Chronologie der Lüge

Von Thomas Heppener

Die ersten Attacken auf das Tagebuch erschienen 1957 und 1958 in obskuren schwedischen und norwegischen Zeitschriften. Unter anderem wurde behauptet, der amerikanische Journalist und Romancier Meyer Levin habe das Tagebuch verfasst. Levin wollte das Tagebuch in den USA für Bühne und Film bearbeiten, wurde dabei aber nicht von Otto Frank unterstützt. Der Konflikt zwischen Meyer Levin und Otto Frank kam in die Presse und wurde von Rechtsradikalen als Argument benutzt, um die Echtheit des Tagebuchs in Zweifel zu ziehen.

Dreimal ging Otto Frank in Deutschland auf juristischem Wege gegen Personen vor, die das Tagebuch seiner Tochter als Fälschung bezeichnet hatten. Anfang 1959 erstattete er Anzeige wegen übler Nachrede, Verleumdung, Beleidigung, Diffamierung des Andenkens einer Toten und antisemitischer Äußerungen gegen Lothar Stielau, einen Englischlehrer in Lübeck, der Mitglied der rechtsextremen Deutschen Reichspartei war. Stielau hatte in einer Schulzeitung geschrieben: „Die gefälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht viel echtere der Anne Frank haben den Nutznießern der deutschen Niederlage zwar einige Millionen eingebracht, uns dafür aber auch recht empfindlich werden lassen.“ Otto Franks Anzeige richtete sich auch gegen Stielaus Parteigenossen Heinrich Buddeberg. Der Vorsitzende der Deutschen Reichspartei in Schleswig-Holstein hatte sich in einem Leserbrief an die Lübecker Nachrichten für Stielau eingesetzt. Nachdem sie sich durch eine umfangreiche und gründliche graphologische Untersuchung von Anne Franks Manuskripten von der Echtheit des Tagebuchs überzeugt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft Lübeck Anklage gegen Stielau und Buddeberg. Bevor es im daraufhin eröffneten Hauptverfahren zu einer Verurteilung kam, nahmen Stielau und Buddeberg ihre Beschuldigungen jedoch zurück. Sie zeigten Bedauern über ihre Äußerungen und erklärten, das Sachverständigengutachten und die Zeugenaussagen hätten sie nunmehr von der Echtheit des Tagebuchs überzeugt. Otto Frank stimmte einer gütlichen Einigung zu, nahm seinen Strafantrag zurück, und das Verfahren wurde eingestellt.
1976 führte Otto Frank vor dem Landgericht in Frankfurt einen Prozess gegen den Architekten Heinz Roth aus Odenhausen. Roth veröffentlichte im Selbstverlag zahlreiche neonazistische Broschüren und verbreitete Flugblätter mit Titeln wie Anne Frank’s Tagebuch – eine Fälschung und Anne Frank’s Tagebuch – Der Grosse Schwindel. Nach zwei Jahren entschied das Gericht, dass es Roth bei der Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 500.000 DM (ungefähr € 250.000,-) oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten untersagt sei, diese und ähnliche Behauptungen in der Öffentlichkeit aufzustellen oder zu verbreiten. Roth ging in Berufung und legte ein "Gutachten" des französischen Wissenschaftlers Robert Faurisson vor. Doch auch dieses vermochte das Gericht nicht zu überzeugen. Die Berufung wurde 1979 vom Oberlandesgericht Frankfurt abgewiesen. Obwohl Roth 1978 verstorben war, kam es zu einer Revisionsverhandlung vor dem Bundesgerichtshof, der den Fall 1980 an das Berufungsgericht zurückverwies. Roth hatte nach Auffassung der Bundesrichter zu wenig Gelegenheit gehabt, seine Behauptungen zu beweisen; im Wiederaufnahmeverfahren sollte er die Möglichkeit dazu erhalten. Dass der Angeklagte bereits seit zwei Jahren tot war, spielte bei diesem Urteil offenbar keine Rolle. Zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Frankfurter Landgericht kam es letztendlich nicht.
Ein dritter Prozess in Deutschland, an dem Otto Frank (als Nebenkläger) beteiligt war, dauerte von 1976 bis 1993. Ein gewisser Ernst Römer verteilte nach Aufführungen des Theaterstücks "Das Tagebuch der Anne Frank" Flugblätter mit der Überschrift Bestseller – ein Schwindel . Römer wurde 1977 wegen Verleumdung vom Amtsgericht Hamburg zu einer Geldstrafe von 1.500 DM verurteilt. Er legte Berufung ein, und der Fall wurde 1978 vor dem Landgericht Hamburg verhandelt. Edgar Geiss, ein Gesinnungsgenosse, verteilte im Gerichtssaal dieselben Flugblätter. Geiss, der mehrfach vorbestraft war, wurde vom Amtsgericht Hamburg wegen Verleumdung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Er legte ebenfalls Berufung ein. Das Landgericht Hamburg fasste die beiden Berufungsverfahren zu einem Prozess zusammen. Dass sich das Berufungsverfahren so lange hinzog, lag vor allem daran, dass zuerst das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden damit beauftragt wurde, ein Gutachten über die im Tagebuch verwendeten Papier- und Schreibmittelarten zu erstellen. Außerdem wurde beschlossen, die deutsche Übersetzung der wissenschaftlichen Edition des Tagebuchs abzuwarten. Diese Übersetzung erschien 1988 unter dem Titel Die Tagebücher der Anne Frank und konnte als Beweismaterial benutzt werden. Aufgrund seines hohen Alters sah Römer davon ab, die Berufung weiter zu verfolgen, so dass nur Geiss übrig blieb. Dieser erhob unter anderem die Einrede der Verjährung und hatte damit Erfolg: Die Verbreitung von Verleumdungen durch Flugblätter unterliegt der relativ kurzen Verjährungsfrist von einem halben Jahr. Das Verfahren wurde dann auch wegen Verjährung eingestellt.

Der Autor ist Direktor des Anne Frank Zentrums in Berlin.

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