Antisemitismus von links: Die antiimperialistischen Gruppe »For One State and Return Palestine« (FOR Palestine) aus Berlin rechtfertigt etwa Messer-Attentate auf israelische Zivilist_innen und hätte nichts gegen die Zerstörung des israelischen States.
Screenshot, 31.08.2017

Antisemitismus 2016/2017 - In der Mitte der Gesellschaft und in der (radikalen) Linken

Judenhass aus der demokratischen Mitte wird öffentlich weniger wahrgenommen und diskutiert als Antisemitismus von beispielsweise Rechtsextremen oder in muslimischen Communities. Während laut Studien zu menschenfeindlichen Einstellungen in der Gesellschaft »klassischer« Antisemitismus seit Jahren an Zustimmung verliert, zählt der sogenannte israelbezogene Antisemitismus zu den zentralen Formen des modernen Antisemitismus – auch und gerade in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Diese Form äußert sich häufig indirekt, da allzu offener Antisemitismus vielfach sozial geächtet ist. Der Antisemitismus der demokratischen Mitte tritt meist in Form von Umwegkommunikation zu Tage. Gerade subtile Formen des Antisemitismus stellen eine Gefahr für die demokratischen Werte und das gesellschaftliche Zusammenleben dar, weil sie oft nicht benannt oder bagatellisiert und damit zur Normalität werden.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem "Lagebild Antisemitismus 2016/17" der Amadeu Antonio StiftungMehr hier.

 

In der Mitte der Gesellschaft

 

Judenhass aus der demokratischen Mitte wird öffentlich weniger wahrgenommen und diskutiert als Antisemitismus von rechts oder in muslimisch sozialisierten Sozialräumen. Das zeigt bereits ein Blick in die aktuelle Einstellungsforschung
(siehe Einleitung). Während »klassischer« Antisemitismus seit Jahren an Zustimmung verliert, zählt der so genannte israelbezogene Antisemitismus zu den zentralen Formen des modernen Antisemitismus – auch und gerade in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Diese Form äußert sich häufig indirekt, da allzu offener Antisemitismus vielfach sozial geächtet ist. Hierbei wird dann Israel oft als kollektives Übel der Welt identifiziert und delegitimiert.

Der Antisemitismus der demokratischen Mitte tritt meist in Form von Umwegkommunikation zu Tage. In München hatte das im Oktober 2016 eine unmittelbare Konsequenz: Nach 16 Jahren schloss das jüdische Szenelokal »Schmock« in der Maxvorstadt. Der Gastronom Florian Gleibs hatte »die Schnauze voll« und wollte sich den Antisemitismus nicht mehr antun: »Da kam die ganze Judenfeindlichkeit wieder hoch, die es wohl immer gab. Nur glaubten die Leute, sie könnten sie jetzt als Israel-Kritik verpackt laut aussprechen. In einem meiner anderen Restaurants in München, im ›Helene‹ , verkaufen wir teils die gleichen Speisen wie im »Schmock«, nur unter der arabischen Bezeichnung. Da fängt niemand an, mit mir über die Kriege in arabischen Ländern zu diskutieren.«

Ein weiteres Beispiel: In einem Hochschul-Seminar der HAWK Hildesheim kam jahrelang durch die Dozentin ausgeteiltes antisemitisches Material zum Einsatz. Der Vorfall veranschaulicht auch, wie wenig Sensibilität es für Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft gibt. Trotz Beschwerden wurden die Inhalte des Seminars durch die Hochschulleitung über Jahre gedeckt und als unproblematisch eingestuft. Erst öffentlicher Druck und zwei Gutachten, die dem Seminar Antisemitismus bescheinigten, führten zur Absetzung des Seminars. Berichte von anderen Hochschulen zeigen, dass der Fall an der HAWK kein Einzelfall ist. 

Israelbezogener Antisemitismus wird auch durch diverse Presseberichte gefördert, in denen Israel teils sehr bewusst dämonisiert wird. Selbst in den Hauptnachrichten der Qualitätspresse ist dies zu verzeichnen. So wurde im August 2016 in der ARD-Tagesschau und den Tagesthemen ein solch dämonisierender Bericht über die Wasserversorgung in den palästinensischen Gebieten mehrmals zur besten Sendezeit gezeigt. Dieser operierte mit Halbwahrheiten und Lügen (Israel würde die ohnehin knappe Ressource Wasser »streng rationieren«, so Moderator Jan Hofer in seiner Anmoderation) sowie mit bewussten Ausblendungen (z.B. dass Israel etwa ein Drittel mehr Wasser in die palästinensischen Gebiete pumpt, als in den »Osloer Verträgen« festgelegt ist, oder dass Lieferungen von in Israel geklärtem Wasser für die Landwirtschaft von offizieller palästinensischer Seite abgelehnt werden). Hierdurch wurde der Bericht anschlussfähig an eine aktualisierte antisemitische Legende, nach der die Israelis die Palästinenser_innen durch verhinderte Wasserzufuhr bewusst verdursten lassen würden.

