Antisemitismus in Sachsen-Anhalt: Angriff auf Noam

In einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt wird ein jüdischer Junge an einer Bushaltestelle verprügelt. Warum werden die Hintermänner von vielen Menschen im Ort gedeckt?

Von Jana Simon

Als Noam Kohen am 16. April mit dem Regionalzug aus Naumburg zurückkehrt, ist sein Leben in Deutschland noch in Ordnung. Es ist 18 Uhr, er kommt vom Friseur, alles sieht nach einem ganz gewöhnlichen Abend aus. Ein paar seiner Schulfreunde sitzen an der Bushaltestelle vor dem Bahnhof in Laucha, Sachsen-Anhalt. Noam setzt sich zu ihnen. Kurz darauf kommt Alexander P. vorbei. Er ist 20 und trägt Glatze. Ohne Warnung schlägt er Noam ins Gesicht und brüllt: »Geh zurück, wo du hergekommen bist. Du Judenschwein!«

Noam versucht zu fliehen, rennt die Straße hinunter. Alexander P. verfolgt ihn, zerrt an der Jacke des Jungen, wirft ihn zu Boden, schlägt und tritt ihn. Sechs Zeugen sehen dabei zu, sie versuchen den Täter stoppen – »verbal«, wie es später im Polizeideutsch heißen wird. Sie greifen nicht ein. Bis ein Autofahrer anhält und Noam rettet.

Noam ist vor acht Jahren mit seiner Mutter und seinem Bruder aus Israel nach Laucha gezogen. Seine Mutter hatte sich während eines deutsch-israelischen Sportleraustausches in den Deutschen Olaf Osteroth verliebt. Noam ist nicht der richtige Name ihres Sohnes, den echten will sie nicht in der Zeitung lesen. Noam ist 17. Und seine Mutter hat Angst um ihn.

Olaf Osteroth, Noams Stiefvater, sitzt in seinem Jeep vor dem Bahnhof und zeigt auf den Tatort. Es regnet, graue Häuser säumen die Straße. Menschen sind nicht zu sehen. Laucha liegt an der Unstrut, mitten im Weinanbaugebiet, die Landschaft ist lieblich. Osteroth will gerade weiterfahren, als ein Auto vor seinem Jeep stoppt. Ein Mann in einem blauen Arbeitsanzug steigt aus. Der Elektromeister von Laucha. Der Mann kommt auf Osteroth zu und beginnt zu reden, klagt über zu wenig Arbeit, zu wenig Aufträge, zu wenig Geld. Den Angriff auf Osteroths Stiefsohn erwähnt er mit keinem Wort. »Hast du gehört, was passiert ist?«, fragt Osteroth ihn schließlich. »Ja«, sagt der Elektriker und schaut weg. Er kennt die Familie des mutmaßlichen Täters schon lange, einmal hatte er einen Auftrag von einer der Töchter. »Die hat die Rechnung sofort bezahlt, da kannste nicht meckern«, sagt er. Darauf wird geachtet in der Kleinstadt. Dass alles ordnungsgemäß läuft. Osteroth sieht irritiert aus. Für ihn hat sich alles verändert, für den Elektromeister ist alles gleich geblieben. Seit eine israelische Zeitung über den Angriff auf Noam berichtete, klingelt bei Osteroth zu Hause andauernd das Telefon. Verwandte seiner Frau aus Israel fragen, was in Deutschland los sei. Warum sie dort blieben.

Wie sollen Osteroth und seine Frau erklären, dass in Deutschland im Jahr 2010 ein Junge auf der Straße verprügelt wird, weil er Jude ist?

»Lutz Battke«, sagt Osteroth. Immer wieder fällt dieser Name in Laucha: Battke. Alexander P., der Name des mutmaßlichen Täters, rückt dabei fast in den Hintergrund. Für Osteroth ist Battke die heimliche Hauptfigur im Ort. Der Mann, der ein Klima geschaffen hat, in dem der Angriff auf Noam möglich wurde.

Lutz Battke ist Bezirksschornsteinfeger und sitzt als Parteiloser für die NPD im Stadtrat und im Kreistag. Die NPD kam bei den letzten Kommunalwahlen 2009 in Laucha auf 13,5 Prozent, das beste Ergebnis in ganz Sachsen-Anhalt.

