Das Lied, das aus dem Pfarrhaus kam

"Die Fahne hoch!" - 1933 wurde das Horst-Wessel-Lied zur zweiten Nationalhymne. Seine Geschichte verrät viel über die Verirrungen des deutschen Protestantismus

Von Manfred Gailus

Am Abend des 14. Januar 1930 wurde der 22-jährige Berliner SA-Führer Horst Wessel von kommunistischen Gegnern in seiner Wohnung überfallen und durch einen Pistolenschuss lebensgefährlich verwundet. Den Folgen dieser Verletzungen erlag er sechs Wochen später. Mit dem Tod kam der Kult. Der junge Mann avancierte zum Märtyrer der NS-Bewegung, und das von ihm geschaffene Kampflied stieg zur NSDAP-Parteihymne ("Weihelied") und 1933 zur zweiten deutschen Nationalhymne auf: "Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! / S. A. marschiert mit ruhig festem Schritt. /Kam’raden, die Rotfront und Reaktion erschossen, / marschiern im Geist in unsern Reihen mit. // Die Straße frei den braunen Bataillonen! / Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann! / Es schau’n aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen. / Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an. // Zum letzten Mal wird Sturmalarm geblasen! / Zum Kampfe stehn wir alle schon bereit. / Bald flattern Hitlerfahnen über allen Straßen, / die Knechtschaft dauert nur noch kurze Zeit!"

Wer war dieser junge Dichter, der nun zu den "Großen Deutschen" zählte, dessen Lebensgeschichte in etlichen Büchern und im Film verklärend erzählt wurde und nach dem Plätze, Straßen, Krankenhäuser, ein großer Berliner Stadtbezirk, ein Segelschulschiff, ein Jagdgeschwader der Luftwaffe und anderes mehr benannt wurden? Ein "gescheiterter Student", wie nach dem Krieg häufig zu lesen war? Ein zu Gewaltexzessen neigender Schläger oder gar ein "ehemaliger Zuhälter"?

Pfarrer Ludwig Wessel, der Vater, schwärmt vom "heiligen Krieg"

Horst Wessel kam aus einem Pfarrhaus. Und man muss die Geschichte des Vaters kennen, um die des Sohnes zu verstehen. Ludwig Wessel, geboren 1879 als Kind eines Gastwirts in Hessisch-Oldendorf, war ein sozialer Aufsteiger der Jahrhundertwende. Er hatte sich nach mittelmäßigen Studienleistungen der Theologie und ersten Pfarrstellen in Bielefeld und Mülheim 1913 erfolgreich auf eine gut dotierte Pfarrstelle an der traditionsreichen Berliner Nikolai-Gemeinde beworben. Kaum war er, inzwischen verheiratet und Vater dreier Kinder (Sohn Horst kam in Bielefeld zur Welt), in der Hauptstadt etabliert, da zog es ihn an die Front. Sein Augusterlebnis 1914 schildert er selbst (1918) in der ihm eigentümlichen religiösen Sprache: "Ein deutsches Pfingsten brach an. So schön, wie es die Besten unseres Volkes nie zu hoffen, zu träumen wagten. Ein Volk, ein Gott, ein Glaube. Geschart um seinen Kaiserlichen Herrn, …so bot Deutschland sich der Feindschaft einer ganzen Welt. … Der deutsche heilige Geist" habe alle "durchrauscht in gewaltigem Brausen, und seine Sturmeskraft war wie der Lenzwind, der aus der dunklen Gefangenschaft des deutschen Herzensacker ein neues Keimen, Sprießen und Grünen weckte. Eine große Zeit tat Säemannsdienst."

Ein Jahr wirkte er als Gouvernementspfarrer im besetzten Belgien. Im Herbst 1915 wurde er für eindreiviertel Jahr ins litauische Kowno an den östlichen Kriegsschauplatz versetzt. Die russisch-orthodoxe Peter-Paul-Kathedrale diente als evangelische Garnisonskirche. Bei der Einweihung brandete "das Trutz- und Siegeslied der Reformation zu jubelndem und dankesfrohem Bekenntnis in die hohe Domkuppel". Zum Abschied der Rekruten an die Front erfand Wessel eine "feierliche Waffenweihe", die er im Anschluss an seine Predigten zelebrierte: "Wollt ihr mit Gott ausziehen in unseres deutschen Volkes heiligen Kampf, euch ihm freudig weihen mit Herz und Hand, mit Leib und Seele? So antwortet und gelobet: Ja, wir wollen es! […] Der Herr segne dich, du deutsches Schwert und deinen Träger, er behüte dich, mein Kamerad, auf allen deinen Wegen…"