Kein Einzelfall: Anlässlich der USA-Reise des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu berichteten Korrespondenten der Deutschen Presse-Agentur, dass Donald Trump von »einflussreichen jüdischen Parteispendern auf den Thron gehoben« worden sei. Der WDR porträtiert den rassistischen niederländischen Politiker Geert Wilders als Agenten des Zionismus. Weitere Ausdrucksformen jenseits von Presseberichten: Judenfeindliche Hetze, die unter Klarnamen in Sozialen Netzwerken geteilt wird, oder eine einschlägige Illustration in einem jahrelang genutzten Oberstufen-Schulbuch eines renommierten Verlages, die die europäische Finanzkrise als antisemitische Verschwörung darstellt, sind hierfür nur zwei Beispiele von vielen. Die Einstellungsforschung zeigt, dass diese Haltungen in der breiten Bevölkerung anschlussfähig sind. Protestmobilisierungen wie Pegida und rechtspopulistische Parteien wie die AfD erweitern die Grenzen des Sagbaren, auch was die Verbreitung antisemitischer Stereotype angeht (siehe Rechtspopulismus).

In Teilen der sogenannten Mitte der Gesellschaft gibt es auch Ausdrucksformen, die sonst meist ausschließlich dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden. So sprach schon 2012 der damalige SPD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Norbert Nieszery, von einem »deutschen Schuldkult« (bzw. »Schuldstolz«). Die SPD-Abgeordnete Sabine Wölfle im Landtag von Baden Württemberg verbreitete 2014 via Facebook ein antisemitisches Video über die vermeintlich weltumspannende Macht der jüdischen Familie Rothschild. Konsequenzen zog dies für beide nicht nach sich, sie waren bis oder über 2016 hinaus Abgeordnete ihrer Partei. Die Anschlussfähigkeit und die sinkenden Hemmschwellen für judenfeindliche Hetze dürfen nicht unterschätzt werden, denn sie bieten einen Nährboden für antisemitische Gewalt, die in Deutschland immer noch statistisch unzureichend erfasst wird. Häufig werden Judenfeindschaft und antisemitische Straftaten mit neonazistisch organisierter Gewalt oder mit der Einwanderung von Muslim_innen in Verbindung gebracht. Unsere Chronik antisemitischer Vorfälle zeigt jedoch, wie unterschiedlich Jüd_innen und Juden in der heutigen Gesellschaft bedroht werden – auch aus der Mitte der Gesellschaft.

 

Was tun?

Gerade subtile Formen des Antisemitismus stellen eine Gefahr für die demokratischen Werte und das gesellschaftliche Zusammenleben dar. Bei ihrer Bewertung und bei allen Maßnahmen muss den Perspektiven von Jüd_innen und Juden mehr Raum gegeben werden. Ihre Erfahrungen müssen angehört und ernst genommen werden und in der Politik, der Bildungspraxis und der Wissenschaft Berücksichtigung finden.
 

(Im Lagebild Antisemitismus 2016 / 2017 gibt es außerdem Berichte zu Antisemitismus im Kulturbereich und im Fußball).

 

In der (radikalen) Linken

In der deutschen (radikalen) Linken gibt es spätestens seit der Jahrtausendwende tiefgreifende Diskussionen um Antisemitismus in den eigenen Reihen. Dies stellt weitestgehend ein europäisches Novum da, hat aber nicht dazu geführt, dass antisemitische Positionen marginalisiert wurden. In den letzten Jahren nimmt die Sensibilität für Antisemitismus hingegen spürbar ab. Antisemitische Positionen funktionieren in linken Milieus insbesondere dann, wenn sie nicht ganz offen, sondern
im Namen linker Wertvorstellungen mittransportiert werden: im Namen von Antirassismus und Antikolonialismus, sofern Israel als »kolonialer Apartheidstaat« tituliert wird, oder in queeren Zusammenhängen, wenn Israel Pinkwashing vorgeworfen wird – nämlich dass es mit seiner liberalen LGBT*IQ-Politik von der »Unterdrückung« der Palästinenser_innen ablenken würde. Aber auch bei einigen Formen der Kapitalismuskritik sind strukturelle Ähnlichkeiten zu Antisemitismus anzutreffen. Diese Wertvorstellungen sind nicht automatisch antisemitisch, werden jedoch des Öfteren judenfeindlich aufgeladen.