Außerdem trainiert Battke die Fünf- bis Siebenjährigen beim Lauchaer Fußballklub BSC 99, auch Alexander P. spielte für den Verein. Osteroth zieht eine direkte Verbindung zu Battke: »Die Saat ist aufgegangen.«

Auf der Internetseite des Klubs halten mehrere Spieler eine Fahne in Rot, Weiß und Schwarz hoch. Es sind die Farben des Vereins – und der Reichskriegsflagge. Auf der Fahne steht das Wort audorea, lateinisch für Sieg. Zweimal pro Woche hat Alexander P. bis vor Kurzem im Klub trainiert, am Wochenende hatte er Spiele. Alexander P. gehörte gemeinsam mit Battkes Adoptivsohn zur ersten Mannschaft.

Landesweit bekannt wurde Battke, als das Landesverwaltungsamt versuchte, ihm aufgrund seiner politischen Einstellung den Kehrbezirk zu entziehen, damit aber vor Gericht scheiterte. Die Begründung: Battkes politische Überzeugungen hätten sich nicht auf seine Berufspflichten ausgewirkt. Jeder in Laucha kennt Battke, als Schornsteinfeger kommt er in jedes Haus. Viele sind durch den Fußballverein mit ihm verbunden. Auch der Elektromeister sagt: »Ich komme mit dem klar. Zum Geburtstag ruft er mich an.« Und seine rechtsradikalen Ansichten? »Von dem Scheiß will ich nichts wissen.« Den Angriff auf Noam könne man Battke nicht anlasten.

Ähnliche Sätze sagen jetzt viele in Laucha.

Als Olaf Osteroth vom Bahnhof aus weiterfährt, sieht er bestürzt aus. Von selbst spricht ihn niemand auf den Angriff an. Von selbst erkundigt sich auch kaum jemand, wie es seinem Stiefsohn geht. Er muss nachfragen, er muss daran erinnern. Meist beginnen seine Gesprächspartner, von ihren eigenen Problemen zu erzählen. Als sei dies eine Erklärung für das, was in Laucha geschehen ist.

Osteroth ist 47 Jahre alt, er stammt aus Hamburg, seit 1994 lebt er in Laucha. Damals war er Leiter der Deutschen Luftsportjugend. Er half mit, den alten Flugplatz wiederzubeleben. Inzwischen betreibt Osteroth eine Firma, die Heißluftballonfahrten organisiert. Bis zum Überfall hatte er den Eindruck, er sei gut integriert. Nun muss er der jüdischen Familie seiner Frau erklären, warum er sie mit ihren beiden Söhnen ausgerechnet in diese Kleinstadt im Osten geholt hat. Er muss sich für seinen Wohnort rechtfertigen. Osteroth sieht aus dem Wagenfenster, Regentropfen laufen die Scheibe herunter. »Das ist hier die Toskana Deutschlands«, sagt er.

Er hält vor einem kleinen hellblauen Haus hinter dem Gymnasium der Stadt. Seine Frau, Tsipi Lev, öffnet die Tür. Sie ist 50, groß, trägt ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Im Wohnzimmer stehen antike Holzmöbel, an der Wand hängen Bilder, die sie selbst gemalt hat. Tsipi Lev hat das Haus und das Land dahinter gekauft, sie wollte in Laucha bleiben. Seit dem Angriff stellt sie sich selbst die Frage, die sie von ihren israelischen Verwandten am Telefon hört: Warum lebst du in Deutschland, im Land der Täter?

Der Angriff auf Noam erregt wegen ihrer Familiengeschichte besonders viel Aufmerksamkeit in Israel. Die Familie von Tsipi Levs Vater, Noams Großvater, wurde aus dem Warschauer Ghetto nach Auschwitz verschleppt und dort umgebracht. Nur der Vater konnte sich verstecken, überlebte als Einziger den Zweiten Weltkrieg und wanderte nach Palästina aus. Seiner Tochter hat er nie viel über seine Vergangenheit erzählt. Als ein amerikanisches Fernsehteam mit ihm über sein Leben sprechen wollte, bekam er einen Herzinfarkt, mit 47. Noams anderer Großvater war Trainer der israelischen Leichtathleten bei den Olympischen Spielen in München 1972. Er wurde bei der Geiselnahme von palästinensischen Terroristen getötet. Er starb auch, weil ein Versuch der deutschen Polizei scheiterte, die Geiseln zu befreien. Und nun der Angriff auf Noam. »Es war ein Schock«, sagt Tsipi Lev. »Ich wurde hysterisch. Es kann nicht sein, dass die dritte jüdische Generation nach dem Holocaust in Deutschland nicht frei auf der Straße herumlaufen kann.«