Pfarrer Wessel träumte auf seinen Streifzügen im besetzten Belgien sowie im Osten von Annexionen. Die Flamen seien uns ohnehin stammverwandt. Litauen müsse sich an das Reich anlehnen, hier sei wertvolles Siedlungsland und "Dammland" gegen die "slawische Überflutung". Wilna weckte wehmütige Empfindungen: "Wieder hielten die schwertumgürteten Deutschen hier ihren Einzug auf der gleichen Straße, die einst ihres Stammes Vorfahren, die Ordensritter, kampffroh gezogen sind. […] Die ‚Deutschenstraße‘ zeugt von diesem altgeschichtlichen Einst. Heute haust in ihr nur zahlreiches jüdisches Volk." Entscheidend war Wessels "Hindenburg-Erlebnis": "Ein neues Nibelungenlied aus den Sagentiefen der deutschen Seele wird fernenweit durch der Geschlechter Kommen und Gehen diesen stahlumklirrten Klang tragen, wird preisend singen von Held Hindenburg." Wessel hatte Zugang zur Tischrunde der Feldherren, an der auch General Erich Ludendorff saß. Dieser, so mutmaßte der Pfarrer 1918, werde nach Kriegsende Hindenburgs Werk fortführen und Erfüller aller vaterländischen Hoffnungen sein.

Wessels Rednertalent, seine suggestive Vermischung des Religiösen mit dem Politischen, hatte ihn zum begehrten Frontprediger gemacht. Wiederholt wurde er von der Obersten Heeresleitung zu Vortragsreisen gerufen. Im März 1918 dankte das Kriegspresseamt dem Evangelischen Oberkirchenrat für Wessels Rednereinsatz vor Tausenden von Soldaten. Dabei habe er vermocht, sowohl den einfachen Mann aus dem Volk wie auch anspruchsvollere Hörer zu packen und für den Gedanken des notwendigen Durchhaltens bis zum deutschen Frieden zu gewinnen. Geschickt habe er verstanden, religiöse Gedanken in seine Vorträge einzuflechten.

Im Krieg und durch den Krieg war Pfarrer Wessel zum Massenredner geworden. Er teilte den Siegfriedensgeist der 1917 gegründeten, protestantisch inspirierten Deutschen Vaterlandspartei. In dem "heiligen Krieg" ging es ihm um ein mitteleuropäisches Großdeutschland. Was er verkündete, war rassisch grundierter, aggressiver Pangermanismus, eine besondere Sendung der Deutschen zur Rettung der verderbten Welt. Seine religiös-politische Kriegsrhetorik zeigt den Wandel seines Nationalismus hin zum Völkischen: "deutscher heiliger Geist", "germanische Kraft und Unüberwindlichkeit", "Gewalt germanischen Christusglaubens", "ungebrochene Kraft völkischen Tatwillens". Und immer wieder brachen auch antisemitische Ressentiments hervor.

Bei Kriegsende mischte sich Wessel in die große Politik. Im Januar 1919 wurde er zum Vorsitzenden des Reichsbürgerrats gewählt, einer antirevolutionären bürgerlichen Sammelbewegung. Der "Kampf gegen Versailles" und scharf antibolschewistische Bestrebungen bestimmten den Kurs dieser Bewegung, die mit dem Entstehen des Weimarer Parteiensystems allerdings rasch an Bedeutung verlor. Bei internen Konflikten über die Beteiligung von Juden an den Räten hielt sich Wessel zu den Antisemiten. Zwar legte er aus gesundheitlichen Gründen Ende 1919 sein Amt nieder, engagierte sich freilich als Publizist in populären Blättern wie der Großen Berliner Illustrierten, wo er in schärfsten nationalistischen Tönen für den "Wiederaufstieg Deutschlands" stritt. Am 9. Mai 1922 starb Wessel überraschend an den Folgen einer Operation im Alter von nur 42 Jahren.

