Für die Sinus-Jugendstudie wurden Interviews mit 72 Jugendlichen durchgeführt.
"Ruben Demus" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

So tickt Deutschlands Jugend 2016: Konformistisch, aber tolerant

 „Die Jugendlichen wollen hart feiern und trotzdem gute Noten“ – so fasst Marc Calmbach, einer der Autor_innen der Sinus-Jugendstudie „Wie ticken Jugendliche 2016“, eine seiner zentralen Einsichten zusammen. Die meisten 14- bis 17-jährigen möchten sein wie alle anderen und „Mainstream“ gilt ihnen nicht als Schimpfwort. Wer jetzt denkt „Das ist kein Punk!“, der hat wahrscheinlich Recht. Aber was denken die Jugendlichen über die Themen Rechtsextremismus, Flucht und Asyl sowie die digitalen Medien?
 

Von Oliver Saal
 

„Mein Geschmack ist wie bei allen anderen auch“

Am 26. April 2016 wurde die neue Sinus-Jugendstudie in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Zu den zentralen Erkenntnissen der Studie gehört: Die meisten 14- bis 17-Jährigen möchten sein wie alle anderen. Die großen, auf Provokation und Abgrenzung zielenden Jugend-Subkulturen gibt es kaum mehr. Stattdessen ist sich die Mehrheit einig, dass gemeinsame Werte wie Freiheit, Aufklärung und Toleranz aufrechterhalten werden müssen, um Frieden und Wohlstand – „das gute Leben“ – in diesem Land zu garantieren. Marc Calmbach, einer der Autor_innen der Studie, nennt diese Ansicht „Neo-Konventionalismus“: Für die Jugendlichen ist „Mainstream“ kein Schimpfwort mehr. Stattdessen sei der Wunsch nach Anpassung und Sicherheit spürbar. Er erklärt das so: „Was wir mit der Studie beobachten konnten, ist der ausgeprägte Wunsch nach einem festen Platz in einer als unübersichtlich wahrgenommenen Welt.“ Mit dieser Anpassungsbereitschaft geht einher, dass Leistungsdruck und die sogenannten Sekundärtugenden als etwas Selbstverständliches akzeptiert werden.

„Ich versuche mich allen anzupassen. Das gelingt mir hoffentlich.“
(männlich, 16 Jahre, adaptiv-pragmatische)

„Ich finde man sollte zuerst etwas erreichen. Und danach kann man
sich vergnügen. Aber auch nicht extrem vergnügen.“
(männlich, 16 Jahre, adaptiv-pragmatische)

 

Für die Studie wurden 72 Jugendliche in qualitativen Interviews zu ihren Einstellungen  und Erfahrungen befragt. Aus ihren Antworten haben die Autor_innen sieben lebensweltliche Milieus gebildet, zu denen die Jugendlichen jeweils zugerechnet werden.

  • Die Konservativ-Bürgerlichen orientieren sich laut den Forscher_innenn an Werten wie Heimat, Treue, Familie und Sicherheit. Sie verbinden Traditionsbewusstsein mit Verantwortungsethik
  • Die Sozialökologischen sind besonders offen für alternative Lebensentwürfe. Sie sind sozialkritisch und orientieren sich an Begriffen wie Nachhaltigkeit und Gemeinwohl.
  • Die Expeditiven sind die erfolgs- und lifestyleorientierten Networker. Sie befinden sich stets auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen
  • Adaptiv-Pragmatische: Sie sind der leistungs- und familienorientierte Mainstream der Gesellschaft mit hoher Anpassungsbereitschaft.
  • Experimentalistische Hedonisten sind spaß- und szeneorientierte Nonkonformisten mit einem Fokus auf das Leben im Hier und Jetzt
  • Materialistische Hedonisten sind für die Forscher_innen die freizeit- und familienorientierte Unterschicht mit ausgeprägten Konsumwünschen und hohem Markenbewusstsein.
  • Die Prekären sind die Jugendlichen mit schwierigen Startbedingungen, um Orientierung und Teilhabe bemüht. Ihnen attestieren die Forscher_innen eine „Durchbeißermentalität“

Grafik: Sinus Jugendstudie 2016

Mit dieser Einteilung in Gruppen soll gezeigt werden, dass Jugendliche mit vergleichbarem Bildungshintergrund und normativer Grundorientierung (auf einer Skala von „traditionell“ bis „postmordern“) häufig ähnliche Einstellungen zu Fragen des öffentlichen Lebens und ihrer persönlichen Entwicklung haben. Durch die qualitative Methode im Forschungsdesign wird eine differenzierte Betrachtung der Antworten möglich: Beispielhafte und wiederkehrende Aussagen werden in der Studie im Wortlaut wiedergegeben.
 