Bevor Tsipi Lev 2002 mit ihren beiden Söhnen nach Laucha kam, hatten sie und Olaf Osteroth lange darüber diskutiert, wo sie leben sollten. Am Ende entschieden sie sich für Deutschland, das Leben hier erschien ungefährlicher, friedlicher als in Israel. Anfangs pendelte Lev noch zwischen Tel Aviv und Laucha. Sie arbeitete als Chefchoreografin der Makkabiade, einer Art jüdischer Olympischer Spiele in Israel. Jetzt entwirft Tsipi Lev Schmuck und verkauft ihn auf Märkten überall in Deutschland. In der ersten Zeit in Laucha, sagt Tsipi Lev, habe sie sich gefühlt wie in einem »Röntgeninstitut«: Wo sie auch hinging, stets folgten ihr die Blicke der Einheimischen. In Laucha hatte sich herumgesprochen, dass sie aus Israel kam. Bis zu dem Überfall auf Noam habe sie aber nie offenen Antisemitismus erlebt. Jetzt redet Tsipi Lev öfter von »den Lauchaern«, von »den Deutschen« in der Pluralform, dann unterbricht sie Olaf Osteroth. Sie fallen sich oft ins Wort, ihre Stimmen werden laut, überschlagen sich. Sie klagt an, er beschwichtigt. Eine Familie im Ausnahmezustand. Einig sind sie sich in ihrer Meinung zu Lutz Battke. »Das Konzept, diese Leute zu integrieren, ist gescheitert«, sagt Osteroth. Er selbst hat Battke vor Jahren einmal im Stadtrat erlebt. »Sie als Westdeutscher wollen uns hier ja erklären, was wir machen sollen…«, ging Battke Osteroth an, die Stimme theatralisch gehoben. Osteroth hat ihn nicht ernst genommen. Damals.

Vielleicht haben sie deshalb auch Noams älteren Bruder fünf Jahre lang beim BSC 99 Fußball spielen lassen. Er war zusammen mit Alexander P. in einer Mannschaft. Von anderen hörte der Bruder manchmal Sprüche wie: »Wenn du schlecht spielst, schicken wir dich nach Buchenwald.« Zu Hause erzählte er davon nichts. Nach dem Abitur zog er schnell in die Großstadt, nach Berlin. Auch Noam spielte kurz im Verein. Mit Battke hatten beide kaum Kontakt, er trainiert die Kleinen. Jetzt denken Tsipi Lev und Olaf Osteroth darüber nach, ob sie zu lange gewartet, ob sie Battkes Macht unterschätzt haben. »Er gehört aus dem Verein geworfen«, sagt Osteroth.

Die Kleinstadt und der Fußballklub, alle Wege führen immer wieder zueinander. Es gibt kein Entrinnen.

Der Präsident des BSC 99, Klaus Wege, will nicht mehr über Lutz Battke sprechen und redet dann doch über ihn. Wege und Battke kennen sich seit Langem. »Ich sehe menschlich und sportlich keinen Grund, ihn zu entlassen. Er hat die Gewalttat nicht begangen.« Alexander P. wurde als Spieler suspendiert. »Wenn er verurteilt wird, wird er aus dem Verein ausgeschlossen«, sagt Wege und fügt hinzu, dass es von Battke nie rechtsradikale politische Äußerungen auf dem Fußballplatz gegeben habe. Wie kann er das wissen? Wege fragt zurück, ob man den Verein vernichten wolle. Es klingt, als sei Battke der Verein. »Er ist unser bester Trainer. Wir haben keine große Auswahl, und er hat Erfolg«, sagt Wege. Außerdem sei die NPD eine legale Partei. »Das muss die Bundesregierung regeln, nicht der BSC Laucha.« Wie geht es nun weiter? Klaus Wege schweigt, dann fragt er: »Ja, soll ich jetzt zurücktreten?« Eher würde der Präsident des BSC 99 Laucha sein Amt niederlegen, als einen Trainer zu entlassen?

