Ausschnitt aus dem Titelbild des Romans "Die Orient-Mission des Leutnant Stern" von Jakob Hein.
Kiwi-Verlag

Rezension: Verkehrte, wirkliche Welt

Jakob Heins neuer Roman „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ bringt durcheinander, was durcheinander gehört. In Form eines Schelmenromans erfahren Leser_innen viel über die Geschichte des Islam und seine Verbindung mit Deutschland.

 

Von Britta R. Kollberg

 

„Weit, weit hinter den Bosporus“ will der AfD-Politiker Poggenburg die türkischen Deutschen schicken. Der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Weit satirischer als Poggenburgs Hetzrede vom Aschermittwoch ist die Wirklichkeit. Was die meisten nicht wissen, davon erzählt Jakob Hein in seinem neuen Roman, der gestern erschienen ist: Von der ersten Moschee in Deutschland, die 1915 deutsche Militärs in Wünsdorf bauen ließen. Vom Osmanischen Reich, in das deutsche Gesandte reisten, um den Sultan zum Heiligen Krieg zu überreden. Selbst die richtigen Suren hatten deutsche Islamwissenschaftler für die Freunde des Kaisers am Bosporus schon herausgesucht.

Aberwitzig – dies ist das Gefühl, mit dem die Leserin „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ beendet und das ihre schockierende und kuriose, im modernsten Sinne komische Reise durch die zeitgenössische Welt zusammenfasst. Denn auch wenn es im Ersten Weltkrieg spielt, reicht das neue Buch von Jakob Hein mitten hinein ins Heute, in aktuelle Bedrohungen, Debatten und Selbst- wie Fremdbilder. Wer heute behauptet, dass der Islam ganz und gar nicht zu Deutschland gehöre, wer den Völkermord an den Armeniern allein den Tätern anlastet und die Mitwisser vergisst, die sich selbst als „Spielfiguren“ bedauern, die „auf einem riesigen Spielfeld hin- und hergeschoben“ werden, der sollte dieses Buch lesen: Leicht verdaulich wie ein Schelmenroman kommt es daher und stellt eine verkehrte Welt her – in der die deutsche Küche besser ist als die französische, marokkanische Berber als Araber verkleidet werden und deutsche Militärs den Jihad zu organisieren versuchen. „Aber“ und witzig, möchte man da mit jedem neuen Kapitel sagen. Und doch bietet der Roman einen zwar amüsanten, zugleich aber zutiefst verstörenden Einblick in die deutsche, türkische, marokkanische, arabische, französische und europäische Geschichte. Vor allem jedoch in die Geschichte des Islam und seiner Verbindung mit Deutschland. Und als immer wiederkehrende Seitennotiz in die Rolle der Minderheiten im Spiel der Weltmächte. Wie in der Realität scheinen Letztere immer wieder am Rande der Erzählung auf, in Verfolgungen, abfälligen Kommentaren, Selbstverleugnung und Selbstbehauptung.

Dass das Deutsche Reich Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte, einen „Weltaufstand der Muslime“ zu initiieren, um einen Vielfrontenkrieg für seine Feinde zu erzeugen, ist im 21. Jahrhundert so unglaublich wie offenbar wahr und doch gänzlich unbekannt. Dass dieser heute als reale und vielfach benutzte Drohgebärde Politik steuert, zieht sich durch das Buch bis hin zu fast unmerklichen Randnotizen in den Paralipomena im Anhang.

Dies ist eines der Bücher, in denen es unbedingt lohnt, den Anhang zu lesen. Denn dessen Informationen dazu, was aus Orten und Personen weiter geworden ist, setzen die kuriose Reise fort – umso beunruhigender, als es sich hier um ungefilterte Fakten handelt. Da hilft es nichts, wenn uns Hein im allerletzten Satz mit dem Hinweis darauf verlässt, dass seine Figur des Stern eine fiktionale sei. Zu viel Reales, zu viel tatsächliche Weltgeschichte im Sinne von Welt und im Sinne von Geschichte, die bis in den heutigen Tag reicht, sind in diese Fiktion verwoben.

 

 

Jakob Hein: Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Galiani Berlin, erschienen 15.2.2018

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