Nation, Identität und rechtsextreme Denkmuster
 

„Nation“ spielt nach den Erkenntnissen der Autor_innen für eine Mehrheit der Jugendlichen aus allen Gruppen bei der Konstruktion ihrer Identität eine untergeordnete Rolle.

[ INTERVIEWER: „Und an was denkst Du, wenn Du das Wort ‚Nation‘
oder 
‚Nationalität‘  hörst?“ ] „Keine Ahnung, an gar nichts.“
(weiblich,
14 Jahre, Migrationshintergrund, Prekäre)
 

„Nation? Rassismus. Das wäre das Erste, woran ich denke.“ (männlich,
17 Jahre, Migrationshintergrund, Konservativ-Bürgerliche)
„Da denke ich natürlich direkt an Hitler, muss ich ganz ehrlich zugeben.
Das verbindet man halt damit. Gerade, weil Nationalität...nein, eigent-
lich hat es nicht wirklich was mit Hitler zu tun. Also doch, ja. Aber man
muss dann nicht gleich Hitler damit verbinden.“
(weiblich, 16 Jahre, kein Migrationshintergrund, Sozialökologische)

 

Abseits von der Identifikation des Nationsbegriffes mit dem historischen Nationalsozialismus sehen die Forscher_innen in den Aussagen zur Nation die soziologischen Annahmen zur „postmigrantischen Gesellschaft“ bestätigt, nach denen sich angesichts einer durch Migration veränderten Gesellschaft auch die Konzepte von Herkunft und Zugehörigkeit ändern.

Jugendliche mit Migrationshintergrund haben den Autor_innen der Studie zufolge tendenziell einen positiveren Bezug zu den Begriffen Nation und Nationalität. Sie würden auch weniger häufig einen Bezug zum Nationalsozialismus herstellen, sondern denken dabei vor allen Dingen an ihre eigene ethnische Herkunft, die für sie ein wichtiger „Identitätsanker“ sei. Sie reden bei diesem Stichwort aber auch häufig über eigene Diskriminierungserfahrungen.

Vor allem die Jugendlichen aus den bildungsnahen Gruppen würden sich bewusst vom Konzept der Nation als identitässtiftendes Merkmal abgrenzen:

„Aber generell finde ich eigentlich dieses Nationalgefühl, generell von
allen Leuten, ein bisschen lächerlich. Weil niemand kann was dafür, wo
er geboren ist. Und ich finde, man kann auch nicht stolz darauf sein.
Das ist halt so, wie es ist. Warum kann man denn stolz darauf sein, wo
man geboren ist? Das hat man nicht selbst erreicht. Deswegen finde ich
es generell eigentlich unnötig.“ (weiblich, 16 Jahre, kein Migrationshin-
tergrund, Sozialökologische)
 

Den Machern der Studie zufolge berichtet nur ein verschwindend kleiner Teil der Jugendlichen von Erfahrungen mit rechtsextremen oder rassistischen Denkmustern. Gerade einmal eine Befragte hat von entsprechenden Bekenntnissen aus ihrem Freundeskreis berichtet.

[ INTERVIEWER: Und an was denkst Du, wenn Du das Wort ‚Nation‘ oder
‚Nationalität‘  hörst? ]
Man sagt ja „Die deutsche Nation“. Ich weiß nicht so, aber ganz schön
viele Freunde von mir sind so total auf Nazitrip, wo ich immer sage: Ey
Alter, Mann, du bist kein Nazi, hör auf mit dem Scheiß! Und der so:
Doch, ich bin Nazi! Ich sage immer, Nazi sein ist nicht cool sein. Ich
finde es scheiße. Ich sage: Wenn du Nazi bist, brauchst du nicht mit mir
reden, dann kannst du da hinten mit der Wand reden. Hitler hat eine
gute Sache gemacht, und zwar die Autobahn. Das ist das Erste, was mir
einfällt,  Autobahn. (weiblich,  14  Jahre,  kein  Migrationshintergrund,
Experimentalistische Hedonisten, Ostdeutschland)
 

Die Autor_innen wollten außerdem mehr über vorhandene Ressentiments erfahren und haben in den Interviews deshalb nach „typisch deutschen“ und typischen Eigenschaften  anderer Nationalitäten gefragt. Hier habe sich gezeigt, fassen sie zusammen, dass die Jugendlichen auch heute noch mit zahlreichen Stereotypen über andere Nationen aufwachsen.