Da war sein Sohn Horst 14 Jahre alt. Während der Kriegsjahre hatte er den Vater kaum gesehen. Die Mutter, so wird berichtet, habe dessen Kriegsbriefe vorgelesen. Dem Heranwachsenden muss der Vater fern, groß, bedeutend erschienen sein. Und er interessiert sich schon bald für dessen Ideen. Archidiakon Julius Vehse, Amtskollege des Vaters und Konfirmator Horst Wessels, erinnert sich 1934 an lange religiöse Gespräche mit dem Jugendlichen: "Er konnte sich so ganz von diesen Dingen absorbieren lassen, sich förmlich in diese Fragen hineinversenken, so daß mir manchmal das Gleichnis vom zwölfjährigen Jesus im Tempel in den Sinn kam, der auch alles andere über religiösen Gesprächen vergaß."

Horst Wessels politische Karriere begann in jenen Wochen, als der Vater starb. Von einer Rebellion gegen ihn oder das Elternhaus kann keine Rede sein. Der Vater war durch den Krieg ein völkischer Agitator geworden, jetzt trat der Sohn in seine Fußstapfen. Gleich nach dem Mord an Rathenau 1922 schloss er sich dem Bismarck-Bund an, der Jugendorganisation der christlich-konservativen Deutschnationalen Volkspartei. Gelegentlich traf man sich zu Liederabenden auch im elterlichen Pfarrhaus in der Jüdenstraße. Doch das jugendbewegt-bündische Milieu – Fahrten, Geländespiel, Liederbuch, Uniform, Bücher von Hermann Löns und Walter Flex – sagte ihm wenig zu. Wessel suchte Anschluss beim radikaleren Wiking-Bund, wo militärische Übungen und terroristische Aktionen zum Programm gehörten. Im Dezember 1926 trat der junge Pfarrerssohn der soeben durch den neu berufenen Gauleiter Joseph Goebbels reorganisierten Berliner NSDAP und SA bei.

Der Bismarck-Bund, so resümierte der Jugendliche im Tagebuch, "das war Freude und Vergnügen. Wiking, das war Abenteuer, Putschatmosphäre, Soldatenspielerei, wenn schon auf nicht ungefährlichem Untergrund. N.S.D.A.P. aber war politisches Erwachen. Mit ganzer Kraft und Rieseneifer habe ich der Partei gedient. Kein Opfer an Zeit, Geld, keine Gefahr, Verhaftung, Schlägerei konnte mich schrecken." Mit Begeisterung berichtete der junge Wessel zu Hause von einer Kundgebung am 1. Mai 1927, auf der er Hitler erstmals direkt erlebt hatte. Als NSDAP und SA wenig später wegen ihrer Gewaltexzesse für fast ein Jahr verboten wurden, trafen sich Wessels raue Gesellen unter der Tarnbezeichnung "Wanderklub Edelweiß" im elterlichen Pfarrhaus. Schon bald galt Horst Wessel als herausragendes politisches Talent. Er war Schulungsleiter, Redner, Jugendleiter und führte seine SA-Truppe gern in die roten Hochburgen der umliegenden Arbeiterviertel, die "Brutstätten" der Berliner "Gottlosigkeit". In diesem Zusammenhang entstand, wie die Schwester später berichtete, als Resultat einer durchwachten Nacht im März 1929, das Kampflied Die Fahne hoch – eine überlieferte Melodie, die Wessel mit neuem Rhythmus und Text versah.

Für Goebbels wird der junge SA-Mann zur Christusgestalt

Nach dem frühen Tod des Vaters lebte die vierköpfige Familie in schwierigen Verhältnissen. Bis etwa 1933 konnte sie weiterhin die Pfarrwohnung Jüdenstraße nutzen. Im April 1926 ließ sich Horst Wessel an der Friedrich-Wilhelms-Universität immatrikulieren, nicht bei den Theologen, sondern als Jurastudent. Von ernsthaftem Studium konnte bei dem völlig von der Politik Absorbierten freilich keine Rede sein. Dennoch verfolgte man zu Hause sein Treiben mit Sympathie. Stritt er nicht für dasjenige, wofür schon der Vater gekämpft hatte? Die Freunde, die "Kameraden", später die Parteigenossen, waren willkommene Gäste im Pfarrhaus. Sicher sorgte man sich daheim über gewisse gefährliche Abenteuer, aber seine entschieden nationale Richtung teilten alle mit ihm, die Mutter, die Schwester, der jüngere Bruder. Wessels Hitler-Gläubigkeit und seine christlich-protestantische Grundprägung gerieten während dieser Kampfzeit niemals in Konflikt, er war ein christlicher Nationalsozialist.

