Gibt es Alternativen, wenn man die einzige Lehrstelle weit und breit von den Dorfnazis vermittelt bekommt? Wie wichtig sind die Rechte und die Gleicheit aller Menschen, wenn sie doch dem eigenen Glück im Weg steht? Mit diesen Fragen muss sich der 18-jährige Rick in Jakob Arjounis Roman "Cherryman jagt Mr. White" herumschlagen. Und Rick ist kein sehr versierter Denker.
Von Simone Rafael
Der 18-jährige Rick wohnt im trostlosen brandenburgischen Städtchen in der Nähe von Fürstenwalde, ist arbeitslos ohne tollen Schulabschluss, wohnt bei der alten „Tante Bombusch“, die ihn nach dem Tod der Eltern groß gezogen hat, zeichnet Superheldencomics, um der Tristesse zu entkommen und träumt davon, eines Tages doch noch eine Lehrstelle als Gärtner zu bekommen. Völlig überraschend ist die Erfüllung dieses Wunsches plötzlich zum Greifen nah: Rick bekommt eine Lehrstelle in einer Gärtnerei in Berlin in Aussicht gestellt. Einziger Wermutstropfen: Vermittler der Ausbildungsstelle sind die brutalen Dorfnazis. Mit denen ging Rick schon gemeinsam in den Kindergarten, versucht sich aber eigentlich von ihnen fernzuhalten. Das hat zwar auch inhaltliche Gründe – so teilt Rick nicht die Geringschätzung gegenüber allem, was anders ist, ist aber hauptsächlich dadurch motiviert, dass die Begegnung immer Ärger bedeutet – sowohl, wenn man sich mit ihnen einlässt, also auch, wenn man sie meidet.
Und natürlich offerieren Vladimir, Mario, Robert und Heiko den Weg in die große Stadt und in die Unabhängigkeit nicht ohne Hintergedanken: Rick soll für den „Heimatschutz“ Berlin kleine Berichte über einen jüdischen Kindergarten anfertigen, der in einem Park liegt, in dem Rick in der Ausbildung eingesetzt wird. Am Kindergarten wolle die Kameradschaft eine „Kampagne“ starten, erklärt ihm Gärtnerei-Chef Dirksen. Rick ist erleichtert und versucht, sich selbst zu überzeugen, dass er mit ein paar schlecht geschriebenen Berichten wohl kaum jemand schaden könne. Erst als er die Lehre beginnt, wird ihm schleichend klar, wie falsch er die Situation eingeschätzt hat. Er hat sich in eine ausweglos scheinende Situation manövriert, die ihn, so empfindet er es zumindest, zunehmend handlungsunfähig macht, bis schließlich nur noch Undenkbares denkbar scheint. Und dafür entscheidet sich Rick dann auch.
Jakob Arjouni erzählt Ricks Geschichte aus der Perspektive seines Protagonisten, der sie für den Gerichtspsychologen aufschreibt. Dadurch vermittelt Arjouni die Gedankenwelt seiner Hauptfigur sehr unmittelbar. Sein Rick ist nicht gerade der reflektierteste Denker. Es ist für ihn neu, sein eigenes Handeln und seine Gefühle zu analysieren, auch wenn er bei der Beobachtung seiner Umgebung und seiner Mitmenschen erstaunlich genau ist. Allerdings vermag Rick weder die Möglichkeiten noch die Folgen seiner Handlungen einzuschätzen. Im Moment des Nacherzählens wird ihm zwar klar, dass es Alternativen es zu seinem Handeln gegeben hätte – allerdings realisiert er auch, warum er nicht in der Lage war, sie zu wählen. Deutlich wird die Macht der Bedrohung und die Not, in die Rick der Kontakt mit den zu brutalen Nazis mutierten Kindergartenfreunden bringt – und wie sehr ihm Anlaufstellen fehlen, mit dieser Bedrohung adäquat umzugehen. „Cherryman jagt Mr. White“ ist ein bedrückendes, sehr nachdenklich machendes, großes kleines Buch.
Jakob Arjouni:
Cherryman jagt Mr. White
Diogenes Verlag, 168 Seiten, 19,90 Euro