Auffällig nicht nur in linken Milieus ist, dass die Formulierung gewünschter israelfeindlicher und antisemitischer Positionen oft Jüd_innen und Juden überlassen wird. Dies ist mit der Ansicht verbunden, dass dann Antisemitismusvorwürfe eher ins Leere laufen. Durch den Zuzug vieler auch linker, antizionistischer Israelis nach Berlin ist in der Hauptstadt der Konflikt in den letzten Jahren noch facettenreicher und deutlicher als in anderen Städten geworden.

Die genannten Punkte lassen sich sehr gut anhand der antiimperialistischen Gruppe »For One State and Return Palestine« (FOR Palestine) aus Berlin aufzeigen, in der u.a. antizionistische Israelis organisiert sind. »FOR Palestine« positioniert sich eindeutig für den Boykott Israels und eine notfalls gewaltsame Zerstörung des jüdischen Staates.

In Redebeiträgen befürworten sie ausdrücklich alle Formen weltweit des »Widerstands«. Ganz konkret werden jene Messerangriffe auf Zivilist_innen legitimiert, denen seit Oktober 2015 bislang 28 Israelis und vier Ausländer zum Opfer fielen. Gewaltlosigkeit wird als »pro-zionistisch« abgelehnt. Trotz dieser eindeutig den Judenmord legitimierenden Positionierung ist die Gruppe im antiimperialistischen Spektrum der radikalen Linken kaum marginalisiert. Sie war wie auch eine Berliner BDS-Gruppe (»Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen«, siehe Boykottaufrufe gegen Israel) 2016 Teil des sogenannten »linksradikalen 1. Mai-Bündnis«. Lediglich eine Gruppe, die sich gegen den Antisemitismus von »FOR Palestine« aussprach, verließ aus
Protest das 1. Mai-Bündnis. Andere rechtfertigten die Duldung der Gruppe mit der Rechtfertigung, man habe »keine klare Gruppenhaltung zum Nahostkonflikt«. BDS Berlin und »FOR Palestine« blieben Bestandteil des Bündnis. Aber auch in links-liberalen Kreisen gab es Zusammenarbeit mit Protagonist_innen von »FOR Palestine«. Im Rahmen der international stattfindenden »Israel Apartheid Week« zeigte ein Kreuzberger Kino einen antiisraelischen Film des Regisseurs und »FOR Palestine«-Aktivisten Dror
Dayan. Interventionen, dass der Rahmen, die »Israel Apartheid Week«, ein antisemitischer und der Filmemacher Teil einer Gruppe sei, die Tötungen jüdischer Zivilist_innen in Israel als »Widerstand« legitimiere, wurden vom Kino zurückgewiesen. Am Rande einer pro-palästinensischen Kundgebung vor dem Kreuzberger Kino zeigten einzelne Personen den »Hitler-Gruß« und wurden antisemitische Rufe wie »Scheiß-Juden« und »Ab ins Gas« laut.

Graffitis wie »Tod dem Zionismus« an Hauswänden gehören in vielen Städten zum Ausdruck linker Weltanschauung. Die Auseinandersetzung zum Nahostkonflikt und über die Positionierung zum Thema Antisemitismus führt seit Jahren innerhalb der linksradikalen Szene bis zu gewalttätigen Konfrontationen. Während des Gaza-Krieges 2014 waren auch linke Gruppierungen an der Organisation und Durchführung vieler antiisraelischer Demonstrationen beteiligt, aus denen es massive antisemitische Vorfälle gab. Sobald es erneut eine größere Eskalation im Nahost-Konflikt gibt, ist dieses Szenario jederzeit wieder erwartbar.

Einschätzung: Dass der Nahostkonflikt schuld sei am aktuellen Antisemitismus, ist eine weitverbreitete Überzeugung. Dies führt häufig zur Rechtfertigung oder zum »verständnisvollen Überhören« judenfeindlicher Äußerungen im Kontext von Nahostdebatten. Doch man kann zum Nahostkonflikt sehr verschiedener Meinung sein und dennoch Antisemitismus als Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eindeutig ablehnen – und sollte es. Mit dem Rückzug auf die Position, »keine eindeutige Haltung zum Nahostkonflikt« zu haben, hingegen vermeiden es viele Linke, Haltung gegen judenfeindliche Statements und Aktionen zu beziehen. Auch deshalb wird Antisemitismus in der Linken selten breit thematisiert und kritisiert. 

 

 

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