Zu familiären Missstimmungen kam es erst 1929, als er sein Studium abbrach und die Bekanntschaft eines Straßenmädchens aus dem Scheunenviertel machte. Wessel verließ das Pfarrhaus und nahm wechselnde Zimmer in der Umgebung. Als sein drei Jahre jüngerer Bruder Werner, ebenfalls Mitglied der NSDAP und SA, im Dezember 1929 mit einer "Schneeschuhgruppe der Berliner Nationalsozialisten" im Riesengebirge im Schneesturm erfror, stürzte Horst Wessel in eine seelische Krise. Wenige Wochen später endete sein eigenes Leben – es wurde zum Heldenmythos verklärt.

Denn Goebbels, der ihn persönlich gut kannte, erfasste sofort den hohen Wert gerade dieses Toten für die "Bewegung". In seinem Nachruf Bis zur Neige vom 6. März stilisiert er das Schicksal des Pfarrerssohns zu einem modernen Leben Jesu, zur Passionsgeschichte eines deutschen Messias. Daneben klingt auch das germanische Siegfried-Motiv an, der heimtückische Verrat am Helden durch die (angeblich kommunistische) Zimmerwirtin. Wessel entspricht weithin seinen imaginierten deutschen Heldenbildern und Erlösererwartungen. Goebbels sieht in Wessel einen "Christussozialisten", die reale Verkörperung des Helden aus seinem eigenen Roman Michael (1929). Wessel habe "den Kelch der Schmerzen bis zur Neige getrunken. Er ließ ihn nicht an sich vorübergehen, er nahm ihn willig und voll Hingabe. Dies Leiden trinke ich meinem Vaterland! Hebt ihn hoch, den Toten, und zeigt ihn allem Volk. Und ruft und ruft: Sehet, welch ein Mensch! Werdet nicht müde, auf ihn zu zeigen! Tragt ihn, wo ihr geht und steht, über euren Häuptern, und fragt man euch, wer dieser Tote sei, dann gebt zur Antwort: Deutschland! Es steht ein anderes Deutschland auf. Ein junges, ein neues! Wir tragen es schon in uns und über uns. Der Tote, der mit uns ist, hebt seine müde Hand und weist in dämmernde Ferne: Über Gräber vorwärts! Am Ende liegt Deutschland!"

Nicht nur in der NSDAP, auch in der evangelischen Kirche reklamierten viele Horst Wessel als neuen Helden. Man war stolz auf den Spross des Pfarrhauses. Mutter und Schwester fingen an, berühmt zu werden. Sie hatten, aus ihrer Sicht, den Sohn, den Bruder, hingegeben für die nationale Bewegung. Anlässlich der Beisetzung überließen die Mutter und die Kirchengemeinde St. Nikolai der NSDAP die Zeremonie sowie das Friedhofsgelände für eine politische Inszenierung, die Goebbels zu Propagandazwecken filmen ließ. Am Grab sprachen Pfarrer und Parteiredner. Mutter und Schwester saßen bei Gedenkveranstaltungen fortan in der ersten Reihe. Um ihre heroische Opferhaltung zu bekräftigen, traten beide 1934 in die NSDAP ein. Sie pflegten exklusiven Umgang mit NS-Größen wie Goebbels, Göring, Himmler, auch Hitler.

Nach der Einweihung eines Gedenksteins auf dem Nikolai-Kirchhof, den Hitler persönlich enthüllte, dankte die Mutter am 31. Januar 1933 Heinrich Himmler für die Teilnahme: "Die herzlichen Worte des Führers haben mir so wohlgetan und der Aufmarsch der Kameraden war die schönste Wohltat für meinen Sohn. Beim Anblick der frischen, frohen Jugend erfüllt es mich mit großer Wehmut, daß meine beiden lieben Jungen selber nicht mehr dabei sind, namentlich jetzt, wo so plötzlich die Erfüllung gekommen ist. Ich muß mich damit bescheiden, zu wissen, daß beide ihr Bestes eingesetzt haben, diese große Wende herbeizuführen. Das einzige, was bei aller Schicksalshärte mir immer wieder etwas Mut gibt, ist die Treue der Kameraden und der ganzen Partei, die vor allem meinem Ältesten so weit über das Grab hinaus zuteil wird."