Was ist geschehen in Laucha? Wie konnte ein NPD-Mitglied sich unentbehrlich machen in diesem Fußballklub? Wie konnte Lutz Battke ins Herz dieser Kleinstadt, in die Mitte der Gesellschaft, gelangen?

An der Haustür von Noams Familie klingelt es, ein junger Mann tritt ein – wuchtiger Oberkörper, kurze blonde Haare, mächtige Arme: Mario Träbert, Noams Retter. Wenn er an jenem 16. April nicht gewesen wäre – Noams Mutter mag diesen Satz nicht zu Ende sprechen, nicht zu Ende denken. Träbert wollte an jenem Freitagabend noch etwas einkaufen. Als er in die Straße einbog, die zum Bahnhof führt, sah er, wie Alexander P. auf Noam einschlug. »Das war keine Kabbelei«, sagt Träbert. Er bremste und schrie P. an. Der war so erstaunt, dass er für einen Augenblick von Noam abließ. So konnte Noam in Träberts Wagen flüchten. Er hatte Schwellungen, einen Fußabdruck auf seinem T-Shirt, aber keine offenen Wunden.

Warum hat Mario Träbert eingegriffen? Träbert schaut auf seinen Körper, grinst und sagt: »Ich bin ein bisschen besser bepackt als andere.« Eigentlich versteht er auch die Frage nicht ganz, was an seiner Hilfe besonders sein soll. Träbert ist 28, gerade Vater geworden, wohnt in einem Nachbarort und macht eine Umschulung zum Kaufmann. Im Rathaus gab es kürzlich eine Feierstunde zu Ehren des Retters von Noam. Träbert stand neben dem Innenstaatssekretär von Sachsen-Anhalt, Rüdiger Erben, und kam sich komisch vor. »Ich habe mich schon gefreut, aber ich habe etwas getan, was für mich normal ist.« Auf den Fotos von der Feierstunde steht Träbert in einen grauen Anzug gepresst, drückt einen Strauß Blumen an seine Brust und schaut verlegen nach unten. Träbert bekam einen Gutschein über 50 Euro für das Einkaufscenter »Schöne Aussicht« im benachbarten Leißling. Niemand aus seinem Umfeld hat ihn bislang auf seinen Einsatz angesprochen. Es gab weder Zuspruch noch Ablehnung. Nichts. Die Kleinstadt schweigt laut.

Träbert verabschiedet sich gerade von Tsipi Lev, als Noam aus der Schule heimkehrt. Er ist groß, kräftig, trägt ein weites rotes T-Shirt und setzt sich neben seine Mutter auf das Sofa. Er erzählt nicht gern von dem Angriff, er möchte kein Vorzeigeopfer sein. Seine Mutter und sein Stiefvater sprechen für ihn, manchmal werden sie dabei laut, dann sieht er sie an, als sei ihm alles ein wenig peinlich. Als gehe es gar nicht um ihn. Noam hat sich kaum gegen Alexander P. gewehrt, alles ging so schnell, er wurde noch nie angegriffen. Hat sich nun etwas verändert? Hat er Angst? »Nee«, sagt Noam.

Er wird Alexander P. und dessen Familie wiederbegegnen – am Bahnhof, im Supermarkt, irgendwo auf der Straße. Die Wege in einer Kleinstadt führen immer wieder zueinander. Und der Fußballplatz liegt ganz in der Nähe von Noams Haus.

Noams Familie hat einen Monat gewartet, bis sie sich an die Öffentlichkeit wandte. Die Polizei hatte dazu geraten, damit in Ruhe die Zeugen vernommen werden konnten. Damit es nachher nicht hieße, die Familie habe Druck ausgeübt. In Laucha hat das Vorgehen trotzdem zu Irritationen geführt. Nun heißt es: Warum haben die so lange gewartet? Kann das überhaupt alles so stimmen?

