Wir sind gut, wenn es uns gut geht

Wie kann es sein, dass in Deutschland immer noch so viele Menschen ausländerfeindliche Ressentiments haben? Eine Untersuchung blickt hinter die Kulissen.

Von Marie von Mallinckrodt

"Führer", "Einheitspartei" und Diktatur, vor zwei Jahren ging ein Schock durchs Land, als eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegte: All das finden manche Bundesbürger gar nicht so schlecht. Und jeder vierte Deutsche zeigte sogar ausländerfeindliche Ressentiments. Damals waren 5000 Bürger zu ihrer Zustimmung oder Ablehnung von rechtsextremen Aussagen befragt worden. Die Ergebnisse waren so erschütternd, dass die Autoren nun nach den Ursprüngen dieses Übels forschten. In der Folgestudie „Ein Blick in die Mitte“ wurden 150 Bundesbürger im letzten Jahr zu kleinen Gruppendiskussionen eingeladen. "Wir wollten die politischen Aussagen mit den Lebensläufen in Verbindung bringen", sagte der Leipziger Psychologe Oliver Decker, der maßgeblich an beiden Untersuchungen für die Friedrich-Ebert-Stiftung beteiligt war. Das Interessante an den Ergebnissen, die gestern Abend in Berlin mit anschließender Diskussion präsentiert wurden, ist weniger die schon bekannte Tatsache, dass den ein oder anderen an seiner trauten Region „die Russlanddeutschen“ oder „die Türken“ stören, sondern der Blick hinter die Kulissen. In die Psyche der Menschen.

Wirtschaftswunder und NS-Vergangenheit

Und da sieht es dunkel aus. Da ist Wohlstandsverlust gekoppelt an politische Resignation und an persönliche Isolation. Die Quintessenz der neuen Studie ist wohl: Wir sind dann gut, wenn es uns gut geht. „Immer dann, wenn der Wohlstand als Plombe bröckelt, steigen aus dem Hohlraum wieder antidemokratische Traditionen auf,“ erklärte Decker. Und dass diese antidemokratischen Traditionen dann eben auch Ausländerfeindlichkeit oder Antisemitismus mit einschließen, habe seiner Meinung nach damit zu tun, dass das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit weder für Nachdenklichkeit noch für Scham Raum und Zeit gelassen habe. Für rechtes Gedankengut anfällig seien aber auch Menschen, die sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt fühlten, etwa Hartz-IV-Empfänger. Sie fühlten sich häufig zu "Verwaltungsobjekten" degradiert und sähen sich einem Staat gegenüber, der bis in die intimsten Details hinein regiere. Das sei ein Zeichen, wie es um die Freiheit im Lande bestellt sei, so Decker.


Der Rückzug ins Private als Problem

Die Schriftstellerin Tanja Dückers, die mit auf dem Podium saß, stellte eine kritische Frage an ihre eigene Generation: "Sind wir zu gemütlich geworden?“ Die 39-Jährige bemängelte die Individualisierungstendenz der Menschen, die geringe politische Beteiligung und den Rückzug ins Private. Viele der jungen Leute, das zeigt die Studie, haben eine "Die da oben“-Attitüde gegenüber der Politik, sie hoffen angeblich auf “irgendeinen Führer,“ weil es so nicht mehr weitergehen könne. Mit der Demokratie zeigte sich schon bei der letzten Studie die Mehrheit der Befragten unzufrieden. Die Älteren glorifizierten die klaren Strukturen und Regeln ihrer Jugend - im Westen mitunter sogar die Nazizeit. “Erschreckend war für uns, wie gern die Befragten auch die bescheidenste Demokratie gegen autoritäre Strukturen eintauschen würden, in denen vermeintlich Ordnung, Ruhe und Chancengleichheit herrscht,“ sagte Oliver Decker.

Das Verleugnen der Täterschaft

Die Leipziger Forscher haben überdies einen zentralen Punkt herausgearbeitet: Den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Es gebe die gefährliche Tendenz, Täter und Opfer umzukehren und vor allem die Vertreibung der Deutschen durch die Russen zu beklagen. "Das Verleugnen der deutschen Täterschaft führt zu antidemokratischen Einstellungen", sagte Decker. Eine Verweigerung der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit fördere rechtsextreme Einstellungen, während eine inhaltliche als auch emotionale Auseinandersetzung mit dem Thema rechtsextreme Einstellungen eher bremse.

Die Erfahrung von Gewalt fördert rechtsextreme Einstellungen

Autoritäre Erziehung ohne Empathie für die Persönlichkeitsstruktur des Kindes, das beweist die Studie, hat eine hohe Bedeutung bei der Herausbildung rechtsextremer Einstellungen. Wer in seiner Kindheit verbale Gewalt erfährt, der fühlt sich ausgegrenzt und entwickelt Hassgefühle. „Je mehr Raum kindlicher Phantasie eingeräumt wird, je mehr Kinder die Erfahrung machen, selbst etwas bewegen zu können, und je weniger autoritäre Prägung durch Eltern oder Lehrer erfahren wurde, umso deutlicher sind die Menschen als Erwachsene demokratisch eingestellt", fasste Decker das Ergebnis zusammen.

Konsequenzen für alle

Die Leipziger Wissenschaftler riefen Schulen und Arbeitsstellen dazu auf, Raum für politische Auseinandersetzung und politischen Disput zu schaffen, mehr Beteiligung am Gemeinwohl zu üben und zu leben. „Demokratie ist kein Sockel, der erreicht wird und als gesichert gelten kann,“ sagte Decker. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) forderte als Konsequenz aus der Studie, Besuche in KZ-Gedenkstätten für Schüler wieder zur Pflicht zu machen. Den "nationalistischen Schreiern" gehöre die historische Wahrheit "um die Ohren gehauen". Ein wirklich überzeugendes Konzept für eine bessere Welt ist das nicht. Denn die Probleme liegen anderswo, tiefer. Es scheint, als haben viele Menschen Kontakt zur Gesellschaft und die Lust am politischen Diskutieren verloren und somit auch die Möglichkeit, sich in ihrer Toleranz zu trainieren.

Weblinks

| Die komplette Studie (497 Seiten)

| Eine kurze Zusammenfassung als pdf-Datei

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