Das Spektrum dieser Zuschreibungen reicht dabei von eher harmlosen Klischees („Bei den Italienern, die haben ja immer viel Temperament. Die Amis sind  halt  teilweise  ein bisschen einfältig. Die Franzosen sind vielleicht ein bisschen zurückgeblieben, sagt man manchmal. Spanier sind auch so lebensfreudig. Engländer sind immer so die Gastfreundlichen“, weiblich, 17 Jahr, kein Migrationshintergrund, Sozialökologische) bis hin zu diskriminierenden Verallgemeinerungen („Türkischen … Ich nenne es jetzt mal Kanaken. Die gelen sich halt die Haare hinter, ziehen Lederjacken an und sind halt ein bisschen aggressiver unterwegs, sagen wir es mal so. Und da sieht man eigentlich, dass sie zum Beispiel türkisch, serbisch oder sowas sind.“ weiblich, 15 Jahre, mit Migrationshintergrund, Adaptiv-Pragmatische).

Insbesondere bei den formal niedrig gebildeten Jugendlichen finden sich häufig naiv anmutende Stereotypisierungen ethnischer Gruppen, die aber nicht den stark abwertenden Charakter manifester Vorurteile haben. Am häufigsten finden sich diskriminierende Charakterisierungen bei den Adaptiv-Pragmatischen.
 

Flucht und Asyl
 

Der Studie zufolge zeigen sich die jungen Menschen interessiert am Thema Flucht und Asyl. Die Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland spreche sich für die Aufnahme von Flüchtlingen aus und betrachte diese auch als ein humanitäres Gebot, allerdings meistens mit der Einschränkung versehen: Wir können nicht alle aufnehmen und können sie auch nur aufnehmen, solange Deutschland sich das leisten kann. Die meisten Jugendlichen würden sich darüber hinaus deutlich gegen Flüchtlingsfeindlichkeit und Rassismus aussprechen. Bestehende Ressentiments richten sich in erster Linie gegen so genannte Armutsflüchtlinge. Besonders in benachteiligten Lebenswelten ist laut den Forscher_innen „das positive Bild einer vielfältigen Gesellschaft noch nicht fest als soziale Norm verankert“.
 

Internet und digitale Medien

 
„Früher, sagt meine Schwester – sie ist zehn Jahre älter als ich, hat man
noch in diesen Telefonzellen telefoniert. Überleg mal, wie krass krank
das sein muss, dass man Münzen in diesen Automat reinsteckt. Ich
weiß nicht, ich kann mir das nicht vorstellen. Ich kann’s mir einfach
nicht vorstellen, dass man kein Telefon in der Tasche hat. Stell dir vor,
es passiert was oder mir ist langweilig auf der Straße. Was mache ich?!“
(weiblich, 16 Jahre, adaptiv-pragmatische)
 

Die Autoren sprechen von einer „digitalen Sättigung“ – zumindest, was die technische Ausstattung betrifft sind sie fast wunschlos glücklich. Die meisten Jugendlichen gingen davon aus, dass digitale Teilhabe heute und besonders in ihrer Generation gleichbedeutend ist mit sozialer Teilhabe. Dieser Befund steht in klarem Widerspruch zu der landläufigen Meinung, Menschen mit intensiver digitaler Mediennutzung würden sozial verarmen.

„Es ist mir sehr wichtig, das Smartphone. Es ist wichtig. Wenn man ein
Smartphone hat, dann lernt man Menschen kennen.  Dann ist man
nicht immer so alleine. Zum Beispiel bei Facebook. Jeder sieht jeden
natürlich bei Facebook. Letztens habe ich meine Kindergartenfreunde
gesehen und jetzt schreiben wir. (weiblich, 15 Jahre, Materialistische
Hedonisten)“
 

Es gibt aber auch anti-digitale, sozialromantische Vorstellungen und selbstkritische Positionen zur eigenen Mediennutzung. Sie sind besonders in bildungsnahen Lebenswelten anzutreffen. Für den Schulunterricht wünschen sich die weniger gefahrenzentriertes Lernen und mehr Aufklärung und Hilfestellung dabei, sich sicher und emanzipiert im Internet bewegen zu können. Die dauerhafte Internetnutzung ist der Studie zufolge außerdem kein großes Streitthema mit den Eltern, da die meisten von ihnen inzwischen selbst versierte Onliner sind.

Die Studie enthält darüber hinaus Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten der Jugendlichen, ihren Einstellungen zu Klimawandel, Umweltschutz und kritischem Konsum, dem Verhältnis der jungen Menschen zu Glaube und Religion sowie zu ihrem Geschichtsbild.

Die Sinus-Jugendstudie entstand im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, dem Bund der Katholischen Jugend, der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, der Bundeszentrale für politische Bildung und der VDV-Akademie.
 

Die Studie steht hier zum Download zur Verfügung.

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