Nach den ersten Meldungen in den Medien bekam die Familie viele Anrufe, Mails, Briefe aus ganz Deutschland. Unbekannte nahmen Anteil, sprachen Mut zu. Aus Laucha meldeten sich nur drei Menschen. Einer von ihnen war Wilhelm Ebbinghaus, ein ehemaliger Bürgermeister. Er schrieb: »Ich verurteile diese Lauchaer Fußballer, die es ermöglichten und guthießen, dass sich dieser Nazi der Jugend annehmen durfte.«

Die Polizei hat die Ermittlungen inzwischen abgeschlossen, Noam, Träbert und sechs Zeugen wurden befragt. »Im Wesentlichen wurden die Ausgangsinformationen bestätigt«, sagt Jörg Bethmann, Sprecher der Polizei im Burgenlandkreis. Der Fall liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft in Halle, sie wird gegen Alexander P. Anklage wegen Körperverletzung und Beleidigung erheben. Zweimal wurde er bereits wegen Körperverletzung verurteilt, zweimal wurde gegen ihn auch wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen ermittelt. Diese Verfahren wurden aber eingestellt. Alexander P. hat zum Angriff auf Noam bisher nicht ausgesagt, er hat sich einen Anwalt genommen, Thomas Jauch aus Weißenfels. Mit einer Zeitung in der Hand hatte er die Kanzlei betreten, auf einen Bericht über seinen Angriff gedeutet und gesagt, er habe ein Problem. Jauch sagt, das Gespräch mit seinem Mandanten sei bisher »wenig ergiebig« gewesen, er warte auf Akteneinsicht. Für ein Interview mit seinem Mandanten sei es noch zu früh.

Normalerweise landen die Akten auf dem Tisch der Staatsanwaltschaft in nahen Naumburg, aber weil diesmal ein politischer Hintergrund vermutet wird, wurden sie nach Halle weitergegeben. Hans-Jürgen Neufang, Staatsanwalt in Naumburg, ist Alexander P. gut bekannt: »Wir sind eine kleine Behörde. Es gibt Namen, die tauchen immer wieder auf. Und das ist so ein Fall.« Er schaut in seinem Computer nach, findet dort mehrere alte Vermerke: gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung, Bedrohung. Auch den Fußballtrainer Battke kennt der Staatsanwalt. »Wer kennt den hier nicht?«, fragt er. Einmal habe er bei einem Fußballspiel neben ihm gestanden. »Es hat mir gereicht, was ich da gehört habe.« Battke habe mit Blick auf einen schwarzen Spieler gerufen: »Hau den Nigger um.«

Es gibt in Naumburg und Umgebung viele solcher Geschichten über Battke. Der Innenstaatssekretär von Sachsen-Anhalt, Rüdiger Erben, erinnert sich noch daran, als er das erste Mal von Battke hörte. Es muss vor vier Jahren gewesen sein, als ihm ein Sportfunktionär erzählte, dass es einen Trainer beim BSC 99 gebe, den die Kinder »unseren Führer« nennen. Persönlich begegnete Erben Battke am Volkstrauertag auf dem Weißenfelser Friedhof, wo Erben eine Rede hielt und Battke mit seinen Mitstreitern versuchte, ihn zu stören. Auch auf Veranstaltungen, bei denen die Mörder des liberalen Politikers und Reichsaußenministers Walther Rathenaus verherrlicht wurden, sei Battke aufgetreten, sagt Erben. Wenn der Innenstaatssekretär in Laucha nachfragte, hörte er immer nur: »Der kümmert sich um unsere Kinder.«

Diesen Satz hat auch Jana Grandi oft gehört. Sie sitzt im Rathaus von Freyburg, einem Nachbarort Lauchas, blickt auf den sanierten Marktplatz, neben ihr an der Wand hängt die Karte des Burgenlandkreises. Grandi ist Bürgermeisterin der Region Unstruttal, zu der auch Laucha gehört. Sie kennt Battke schon aus dem Stadtrat, da hat sie ihn noch belächelt. »Inzwischen bin ich sensibilisiert«, sagt sie. Seit 2007 erlebt sie Battke und die NPD im Kreistag, der Fraktionsführer der Partei trete äußerst aggressiv auf, sagt sie. Battke hingegen habe in den drei Jahren dort nur einmal etwas gesagt, meist grinse er einfach. Und dann sagt Grandi: »Ich bin selbst erstaunt, wie lange der Fußballverein Battke schon gewähren lässt.«

Hätte sie nicht auch etwas unternehmen können? »Wenn der Staat es nicht fertigbringt, ihm die Kehrerlaubnis zu entziehen und die NPD zu verbieten, was sollen wir hier unten dann machen?«, fragt Grandi. Dann erzählt sie, wie die Region ausblute: Alle Jungen und Hochgebildeten zögen weg, auch ihr eigener Freundeskreis sei dezimiert. Und die Kinder von Laucha werden von Lutz Battke trainiert.