Insbesondere Horst Wessels Schwester Ingeborg hütete und verwertete die Reliquien des berühmten Bruders. 1933 erschien der Bildband Horst Wessel mit Fotos aus dem Familienalbum im NS-Parteiverlag. Er habe, schreibt sie, der Partei jenes Kampflied geschenkt, das inzwischen "zum Evangelium der Bewegung" geworden sei. 1934 folgte die autoritative Biografie aus ihrer Hand. Das Buch erschien 1941 in zwölfter Auflage. Ohne Zweifel kommerzialisierte sie den Mythos. Ihr Versuch, 1933 eine Spieldose der Marke Organino mit der Melodie des Liedes auf den Markt zu bringen, wurde von höherer Parteistelle untersagt. Goebbels empörte sich wiederholt über den Geschäftssinn der Familie. Zum vierten Todestag 1934 publizierte Ingeborg Wessel im Sonntagsblatt der Deutschen Christen (DC) einen Artikel Vom Glauben meines Bruders Horst. Am Pfarrhaus Jüdenstraße, berichtet sie, grüße jetzt eine Tafel: "Hier wurden Horst und Werner Wessel zu Kämpfern für Deutschlands Freiheit und Ehre." Ihr Bruder habe das Christentum nie als etwas Reaktionäres oder dem deutschen Wesen Fremdes empfunden. "Dazu hat das Christentum zu sehr in sein Leben eingegriffen." Im Vater habe er stets ein Vorbild gesehen. Ausmärsche mit den "Kameraden" hätten oft mit gemeinsamem Kirchgang begonnen. Im Straßenkampf gegen "Rotfront" sei Horst den Weg gegangen, den ihm sein Vater gewiesen habe. Wie Jesus sei er unter das schaffende Volk gegangen, so zu handeln bedeutete ihm wahres "Christentum der Tat". Für die Idee der NS-Volksgemeinschaft sei er schließlich "gefallen".

Noch heute marschiert Horst Wessel in einer Berliner Kirche

Als Heldenmythos kehrte der Tote in die Kirche zurück. DC-Pfarrer Joachim Hossenfelder, der am 5. Februar 1933 im überfüllten Berliner Dom vor Hitler und viel Parteiprominenz die Trauerrede auf den SA-Führer Hans-Eberhard Maikowski hielt, stellte Wessel als Vorbild heraus. Hinsichtlich der NS-Märtyrer sprach er von der "großen grauen Armee" im Jenseits, die zum "himmlischen Wachtdienst befohlen" sei – bei "dem ewigen Sturm Horst Wessels". In Berlins Parochialkirche nahmen bei einem "Deutschen Dankgottesdienst" Fahnenträger und der "Horst-Wessel-Sturm" am Altar Aufstellung. Zum Abschluss erklang im Glockenspiel erstmals das Horst-Wessel-Lied vom Kirchturm. So hielt die Parteihymne über die NS-gläubigen Deutschen Christen Eingang in kirchliche Räume.

Im Februar 1936 gedachten Steglitzer DC-Gruppen seines sechsten Todestags. DC-Pastor Siegfried Flemming, der die Familie offenbar gut kannte, hielt die Ansprache. In einem zeitgleich publizierten Artikel Horst Wessel, der evangelische Pfarrerssohn schreibt er, Wessel habe stets zur Kirche gestanden. Die christliche Grundhaltung sei im Kreise seiner Parteigenossen nie Streitfrage gewesen. "Das sollte kein Deutscher vergessen. Deutschtum und Christentum sind die beiden Pole, um welche unser Leben kreist. Horst Wessel bleibt für immer ein Vorbild positiven Christentums im Dritten Reich."

In der Nikolaikirche, wo Wessels Vater bis 1922 predigte, wurde im März 1938 anlässlich der jährlichen "Heldengedenkfeiern" eine weitere Tafel für den Sohn enthüllt. Unter Anwesenheit von Mutter und Schwester weihte Gemeindepfarrer Vehse, sein Konfirmator, eine "einfache Gedächtnistafel mit vergoldeten Lettern und dem Hakenkreuz". In eindringlichen Worten habe der Geistliche an Wessels Leben erinnert und betont, dass er ebenso wie die Helden des Weltkriegs gefallen sei, damit Deutschland lebe…

Und auch heute noch findet man letzte Spuren dieses Kultes. So steht in der 1935 geweihten Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf eine Kanzel, die mit zahlreichen geschnitzten Figuren verziert ist. Eine davon stellt unverkennbar einen SA-Mann dar. Er trägt die Züge Horst Wessels.

Der Autor ist Historiker und lebt in Berlin. 2001 erschien im Böhlau Verlag, Köln, sein viel beachtetes Buch "Protestantismus und Nationalsozialismus".

Erschienen in DIE ZEIT vom 18.09.2003

drucken