vorhandene Wählerpotenzial abzuschöpfen. Dadurch kommt es zu einer Radikalisierung der Mitte, die Normen dauerhaft verschiebt und es schwerer macht, gegen diese Vorurteile zu arbeiten.“ Heitmeyer nickt und sagt: „Eine liberale und humane Gesellschaft sieht anders aus.“

Die Studie:

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg): Deutsche Zustände 9. Berlin 2010; Edition Suhrkamp 2616, 348 Seiten

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