Battke wohnt an einer der Hauptstraßen von Laucha, im Hof parkt sein Motorroller, eine braune Schwalbe, darauf kleben Sticker: Ein Herz für Kinder, Ein Herz für Deutschland und Unsere Soldaten sind keine Verbrecher. Die beste Truppe der Welt. Vor der Wohnungstür im ersten Stock stehen Turnschuhe, ordentlich aufgereiht. Battke öffnet die Tür, er ist groß, Anfang 50, trägt schwarze Jogginghosen, eine Vokuhila-Frisur und Hitlerbärtchen. Er grinst, wird schnell sehr laut und sagt nur, dass er nichts sagen werde. Dabei grinst er noch immer, als trete er in einer Theaterkomödie auf. Was sagt er zu dem Vorfall mit dem jüdischen Jugendlichen? Battke knallt die Tür zu, macht sie wieder auf, ruft: »Was für ein Vorfall? Was gerade in Palästina passiert, das ist ein Vorfall.«

Als der Fotograf der ZEIT den Fußballplatz des BSC 99 fotografieren will, übt Battke dort gerade mit den Kindern. Er verweist den Fotografen des Platzes. Zuvor holt er sich Hilfe, er ruft den amtierenden Bürgermeister der Kleinstadt an. Der ist auch Vizepräsident des Klubs. Zur Bestätigung reicht Battke sein Handy an den Fotografen weiter. Als der das Gespräch beendet, erscheint auf dem Display als Bildschirmschoner: ein Porträt von Adolf Hitler.

Wer ist dieser Lutz Battke, und warum wird er in Laucha nach wie vor geschätzt?

Helmut Schmidt kennt Battke noch aus DDR-Zeiten. Schmidt ist heute bei der Stadtverwaltung angestellt, früher spielte er mit Battke zusammen Fußball beim Vorgängerverein des BSC 99. »Er war ein sehr guter Spieler, überall einsetzbar«, sagt Schmidt. Sie waren befreundet. Nach dem Mauerfall verlor Schmidt seinen Job, wurde Platzwart und trainierte eine Zeit lang gemeinsam mit Battke die Kinder. »Er ist ein sehr strenger Trainer. Die Kinder stehen wie eine Eins vor ihm.« Bis zum Mauerfall hatte Schmidt nie rechtsextreme Äußerungen von seinem Freund gehört, auf dem Fußballplatz sei das auch danach so geblieben. Doch abends, wenn Battke getrunken hatte, habe er rechtsradikale Geschichten erzählt. Schmidt sagt, er habe Battke dann einfach nicht mehr zugehört. »Der hat die Geschichte verschlafen.« Einmal fuhr er Battke zu einer Kneipe in einen Nachbarort und fand sich auf einer NPD-Versammlung wieder. Um ihn herum schrien Männer: »Sieg Heil!«. Danach hat er Battke nie wieder gefahren. Ein anderes Mal wollte Schmidt ein Kind aus einem Nachbarort in ihre Mannschaft holen. Es war sehr talentiert, ein Kind mit dunkler Haut. Battkes Reaktion: »Schwarze spielen bei mir nicht.«

Schmidt kannte auch Battkes Vater Günter. Der war Gründungsmitglied der NPD im Burgenlandkreis und starb vor zwei Jahren. Auf der Homepage des Kreisverbandes der Partei ist ihm eine »Ehrenseite« gewidmet.

Schmidt und Lutz Battke entzweiten sich 1994. Battke hatte Schmidts Sohn nicht gut behandelt, und die Schmidts wechselten den Verein. Kurz darauf verlor Helmut Schmidt auch seinen Job als Platzwart.

Schmidt beschreibt Battke als Mann mit zwei Gesichtern. Im vergangenen Jahr trafen sich die beiden zufällig im Wahllokal. Da habe Battke ihm zugezischt: »Du kriegst deine Strafe auch noch! Dich mache ich fertig in der Stadt!« Schmidt hatte die Geschichte mit dem schwarzen Spieler der Polizei erzählt, und Battke hatte es erfahren.

Zu den Eltern der Spieler aus dem Fußballverein ist Battke stets freundlich. Für sie ist er der ehrenamtliche Helfer, der sich rührend um ihre Kinder kümmert. Battke kennt die Großeltern, die Eltern und die Kinder von Laucha. Zu Ostern oder Weihnachten kann er in der Gaststätte von Tisch zu Tisch gehen und jede Familie begrüßen. So hat er sich in die Herzen vieler Lauchaer gegraben.

Lutz Battke handelt getreu der Strategie der NPD, in Sportvereine, in die Kommunalpolitik, in »die Mitte des Volkes« vorzudringen. In einer Broschüre der Partei mit dem Titel Hautnah am Volk steht: »Für die NPD gibt es keine bessere Außenwerbung als den ordentlichen, freundlichen und kompetenten Aktivisten, der als Sympathieträger unserer Sache auftritt. (…) Uns allen muß bewußt sein, daß Erfolge auf Landes- und Bundesebene eine solide Graswurzelarbeit in den Gemeinden und Städten voraussetzen. Ohne kommunale Verankerung lassen sich keine dauerhaften politischen Geländegewinne erzielen.«

Nicht weit von Battke entfernt, wohnt der mutmaßliche Täter Alexander P. bei seinen Eltern. Niemand öffnet die Tür, ein Hund bellt. P. macht eine Ausbildung zum Koch in Naumburg. Die P.s sind eine alteingesessene Familie in Laucha. Am Ortsrand lebt ein weiterer Zweig der Familie in einem grauen Haus. Vergilbte Gardinen hängen vor den Fenstern, drinnen läuft ein Fernseher. Wieder öffnet niemand. Kurz darauf trifft Lutz Battke in einem weißen Citroën-Kastenwagen ein. Am Steuer sitzt ein älterer Mann, Battke selbst hat keinen Führerschein. Er schaut, was vor sich geht. Und folgt von nun an der Reporterin der ZEIT. Anscheinend will er Macht demonstrieren, einschüchtern. Battke und sein Fahrer folgen der Reporterin bis zum Gymnasium. Als sie aussteigt, warten sie, dann fahren sie weiter. Später steht der Citroën vor dem Haus von Alexander P..

Vor der Schule warten ein paar Jugendliche auf den Bus. Einer von ihnen trägt eine schwarze Bomberjacke und hält schon am frühen Nachmittag eine Dose Bier in der Hand. Er sagt: »Der Alexander P. ist ein Kamerad von mir.« Und das »mit dem Juden« finde er gut. Die anderen Jugendlichen um ihn herum lachen.

Ein Junge sagt, er kenne Noam. Der sei früher aggressiv gewesen und deshalb vom Gymnasium geflogen. In vielen Gesprächen in Laucha tauchen jetzt Gerüchte über Noam auf, werden abgewandelt, Neues wird hinzugefügt. Die mobile Beratung für Opfer rechtsextremer Gewalt in Halle hatte Noams Familie gewarnt, dies gehöre zur Taktik der Rechten, im Nachhinein das Opfer zu diffamieren. Der Direktor des Gymnasiums von Laucha bestätigt zwar, dass Noam tatsächlich das Gymnasium gewechselt habe, allerdings wegen Lernschwierigkeiten und auf Wunsch seiner Eltern.

Der Fußballplatz und das Vereinsheim liegen gleich neben dem Gymnasium. An der Bande des Feldes hängen ein paar Werbeplakate. Eins fehlt seit wenigen Wochen: das der Rotkäppchen-Mumm-Sektkellerei. Seit 1999 unterstützte die Sektkellerei aus dem nahen Freyburg den BSC 99 mit jährlich etwa 600 Euro. Als ein Journalist der israelischen Zeitung Ha’aretz nach dem Angriff auf Noam bei der Sektkellerei anrief und nach Alexander P. und Lutz Battke fragte, wurde am darauf folgenden Tag die Unterstützung eingestellt und die Bandenwerbung entfernt. Die Reklame der Heizungs- und Sanitäranlagenfirma Pleitz hängt noch am Fußballfeld. Die Pleitz GmbH ist ein weiterer Sponsor des Vereins und einer der größten Arbeitgeber von Laucha. Ihr Geschäftsführer Olaf Pleitz sagt, er wolle erst die Ermittlungen der Staatsanwälte abwarten und dann entsprechend reagieren. Was heißt das genau? »Mensch, das sind Jugendliche. Auf jedem Fußballplatz kloppt man sich.« Schon Pleitz’ Großvater und Vater spielten im Verein. Die Familie ist dem Fußballklub seit 100 Jahren verbunden. So etwas zählt in Laucha. In dem dichten Geflecht aus gewachsenen Freundschaften spielt Noams Familie keine Rolle. Sie ist zugezogen. Natürlich kennt Pleitz auch Lutz Battke. »Er opfert sich für den Fußball auf. Er hat viele Sympathien in der Stadt. Und seine politische Meinung lässt er auf dem Platz außen vor«, sagt Pleitz. Zumindest habe er das gehört. Im Augenblick hat Pleitz ein anderes Problem. Für den Herbst bereitet er ein Fußballturnier vor und weiß nicht, wie er sich verhalten soll. Nun hat er entschieden: Er lädt Battke nicht ein, aber auch nicht aus.

Es ist diese Ambivalenz gegenüber Battke, die das Verhalten der Verantwortlichen in Laucha prägt. Sie fürchten die Reaktion ihrer Nachbarn.

In der Feierstunde für Noams Retter Mario Träbert hatte der Bürgermeister von Laucha, Michael Bilstein, noch klare Worte gefunden. Bilstein sitzt als Vizepräsident des Fußballklubs im Stadtrat – in Kleinstädten wie Laucha können auch Vereine und die Feuerwehr für das Gremium kandidieren. »Wir haben den Fußball als neutrale Zone betrachtet, das funktioniert nicht«, hatte Bilstein damals öffentlich gesagt. Wenige Tage später steht Bilstein im Rathaus und will die ZEIT nicht in seinem Büro empfangen. Er läuft auf dem Flur hin und her und fühlt sich unwohl. Inzwischen erinnert er sich nicht mehr so gern an das, was er bei der Feierstunde gesagt hat. Er sei nicht richtig verstanden worden. »Dieser Vorfall ist nicht gut für die Stadt Laucha«, sagt er. Der Bürgermeister meint den Angriff auf Noam. Es klingt, als sorge er sich vor allem um den Ruf seiner Stadt. Was ist mit Lutz Battke? »Fragen Sie doch mal die Leute auf der Straße, was die über Battke denken. Die halten ihn für einen Schornsteinfeger, der ordentlich seinen Job macht und sich als Trainer nichts zuschulden kommen lässt.« Bilsteins eigener Sohn spielt auch in diesem Verein. Dann hat der Bürgermeister genug von dem Gespräch, dreht sich um und eilt davon.

Eines fällt auf während dieser Recherche: In keinem der Gespräche fällt das Wort Antisemitismus. Als würden alle hoffen, dass es sich durch Schweigen auflöse.

Einen Mann gibt es in Laucha, der immer wieder vor Lutz Battke warnte. Wilhelm Ebbinghaus ist 67, sitzt in seinem Wohnzimmer und blickt auf eine riesige dunkelbraune Schrankwand. Ebbinghaus war elf Jahre lang Bürgermeister, von 1990 bis 2001. Damals gab es NPD-Versammlungen im Klubhaus, Ebbinghaus hat sie verboten. Immer wieder ermahnte er die Leitung des Fußballvereins: »Ihr könnt doch nicht so einen Mann auf die Jugendlichen loslassen.« Und immer wieder reagierte die Vereinsleitung grantig und unternahm nichts. Nach dem Überfall auf Noam sieht Ebbinghaus sich bestätigt. »Dass einer wie Battke mit einer solchen Gesinnung nicht bei der Abseitsregel aufhört, geht denen nicht in den Schädel.« Ebbinghaus ist nicht sehr vorsichtig in seiner Wortwahl, er war es nie. Am Ende hatte er viele Feinde in Laucha und wurde nicht wiedergewählt. Nun sitzt er in seinem Wohnzimmer und wartet darauf, dass etwas geschieht in seiner alten Stadt, dass der Verein reagiert.

Darauf warten auch Noam und seine Familie. Im Prozess gegen Alexander P. werden sie als Nebenkläger auftreten. Sie wollen kämpfen, und sie wollen in Laucha bleiben. Vorerst. Auch wenn Noam seine Mutter neulich fragte, woher dieser Hass komme. Und sie keine Antwort darauf fand.

Dieser Artikel erschien zuerst am 10.06.2010 als Dossier in der ZEIT. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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